Kommentar
Die Schuldenuhr am Sitz der Steuerzahler-Bunds in Berlin: Viele Annahmen, auf denen die Schuldenbremse basiert, haben sich inzwischen als falsch erwiesen, kommentiert Stephan Kaufmann. © picture alliance / Daniel Kalker / Daniel Kalker
Argumente für die Schuldenbremse basieren auf einem Denkfehler
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Den Argumenten der Schuldenbremsen-Befürworter liegen bestimmte Annahmen über den Menschen zugrunde. Doch dieses Menschenbild ist falsch, sagt Wirtschaftsjournalist Stephan Kaufmann. Das zeigt sich aktuell im Bundestagswahlkampf und Wahlprognosen.
Die Schuldenbremse ist in die Kritik geraten, inzwischen auch bei Ex-Kanzlerin Angela Merkel, unter der sie 2009 eingeführt wurde. Heute heißt es, die Schuldenbremse verhindere notwendige Staatsausgaben, damit schaffe sie keine Stabilität, sondern gefährde Deutschlands Zukunft. Abschaffen allerdings will sie niemand so recht, nur eine Reform soll sein. Das ist verwunderlich. Denn viele Annahmen, auf denen die Schuldenbremse basiert, haben sich inzwischen als falsch erwiesen. Das hat etwas mit der AfD zu tun – und mit dem Bild, das sich Ökonomen von Bürgern und Politikern machen.
Normalziel: Neuverschuldung bei 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung
Im Prinzip schreibt die Schuldenbremse vor, dass in Normalzeiten die Neuverschuldung des Staates nur maximal 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung betragen darf. Damit hat sich die Politik also selbst Fesseln angelegt – ähnlich wie Odysseus, der sich an den Mast binden ließ, um dem betörenden Gesang der Sirenen zu lauschen, ohne ihnen in die Falle zu gehen.
Laut ökonomischer Theorie ist eine solche Schulden-Selbstfesselung der Politik zwingend nötig. Das liegt zum einen am Wähler. Der ist laut dem Menschenbild der Ökonomie eine Person, die nur einen Zweck verfolgt: Ihren individuellen materiellen Nutzen zu maximieren. Daher wählt sie die Politiker, die ihr die größten Versprechungen machen.
Ausufernde Versprechen bestimmter Politiker
Das wissen diese Politiker natürlich und gehen daher auf Stimmenfang mit ausufernden Versprechen, die sie nach ihrem Wahlsieg mit Schulden finanzieren. Dass diese Schulden irgendwann fällig werden, kümmert die Politiker laut ökonomischer Theorie nicht. Denn die Rückzahlung fällt in eine ferne Zukunft, in der sie längst nicht mehr im Amt sind. Daher können sie heute fröhlich Schulden machen – „Gegenwartspräferenz“ nennen das die Ökonomen.
So weit die theoretische Begründung der Schuldenbremse. Doch das Menschenbild der Ökonomen hat wenig mit der Realität zu tun. Gehen Politiker derzeit wirklich mit haltlosen Versprechen auf Werbetour? Viele von ihnen sprechen eher von Verzicht – so wie aktuell CDU-Chef Friedrich Merz, demzufolge Deutschlands Wohlstand seinen Gipfel schon überschritten hat. Seine Partei führt in den Umfragen zur Bundestagswahl mit großem Abstand.
Abneigung gegen höhere Schulden bei Alten
Auch die Wähler scheinen nicht ganz dem Bild des nutzenmaximierenden Egoisten zu entsprechen. Sonst müssten gerade ältere Menschen für höhere Staatsschulden sein – schließlich werden diese Schulden erst nach ihrem Ableben fällig. Tatsächlich aber zeigen gerade die Alten eine auffällige Abneigung gegen höhere Schulden.
Zudem sind gerade in jüngerer Zeit Parteien erfolgreich, die ihren Wählern wenige Versprechen machen. Zum Beispiel in den USA: Dort ist der kommende Präsident Donald Trump gerade bei ärmeren Menschen sehr beliebt. Gleichzeitig hat Trumps Partei Sozialkürzungen im Programm, wie es sie bislang noch nie gegeben hat. Die von Trump angekündigten Zölle werden billige Waren aus dem Ausland verteuern, was vor allem die ärmeren US-Haushalte trifft. Steuersenkungen verspricht Trump dagegen den Reichen – die aber wählen inzwischen eher die Demokraten.
"AfD-Paradox" bei Wählern
Ähnlich in Deutschland: Hierzulande punktet die AfD überproportional bei Menschen, die arbeitslos sind, die weniger Geld verdienen oder sozialen Abstieg befürchten. Die Partei aber erwärmt sich eher für Steuersenkungen, für einen schlanken Staat, für schärfere Sanktionen gegen Arbeitslose und hat sich gegen Vorschläge gewandt, den Mindestlohn zu erhöhen oder die Rechte von Mietern zu stärken.
„AfD-Paradox“ nennen das Ökonomen – Menschen wählen eine Partei, die ihren materiellen Interessen entgegensteht. Offensichtlich fällen Menschen ihre Wahlentscheidungen nach anderen Kriterien als denen ihres privaten materiellen Nutzens. Damit aber entfällt das Argument, auf dem die Schuldenbremse beruht: Dass Wähler kühl kalkulierende Egoisten sind, die hohe Schulden akzeptieren, weil ihnen die Zukunft egal ist.
Stephan Kaufmann hat Ökonomie studiert und arbeitet als Wirtschaftsjournalist in Berlin. Er arbeitet für die „Frankfurter Rundschau“, den „Freitag“, das „Neue Deutschland“ und andere Zeitungen.