Minderheitsregierungen
In einem Parlament ohne Regierungsmehrheit müssen die Parteien nach neuen Lösungen suchen. Die ausgestreckten Hände zur Begrüßung im Dresdner Landtag zwischen Sabine Zimmermann (BSW) und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) sind da ein guter Anfang. © picture alliance / dpa / Robert Michael
Die Königsklasse der Demokratie
04:13 Minuten
Durch die Krise der Volksparteien und den Aufstieg des Populismus wird es auch in Deutschland immer schwieriger, parlamentarische Mehrheiten zu bilden. Doch das muss nicht unbedingt schlecht sein, findet der Autor Steffen Greiner.
Im europäischen Ausland sind Minderheitsregierungen oft Alltag, vor allem in Skandinavien, aber auch in so unterschiedlichen Ländern wie Portugal, Irland oder Tschechien. In der Bundesrepublik tut man sich dagegen schwer mit dieser Idee: Bisher kam keine einzige Bundesregierung als Minderheitsregierung zustande.
In den Ländern allerdings scheint sie mittlerweile richtig en vogue. Thüringen wurde nach dem Chaos um die Ministerpräsidentenwahl 2020 vier Jahre souverän von einer Minderheitsregierung geführt. In Sachsen haben CDU und SPD selbstbewusst einen Koalitionsvertrag geschlossen, ohne die Mehrheit im Parlament zu haben.
Die neue Vielfalt ausbalancieren
Sie reagieren auch auf neue politische Vielfalt. Denn obwohl im Deutschen Bundestag mittlerweile neun Parteien vertreten sind und die Mehrheitsbildung immer schwieriger wird, sind die Erwartungen an eine Regierung noch immer, sie solle geräuschlos funktionieren – ein schalldichter Maschinenraum mit Spuren von Absolutismus. Aber warum eigentlich? Könnte eine Minderheitsregierung nicht auch eine Chance sein, das schwierige Ausbalancieren von Positionen in der Gesellschaft abzubilden?
Natürlich lässt sich die deutsche Skepsis gegenüber Minderheitsregierungen auch begründen: Die Instabilität der Weimarer Republik hat den Wunsch nach möglichst stabilen Regierungen hinterlassen. Trotzdem: Müssten uns heute nicht andere Ideen kommen, um die Demokratie zu stärken, als ausgerechnet auf das letztlich autoritäre Modell von Durchregieren zu setzen? Der Wählerwille lässt die politischen Blöcke zersplittern – trotzdem halten alle Beteiligten das Bild aufrecht, dass nur stabile Mehrheiten und starke Steuermänner die Gesellschaft zusammenhalten. Wobei diese stabilen Mehrheiten dann auch gern bei der nächsten Wahl abgestraft werden, wenn die Beteiligten in der Regierungsarbeit kompromissbereit agiert haben.
Eine streitlustige Gesellschaft
Mittlerweile werden Parlamente selbst aus ihrer Mitte heraus verhöhnt und verächtlich gemacht. Das realpolitische Regierungshandeln wird auch abseits populistischer Parteien von vielen nur noch als abgekartetes Spiel gedeutet. Dabei ist die Gesellschaft viel politisierter als noch vor wenigen Jahren. Und durchaus auch streitlustiger.
Der Mut zur Minderheitsregierung könnte da ein gutes Mittel sein, auf diese Veränderungen einzugehen. Ja, Minderheitsregierungen müssen für jedes Vorhaben Mehrheiten suchen, statt sich auf die Disziplin der sie tragenden Parlamentsfraktionen zu verlassen. Das Entscheidungstempo könnte sich also verzögern. Dafür könnten Kompromisse und Diskussionen aufgewertet werden. Die Komplexität und die Arbeit, die Politik bedeutet, würde transparenter. Optimistisch könnte man sogar sagen: Das Parlament findet als Ort der respektvollen Auseinandersetzung zu sich selbst.
Gegen das Geschrei der Populisten
Das könnte auch zur Profilbildung der Parteien beitragen, die als in sich vielstimmige Akteurinnen erscheinen. Vor allem aber würde es zu einer neuen politischen Diskussionskultur führen, die aus den Parlamenten wieder zurück in die Gesellschaft wirkt. Das Geschrei und die Zuspitzungen von Extremistinnen und Extremisten, Populistinnen und Populisten erschiene dann einfach fehl am Platz. Und wer nur destruktiv für Chaos sorgen will, dem würde der Zahn gezogen, wenn Unvorhersehbarkeit schon eingepreist ist.
Stand jetzt ist nach der kommenden Bundestagswahl eine Koalition mit parlamentarischer Mehrheit das realistischste Szenario. Das bedeutet aber nicht, dass man nicht weiter über die Möglichkeit von Minderheitsregierungen sprechen sollte. Natürlich könnten Menschen es als Zumutung empfinden, wenn Lösungen nur nach langen Verhandlungen gefunden werden oder der Prozess des Regierens knirscht und auch scheitern kann. Doch dieses Risiko erscheint tragbar gegenüber der Aussicht auf ein weiter herausgezögertes Ende der ermüdenden Illusion eines stabilen "Weiter so", das keine Wege findet gegen die Verführung des Autoritarismus.
Steffen Greiner ist Autor, Dozent und Journalist. Er war Chefredakteur der Zeitschrift zur Gegenwartskultur „Die Epilog“ und Co-Autor des erzählenden Brief-Sachbuchs „Liebe, Körper, Wut & Nazis“ (Tropen 2020). Im Februar 2022 erschien seine Erkundung zur Geschichte der spirituellen Querfront in Deutschland zwischen Lebensreform, Weimar und Corona „Die Diktatur der Wahrheit. Eine Zeitreise zu den ersten Querdenkern“, ebenfalls bei Tropen.