Kommentar zu Naturkatastrophen
Ein Mann holt Überreste seines Besitzes aus dem Schutt eines Dorfes, das durch das Beben am 14. September 2023 dem Erdboden gleichgemacht wurde. © picture alliance / abaca / Europa Press / ABACA
Wie aus Unglück Ungerechtigkeit wurde
04:18 Minuten
Das Erdbeben in Marokko und die Überschwemmungen in Libyen haben Tausenden Menschen Leid oder sogar Tod gebracht. Wie selbstverständlich sprechen wir bei Naturkatastrophen von Unglück. Pauline Pieper findet das falsch. Sie seien auch ungerecht.
Verzweifelte Menschen, die in Trümmern nach ihren Angehörigen suchen, Tausende Häuser dem Erdboden gleichgemacht: Die Bilder aus Marokko und Libyen sind erschreckend. Von jetzt auf gleich brach die Katastrophe herein – ein Schicksalsschlag, unvorhergesehen und unverschuldet.
Denn wann solche Naturkatastrophen passieren, ist nicht nur oft schwer vorherzusagen. Sie werden auch durch menschliches Handeln nicht unmittelbar verursacht. Ein Unglück – so sagt man. Die Betroffenen in Marokko und Libyen haben – so hart es klingen mag – Pech gehabt. Aber stimmt das wirklich?
Unglück heißt, wir müssen uns dem Leid fügen
Aufschlussreich ist hier eine Unterscheidung der Philosophin Judith Shklar. Katastrophen, so sagt sie, bezeichnen wir entweder als Unglück oder als Ungerechtigkeit. Geht es um Naturkatastrophen, so sehen wir sie gemeinhin als Unglück an. Sie gehen nicht auf menschliches Handeln zurück, wir müssen uns unserem Leid also fügen. Als Ungerechtigkeit hingegen bezeichnen wir negative Ereignisse, die absichtlich verursacht werden. Entsprechend sind Empörung und Zorn hier angemessen.
Diese Trennung aber wird nun unklar, seitdem die Menschheit selbst zur geologischen Kraft geworden ist. Durch unsere Lebensweise haben wir das Klima enorm verändert. Infolgedessen kommen Extremwetterereignisse immer häufiger vor. Die Überschwemmungen in Libyen sind daher keineswegs als bloßes Unglück einzuordnen.
Zwar ist niemand persönlich verantwortlich zu machen. Aber der Klimawandel ist auf menschliches Handeln zurückzuführen und damit ist auch die Bewertung seiner Folgen eine Frage der Ungerechtigkeit. Für Erdbeben allerdings, so könnte man meinen, scheint das nicht zu gelten. Mit dem Klimawandel haben sie ja offenkundig nichts zu tun.
Shklar zufolge ist aber auch hier die Trennung zwischen Unglück und Ungerechtigkeit so eindeutig nicht. Ja, ein Erdbeben ist ein natürliches Ereignis. Aber wer wie schlimm davon getroffen wird, hängt davon ab, wer gewarnt wird, wessen Haus erdbebensicher ist, wer Hilfe bekommt. Politische Entscheidungen und Machtverhältnisse sind hier ausschlaggebend.
Wer Leid nicht abwendet, handelt ungerecht
Man denke etwa an die Erdbeben in der Türkei im Frühjahr dieses Jahres. Warnungen wurden ignoriert, Häuser trotz Baumängeln genehmigt. In Marokko deuten Berichte darauf hin, dass ein spätes Eintreffen des Königs Rettungsmaßnahmen verzögert hat. Selbst wenn die Ursache eines Desasters nicht menschengemacht ist, seine Folgen sind es allemal. Ungerecht, das betont Shklar, handelt dabei nicht nur, wer absichtlich schadet, sondern auch, wer es unterlässt, Leid abzuwenden.
So gesehen sollte womöglich so manches vermeintliche Unglück eher als Ungerechtigkeit bezeichnet werden. Zum Beispiel die sogenannten „Bootsunglücke“, die Tausende von Geflüchteten auf dem Mittelmeer das Leben kosten. Kein Sturm ist für diese Toten verantwortlich, sondern die kollektive Tatenlosigkeit derer, die eigentlich zur Hilfeleistung verpflichtet wären.
Aber wird der Begriff des Unglücks so nicht beinahe gegenstandslos? In gewisser Weise steht vielleicht jede Katastrophe in irgendjemandes Verantwortung. Shklar geht es aber auch gar nicht darum, die Trennung zwischen Unglück und Ungerechtigkeit aufzuheben. Sie plädiert vielmehr dafür, die Grenze sorgfältig zu ziehen.
Politisch Verantwortliche können sich herausreden
Denn wer überall eine Ungerechtigkeit sieht, kann oft nur die Sinnlosigkeit des eigenen Unglücks nicht ertragen. Es kann leichter sein, den Arzt zu verfluchen, als die Zufälligkeit der Krankheit hinzunehmen. Genauso besteht aber die Gefahr, dass sich politisch Verantwortliche herausreden, indem sie ein Unglück nennen, was sie hätten vermeiden müssen.
Ob beim Erdbeben in Marokko oder der Flutkatastrophe in Libyen, Pech allein haben die Betroffenen nicht gehabt. Und während man auf ein Unglück nur mit Trauer und Bedauern reagiert, rechtfertigt eine Ungerechtigkeit Empörung und Wut. Die Klage gegen das Unglück muss folgenlos bleiben, eine Klage gegen Unrecht nicht unbedingt.