Kommentar

Abschiebung genügt nicht als Lösung

04:47 Minuten
Ein Mann mit dunklen, kurzen Haaren und einem Bart steht an einer Tafel und schreibt Wörter auf, die er im Deutschunterricht gelernt hat: Kameramann, Gärtner und Sekretärinn.
Maßnahmen wie die radikalen Abschieberegelungen, die in der Debatte um Migration gefordert werden, hält die Publizistin Sabine Kebir für schockierend und realitätsfern. © picture alliance / Caro / Bastian
Ein Kommentar von Sabine Kebir |
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Migration ist seit dem Messerattentat in Solingen erneut ein Reizthema. Forderungen nach härteren Abschieberegelungen häufen sich, dabei werden die allein nicht das Problem lösen: Schuld ist auch die mangelhafte Integrationspolitik in Deutschland.
Lange herrschte in der Bundesrepublik breiter Konsens, dass die Freiheit des Reisens und der Niederlassung ein Menschenrecht ist. Den DDR-Bürgern war es verwehrt. Als sie 1989 die Freizügigkeit errangen, war vielen unklar, dass das auch Verpflichtungen für andere mit sich bringen kann. Weil sich Ex-DDR-Bürger noch oft benachteiligt fühlen, blieb diese Wahrheit für so manche unverdaulich. Durch wachsende soziale Probleme aufgrund von Hartz IV, Mangel an Wohnraum, Gedränge im Nahverkehr und Notstand in Kitas und Schulen hegen auch immer mehr Alt-Bundesbürger Ressentiments gegen Migranten und Migrantinnen.
Mittlerweile ist die Frage, ob sich Deutschland noch offene Grenzen leisten kann, ein Aufreger-Thema bei Wahlen geworden. Mich schockiert dabei die Radikalität und Realitätsferne, mit der Abschiebestrategien diskutiert werden. Die Palette der Vorschläge reicht von der automatischen Abschiebung Straffälliger bis zur Ausweisung ganzer Bevölkerungsgruppen, wobei vor allem an Muslime gedacht wird.

Mangel an Integrationsangeboten

Angela Merkels Spruch: „Wir schaffen das“ wurde 2015 in Krisengebieten außerhalb der EU als staatliches Freizügigkeitsversprechen verstanden. Wir können und müssen das wohl ändern. Aber bitte nicht rückwirkend!
Denn in dieser Debatte wird nur allzu häufig eine Ursache, die die Integration erschwert, ausgeblendet: Dass viele, vielleicht auch zu viele Migranten hier fremd bleiben, liegt auch an unserer mangelnden Integrationsleistung. Tatsächlich haben wir es nämlich „nicht geschafft“!
Das gilt sogar für Teile der zweiten und dritten Generation mit migrantischem Hintergrund: Unsere Einrichtungen für Kinder- und Jugenderziehung sind ungenügend auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet. Auch für Ältere mangelt es an Sprach- und Weiterbildungskursen. Deshalb finden viele Migranten und Migrantinnen nur Arbeit in wenig qualifizierten Berufen oder bleiben von sozialen Hilfen abhängig.

Maßnahmen zur Resozialisierung nötig

Dabei stünden dem Arbeitsmarkt auch mehr Fachkräfte zur Verfügung, wenn die Integrationsleistungen besser wären. 
Viel mehr systematische Förderung braucht die psychiatrische Betreuung von traumatisierten Menschen aus Krisengebieten, die oft auch um zurückgelassene Familienmitglieder trauern oder bangen.
Und Straffällige sind – wie andere Täter auch – hier zu verurteilen und zu resozialisieren. Abschiebung ist allein kein probates Mittel, um Versäumnisse in der Integrationspolitik zu lösen.
Herkunftsländer und erst recht Drittländer werden sich weigern, ausgerechnet Gewalttäter aufzunehmen, während Europa ungeniert aus diesen Staaten qualifiziertes Personal für den eigenen Arbeitsmarkt abwirbt. Das Königreich Marokko hat sich bereits in diesem Sinne geäußert.

Bessere Regulierung von Einwanderung

Klar ist aber auch, dass die Ressourcen unseres „reichen Landes“ begrenzt sind und wir die Grenzen dauerhaft nicht offenhalten können. Wer das ignoriert, brüskiert Bürger, die ihre Familie nur mit Schwierigkeiten über den Monat bringen. Unbestreitbar ist auch, dass die Fähigkeit vieler Kommunen erschöpft ist, Migranten und Migrantinnen würdige Lebensbedingungen zu bieten.
Die Regulierung künftiger Einwanderung ist jedoch eher akzeptabel als die Abschiebung von Menschen, die bereits hier leben. Deutsche und europäische Einwanderungsgesetze sollten die Einwanderung aus wirtschaftlichen Motiven kontingentieren. Aber das immer wieder neu zu definierende politische Asylrecht muss im Kern unantastbar bleiben wie die befristete Aufnahme von Kriegsflüchtlingen.
Mut und Tatkraft von Migranten und Migrantinnen werden für die Entwicklung der Lebensbedingungen in den Herkunftsländern dringend dort benötigt. Der Beitrag der EU zum Nutzen dieser Länder sollte eine Politik der Eindämmung von Kriegen, von Naturzerstörung und für einen gerechten Welthandel sein.    

Die Publizistin Sabine Kebir studierte an der Humboldt-Universität in Berlin Italienisch, Französisch und Russisch und promovierte 1976 zu Antonio Gramsci zum Dr. phil. Sie wanderte 1977 nach Algerien aus und lehrte dort am Institut für Politische Wissenschaft und Kommunikation sowie am Institut für Germanistik der Universität Algier. 1988 übersiedelte Kebir nach Berlin/West und habilitierte 1989 in Politologie. Kebir arbeitet als Sachbuch- und Belletristik-Autorin sowie Übersetzerin und schreibt für eine Vielzahl deutscher Medien.

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