Kommentar zu Deutschland

Abstiegsgefühle? Vorsicht mit den Niedergangserzählungen!

04:13 Minuten
Altes, marodes Wartehäuschen an einer Landstraße bei Radevormwald in Nordrhein-Westfalen.
Marodes Wartehäuschen an einer Landstraße in Nordrhein-Westfalen: In Deutschland sind massive Investitionen in die öffentliche Infrastruktur nötig. © picture alliance / dpa / Jochen Tack
Ein Kommentar von Andrea Roedig · 23.06.2024
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Deutschland ist auf Platz 24 des globalen Standort-Rankings abgerutscht – die Meldung passt zum allgemeinen Niedergangsgefühl hierzulande. Warum so viel Selbsthass? Pessimismus ist ein unproduktiver Luxus, den wir uns derzeit nicht leisten können.
Kürzlich lief im österreichischen Fernsehen eine Dokumentation mit dem Titel „Deutschland sandelt ab“. Zur Erklärung: Ein „Sandler“ ist in Österreich ein Obdachloser, und „absandeln“ ist ein ziemlich unschönes Wort fürs Verludern und Herunterkommen – meist mit ungepflegtem Äußeren und unguten Gerüchen verbunden. Auch in Österreich, wo man traditionell in ambivalenter Hassliebe zum großen Nachbarn Deutschland aufblickt, ist also der Verdacht in Umlauf, dass die ehemals so perfekte und effiziente Nation heftig schwächelt. Das Image ist angekratzt, und als Auslandsdeutsche blickt man selbst ein bisschen mit Besorgnis ins Heimatland.
Denn es stimmt schon: Gerade im Blick von außen erscheint Deutschland nicht mehr so ordentlich, wie man es in Erinnerung hatte. Vor allem, was die Infrastruktur angeht, die öffentlichen Gebäude, einzelne Stadtteile und natürlich die notorische Deutsche Bahn – all das scheint im Vergleich ein bisschen verkommener zu sein als noch vor einigen Jahren.

Österreich klotzt bei den Sozialleistungen

Das liegt ganz offenbar auch an den fehlenden Investitionen in öffentliche Güter, als habe eine harte Hand dem Land die Luft abgedrückt.
Österreich dagegen kleckert nicht, es klotzt, was Sozialleistungen angeht: hohe Renten, viele Gemeindebauwohnungen, Sonderzahlungen, etwa um hohe Energiepreise abzufedern. Und auch, was Bauinvestitionen betrifft, lässt man sich in Österreich nicht lumpen.
Einer Berechnung der "Allianz pro Schiene" zufolge investierte 2022 die österreichische Bahn pro Fahrgast fast drei Mal so viel ins Schienennetz wie die deutsche. Das österreichische Bruttoinlandsprodukt ist inzwischen höher als das Deutschlands, die Staatsverschuldung und die Inflationsrate sind es allerdings auch. Und die Steuersätze.

Woher kommt der eigenartige Selbsthass?

Ja, je nach Perspektive sieht es in Deutschland gerade ungemütlich aus. Ist es aber so drastisch, dass man jetzt gleich von „Ramschladen“ und „Entwicklungsland“ sprechen kann, wie der Vorstand der Börse AG, Theodor Weimer, neulich?
Ehrlich gesagt muss man sich über diese harsche Art der Selbstbeschimpfung mehr Sorgen machen als über die Verspätungen der Deutschen Bahn. Aus der Innenperspektive mag es einiges zu zetern und zu beklagen geben, aber von außen betrachtet sehen die Ampelregierung und Olaf Scholz als Kanzler nicht so schlecht aus.
Woher kommt dieser eigenartige Selbsthass? Dieses Schlechtmachen von allem, diese Schärfe der Diskussion? Selbsthass ist auch etwas, das man in Österreich zur Genüge kennt, aber hier ist er im Grunde mit tiefer Liebe durchmischt, er ist zugleich ein ironisches Unterstatement. Typisch mal wieder: Die Deutschen nehmen auch noch ihren Selbsthass bier- und bitterernst.

Pessimismus können wir uns nicht leisten

Keine Frage: Kritik am eigenen Land, auch harsche Kritik, ist wichtig, aber Niedergangserzählungen sind nicht zielführend und meistens falsch. In solchen gerne von der Rechten bedienten Slogans wie „Deutschland schafft sich ab“ werden partikulare Abstiegsängste aufs Nationale hochgerechnet. Was groß ist, hat immer Angst vor dem Absturz.
Vor etwas mehr als hundert Jahren prophezeite der sehr einflussreiche Autor Oswald Spengler den „Untergang des Abendlandes“. Ihm zufolge hätte es mit Europa im Jahr 2000 definitiv zu Ende sein müssen. Na ja, Europa steht noch. Und Pessimismus ist ein unproduktiver Luxus, den wir uns derzeit nicht leisten können.
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