Kritik an Pflegeversicherung

Ein lebenswertes Dasein muss möglich sein

Einer alten Person wird mit einem Waschlappen der Rücken gewaschen.
Pflege in Deutschland sei oft nur verfügbar, wenn es den Menschen bereits richtig schlecht geht: Das zumindest meint der Journalist Matt Aufderhorst. © imago images / photothek / Ute Grabowsky
Ein Kommentar von Matt Aufderhorst |
In Deutschland muss viel geschehen, bevor die Pflegeverordnung jemanden als Fall akzeptiert, meint Matt Aufderhorst. Jeder fünfte Antrag werde abgelehnt. Welche Folgen das für Betroffene hat, erlebte er bei seiner unheilbar kranken Mutter.
Als ich Edda, meine Mutter, Ende April fragte, was für sie das Wichtigste im Leben sei, lächelte sie mich an, richtete sich ein wenig auf. Wir befanden uns auf der Palliativ-Station der Sana-Klinik in Lübeck. Edda hob entschlossen ihren Kopf, sah mich zärtlich an und sagte: „Frei zu sein“. Dann fügte sie hinzu: „Bewegung, Bewegung, Bewegung“. Obwohl – sagen ist nicht das passende Wort. Edda konnte nicht mehr sprechen. Sie konnte allerdings noch schreiben. Dreimal schrieb sie „Bewegung“. Beschwor das, was sie nicht mehr besaß. 
Meine Mutter hatte ALS, Amyotrophe Lateralsklerose. Eine unheilbare Erkrankung des motorischen Nervensystems, an der auch Stephen Hawking gelitten hatte. Muskelschwund führt dazu, dass Patientinnen und Patienten irgendwann ihre Sprache verlieren und nicht mehr essen können. Bei Edda hatte das extrem schleichend eingesetzt. ALS ist rätselhaft, in vieler Hinsicht. Die Beschwerden lassen sich über lange Zeit nicht zuordnen. Viele ALS-PatientInnen bleiben deswegen über Jahre unbehandelt.

Freiheit als Wichtigstes im Leben

Edda hatte sich gegen den körperlichen Verfall gewehrt, war noch letztes Jahr zum Strand gefahren, von Praxis zu Praxis gegangen, wurde derweil immer schwächer. Ich hatte mit ihr offen über den Tod geredet, über Atul Gawandes Buch „Sterblich sein“. Sie wollte an keine Maschinen.
Wir hatten früh den Travebogen, ein Palliativ-Netzwerk, aktiviert. Die Nachbarschaft auf der Altstadtinsel war liebevoll, kümmerte sich. Aber all das reichte nicht mehr, irgendwann. Selbst Edda merkte das. Es fiel ihr schwer, Hilfe anzunehmen, auch mit ALS-Diagnose, die es seit Januar gab. Neben „Freiheit“ hatte sich Edda das Lübecker „Wat mutt, dat mutt“ – mit „Was muss, das muss“ ungenügend übersetzt – als Lebensmotto auserkoren. Sie war eine Stoikerin. Keine Unwahrheit kam ihr über die Lippen.

Neoliberales System in der Pflege

Ich erwähne das, weil meiner mit Ecken und Kanten begnadeten Mutter genau diese Selbständigkeit zum Verhängnis geworden ist – in unserem falsch gepolten Gesundheitssystem, und zwar bei der Einstufung in den Pflegegrad, in den niedrigsten, wohlgemerkt. Nun werde ich etwas wütend, vorsichtig ausgedrückt. Nicht mit den Menschen, die den Vorschriften folgen, sondern mit dem neoliberalen System. Um es hart zu sagen: In Deutschland musst du bereits auf den Boden gekracht sein, dir halbwegs die Knochen gebrochen haben, bevor dich die Pflegeverordnung buchstäblich als Fall akzeptiert. Vorbeugen? Wird zwar gelobt, aber nicht aktiv praktiziert.
Viele von Ihnen dürften den Ablauf nur zu gut kennen. Irgendwann kommt der Medizinische Dienst, dann werden Fragen gestellt. Der Bedarf an Hilfe bei Körperpflege, Ernährung, Mobilität abgeklopft. Edda, die sich zusammenriss, bekam, sage und schreibe, keinen einzigen Punkt.
Freundinnen schüttelten später über uns den Kopf, über unsere Gutgläubigkeit. Ob wir nicht wüssten, dass man bei der Einstufung in die Pflegebedürftigkeit lügen müsste, dass sich die Balken bögen? Nein, war uns nicht eingefallen. Wir hatten naiv gedacht, dass es reichte, kaum noch sprechen und laufen zu können. Schon weil wir dachten, dass schließlich die meisten von uns menschenwürdig und, was kein Widerspruch sein muss, gesund sterben wollen. 

Ein Dasein lebenswert machen

In Deutschland gibt es derzeit knapp fünf Millionen Pflegebedürftige, offiziell. Etwa fünf von sechs werden davon zu Hause versorgt, häufig von Angehörigen. Ich denke, dass es noch wesentlich mehr Menschen gibt, die Pflege brauchen – und zwar früher, bevor sie zum hoffnungslosen Fall geworden sind. 
Im Moment wird anfangs jeder fünfte Antrag abgelehnt. In einer Gesellschaft, die rasant altert, sollten wir gemeinsam darüber nachdenken, was das Dasein lebenswert macht, in jeder Phase. Was es heißt, sich bewegen, bewegen, bewegen zu dürfen. Möglichst lange unabhängig, frei zu sein. Mit anderen zu sein. 
Genug gewartet. Wat mutt, dat mutt. 

Matt Aufderhorst ist 1965 in Hamburg geboren. Er ist Radio- und Fernsehjournalist und Mitbegründer von „Authors for Peace“. Er studierte Kunstgeschichte und Deutsche Literatur. Seine Essays über Architektur und Erinnerung sind unter anderem in „Lettre International“ und „WOZ“ erschienen.

Porträtaufnahme des Journalisten Matt Aufderhorst
© Ali Ghandtschi
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