Kommentar

Geschlecht ist eine Eintrittskarte – wir sollten sie selbst wählen können

04:08 Minuten
Eine Demonstrierende hält während einer Parade die Pride-Flagge in die Höhe.
Pride Parade in Budapest © picture alliance / dpa / Marton Monus
Von Christine Bratu |
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Am 1. November tritt das neue Selbstbestimmungsgesetz in Kraft. Es ist nicht nur ein Gewinn für die Trans-Community, sondern lehrt uns auch etwas Grundsätzliches, meint Christine Bratu: Geschlechtlichkeit ist ein Türöffner für soziale Teilhabe.
Seit 1980 gilt in Deutschland das so genannte Transsexuellengesetz. Schon 2011 hatte das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass dieses Gesetz in Teilen gegen das Selbstbestimmungsrecht von trans, inter und nicht-binären Menschen verstoße. Nächste Woche wird es nun endlich abgelöst: Durch das Selbstbestimmungsgesetz.

Ein Fortschritt für uns alle

In Zukunft sind für eine Änderung des Geschlechtseintrags im Personenstandsregister keine psychiatrischen Gutachten mehr notwendig. Stattdessen reicht eine bloße Willensbekundung in Form einer Erklärung beim Standesamt. Bei all seinen Fehlern ist dieses Gesetz ein großer Erfolg, vor allem natürlich, weil sich trans, inter und nicht-binäre Menschen nun nicht mehr als krank bezeichnen lassen müssen, um medizinische Grundversorgung und rechtliche Anerkennung zu erhalten.
Doch tatsächlich ist das neue Selbstbestimmungsgesetz ein Fortschritt für uns alle, weil es uns erlaubt, die Rolle, die Geschlecht in unserer Gesellschaft spielt, angemessener in den Blick zu nehmen.
Um dies zu erkennen, müssen wir uns zuerst klarmachen, dass Geschlecht in unserer Gesellschaft als Eintrittskarte fungiert, als Zugangscode für alle möglichen sozialen Praktiken: Je nachdem, welche biologischen Merkmale uns zugeschrieben werden, wird von uns erwartet, dass wir uns auf eine bestimmte Art und Weise kleiden, dass wir uns schminken oder nicht, dass wir bestimmte Berufe ergreifen oder gar nicht erst anstreben, dass wir die Damen- und nicht die Herrentoilette benutzen etc.

Geschlecht schränkt grundlos unsere Freiheit ein

Alle diese Regeln sind zwangsbewehrt – man wird bestraft, wenn man die falsche Eintrittskarte hat – auch, wenn der Zwang unterschiedlicher Art sein kann: Die weiblich gelesene Person, die einen Vorstandsposten anstrebt, riskiert als ehrgeizige Zicke von Kolleginnen und Kollegen geschnitten zu werden. Die männlich gelesene Person, die mit Lidschatten und Eyeliner aus dem Haus geht, läuft Gefahr auf der Straße angefeindet zu werden.
Und Personen, die im vermeintlich falschen Klo erwischt werden, droht Hausverbot oder sogar physische Gewalt (wie die erschreckenden Statistiken zu Gewalt gegenüber trans und nicht-binären Menschen zeigen). Mit den Worten der feministischen Philosophin Charlotte Witt: Geschlecht ist diejenige Kategorie, die umfassend regelt, wie wir die soziale Welt navigieren können.
Dass unsere sozialen Praktiken geschlechtlich kodiert sind, schränkt unsere Freiheit nachhaltig ein – und dies ohne guten Grund. Denn mit etwas kritischer Distanz erkennt man, dass für keine der genannten Praktiken das Aufweisen bestimmter biologischer Merkmale ausschlaggebend ist: Wie wir uns anziehen oder ob wir uns schminken, sollte ausschließlich davon abhängen, was sich gut für uns anfühlt – und nicht von unserem Chromosomensatz oder unseren Hormonwerten.
Bei der Wahl unseres Berufs, unserer Sportart oder anderer Hobbies sollte in einer liberalen Demokratie ebenfalls primär zählen, worauf wir Lust haben; und auch für unseren Zugang zu öffentlichen Toiletten ist letztlich doch nur entscheidend, ob wir willens und in der Lage dazu sind, niemanden zu bedrängen und keinen Dreck zu hinterlassen.

Die Rolle von Geschlecht radikal reduzieren

All dies spricht eigentlich dafür, die Rolle, die Geschlecht in unserer Gesellschaft spielt, radikal zu reduzieren. Wenn es keinen guten Grund dafür gibt, dass unsere sozialen Praktiken geschlechtlich kodiert sind, dann sollte Geschlecht auch nicht als Eintrittskarte zu ihnen fungieren. Doch dieser Schritt wird manchen noch zu radikal sein.
Als Ersatz bietet sich das an, was das Selbstbestimmungsgesetz vormacht: Wenn Geschlecht schon weiterhin alles bestimmt, sollten wir unser Geschlecht zumindest selbst bestimmen dürfen. Das neue Selbstbestimmungsgesetz nimmt also nicht nur die Menschenwürde von trans, inter und nicht-binären Menschen endlich ernst, es zeigt auch uns allen einen angemesseren Weg über Geschlecht nachzudenken.

Christine Bratu, geboren 1981, ist Professorin für Philosophie mit Schwerpunkt Genderforschung an der Georg-August-Universität Göttingen.

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