Regelbrüche

Lob der Rechtschaffenheit

Eine Radfahrerin fährt über eine rote Ampel. Die Aufnahme zeigt die Bewegung, es ist ein verwischtes Foto.
Wo führt das alles nur hin? Wer gegen Regel verstößt, ist nicht nur für die nächste Generation ein schlechtes Vorbild. © picture alliance / dpa Themendienst / Florian Schuh
Ein Einwurf von Christian Schüle |
Bisschen bei den Steuern schummeln, bei Rot über die Ampel – macht doch fast jede. Rechtschaffenheit steht wohl nicht hoch im Kurs. Doch auch kleine Regelverstöße haben Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, warnt Autor Christian Schüle.
Mit Rechtschaffenheit und Verbindlichkeit ist heute wenig zu gewinnen. Warum sollte man sich noch an Regeln halten, wenn bei anderen Maßlosigkeit und Rücksichtslosigkeit belohnt werden?
Natürlich, die Pflegekraft aus Moldawien nicht anzumelden, ist erheblich günstiger; Haushaltshilfen aus Serbien illegal zu beschäftigen deutlich preiswerter. Eine Art sozialpolitisches Schnäppchen.
Klimakleber blockieren den Verkehr und rechtfertigen Rechtsverstöße mit Notwehr für das Gute. Erfolgreiche Fußballtrainer werden über Nacht entlassen, Beziehungen über Whatsapp beendet.

Das Schamgefühl hat gelitten

Dazu kommen: Dieselskandal der Autokonzerne, unverfrorene Masken-Deals von Politikern, Missbrauch in den Kirchen, Verstöße gegen Compliance-Regeln, Vetternwirtschaft im Wirtschaftsministerium, Korruption im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Lebensmittelkonzerne erhöhen dreist die Preise, Mineralöl- und Stromkonzerne scheffeln Übergewinne – und so fort.
Obwohl Jüngere den Älteren und Eingeschränkten in Straßen- und U-Bahnen nach wie vor den Sitzplatz anbieten und die meisten Bürger – aus Überzeugung oder Angst vor der Sanktion – ihre Steuern halbwegs korrekt zahlen, gehen in der Kommunikation Stil und Anstand vor die Hunde. In der Facebook- und Twitter-Ära hat das einst relativ intakte Schamgefühl eminent gelitten.
Die Partikularinteressen von Communitys, Lobbys, Bewegungen oder aktivistischen Kollektiven, die sich auf Kosten der Allgemeinheit durchsetzen wollen, führen zu einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft mit unversöhnlichen Kleingruppen. Ohnehin werden Probleme immer öfter mit schierer Gewalt gelöst.
Notlagen auszunutzen, mag ökonomisch reizvoll seien, ist aber fundamental unethisch. Wer soziale Normen torpediert, untergräbt peu à peu den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Hat all das noch Konsequenzen?
Die Sitten einer liberalen Gesellschaft verrohen auf sichtbare wie unsichtbare Weise, wenn die Bereitschaft ihrer Bürger nachlässt, eigene Bedürfnisse allgemeinen Regeln zu unterwerfen – und zwar aus Einsicht in die Selbstverpflichtung, ohne unmittelbaren persönlichen Vorteilsgewinn also.
Schon vor der Pandemie konnte man den Eindruck gewinnen, dass das Vertrauen in Staat und Rechtsstaat durch wachsendes Misstrauen verdrängt wurde. Egozentrik, Nabelschau und Umsichtslosigkeit – die immer selbstbezüglichere Individualisierung über die vergangenen 30 Jahre hinweg hat letztlich zu einem Glauben an die Selbstermächtigung des Einzelnen geführt, der jenseits der Gesetze nur noch wenig Grenzen gesetzt sind.

Verantwortung für Gemeinwohl schwindet

Wer dauernd berechnet wird, wird irgendwann selbst berechnend. So verkümmern womöglich jene Maxime, die einen zu Eigenverantwortlichkeit wie zur Verantwortung für Gemeinsinn und Gemeinwohl bereiten Bürger auszeichnen: die Vernunft, die Konsequenzen des eigenen Handelns miteinzubeziehen; die Verpflichtung zur Vermeidung von Leid und Schaden anderer; die Tugenden der Solidarität, des Mitgefühls und der Zwischenmenschlichkeit.
In Hinblick auf den so wichtigen sozialen Frieden lautet die entscheidende Frage gerade heute: Warum soll ich mich dem anderen noch verpflichtet fühlen? Antwort: Weil die offene Gesellschaft auf Voraussetzungen basiert, die sie selbst weder schaffen noch garantieren kann: Engagement etwa, Kompromissbereitschaft und Loyalität.
Die Entwicklungen der vergangenen Jahre haben aus verschiedenen Gründen das zentrale Anliegen der bürgerlich-humanistischen Tradition ignoriert, wenn nicht gar geschliffen, dass jede freie Gesellschaftsordnung einer starken Identifikation vonseiten ihrer Mitglieder bedarf.

Vorbilder sind notwendig

Intakte Sittlichkeit setzt intakte Institutionen voraus, durch die Regeln und Normen immer aufs Neue gelehrt und reproduziert werden: Kita, Kindergarten, Schulen, Vereine, Verbände. Die liberale repräsentative Demokratie – bei allen Dysfunktionen die beste Gesellschaftsform, die zu haben ist – muss sich jeden Tag aufs Neue selbst hervorbringen.
Auch wenn es unzeitgemäß klingt: Jede in verbindliche soziale Normen investierte Mühe, zahlt sich später um ein Vielfaches aus. Die kommenden Generationen brauchen Vorbilder!

Christian Schüle, geboren 1970, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert. Er hat einen Lehrauftrag für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin und lebt als freier Schriftsteller, Essayist und Publizist in Hamburg. Unter seinen zahlreichen Büchern sind der Roman „Das Ende unserer Tage“ und zuletzt die Essays „Heimat. Ein Phantomschmerz“ sowie „In der Kampfzone“.

Philosoph und Publizist Christian Schüle
© privat
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