Kommentar zum Buchpreis 2023
Der österreichische Autor Tonio Schachinger erhält den Deutschen Buchpreises 2023 - mit "Echtzeitalter", einem Schul- oder Internatsroman. © picture alliance / dpa / Arne Dedert
Die falsche Entscheidung
05:57 Minuten
Tonio Schachingers „Echtzeitalter“ ist kein schlechtes Buch, aber ganz sicher nicht der Roman des Jahres, meint unsere Literaturredakteurin Wiebke Porombka. Für den Deutschen Buchpreis hätte es aus ihrer Sicht würdigere Kandidatinnen gegeben.
Tonio Schachingers mit dem Deutschen Buchpreis 2023 ausgezeichneter Roman ist unterhaltsam, amüsant, auch anrührend. Im Setting einer Wiener Eliteschule – als Vorbild ist das Wiener Theresianum zu erkennen – erzählt der 1992 geborene österreichische Autor von den typischen Zumutungen, mit denen sich sein jugendlicher Protagonist konfrontiert sieht.
Denn der hat natürlich ganz andere Leidenschaften im Kopf als das klassische Bildungsideal, das ihm an der Schule vermittelt werden soll. Er will Computerspielen – und darin ist er auch, anders als im Unterricht, leidenschaftlich und erfolgreich. Und womöglich hilft das Zocken auch ein wenig dabei, den frühen Tod des eigenen Vaters auszuhalten oder zumindest immer wieder eine Zeit lang zu vergessen.
Mit diesem sehr griffigen Sujet ist „Echtzeitalter“ von Tonio Schachinger ein Roman, der sich in eine literarische Tradition stellt - in die des Schul- oder Internatsromans, man denke etwa an Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ oder an Hermann Hesses „Unterm Rad“. Romane also, in denen es um die Spannung zwischen den Leidenschaften des Erwachsenwerdens und den Anforderungen und Zwängen der Gesellschaft geht. Zum anderen ist „Echtzeitalter“ ein Roman, der durchaus typisch ist für die österreichische Literatur: Die aktuelle Politik wird genauso ironisiert wie der Literaturbetrieb und die K. u. k.-Tradition.
Mora, Öziri und Rabe hätten den Preis verdient
Allerdings: Die Entscheidung, Tonio Schachinger für „Echtzeitalter“, seinen zweiten Roman, den Deutschen Buchpreis zu verleihen, ist nicht nur überraschend, sie ist falsch. Womöglich – darüber kann man natürlich nur spekulieren – hat die Jury sich über mindestens drei der sechs nominierten Romane nicht einig werden können und ist schlussendlich auf einen Kompromiss-Kandidaten ausgewichen.
Mit „Muna oder die Hälfte des Lebens“ von Terezia Mora war ein ästhetisch brillanter Roman über ein viel zu lange und immer noch beschwiegenes Thema nominiert: über Gewalt gegen Frauen. Necati Öziri hat mit „Vatermal“ einen rhythmisch ungemein starken Roman über Jugendliche mit Migrationserfahrung geschrieben, die das Erzählen ihrer Erfahrungen einfordern. Und Anne Rabes „Die Möglichkeit von Glück“ ist ein Roman, der einen wesentlichen gegenwärtigen Diskurs auf eindrückliche Weise literarisch abbildet: Wie erzählt eine nachfolgende Generation über das Erbe der DDR? Jeder dieser drei Romane hätte den Deutschen Buchpreis verdient.
Streckenweise willkürlich
Dass man nun die Auszeichnung für „Echtzeitalter“ kritisieren muss, mag mit Blick auf den prämierten Roman unnötig hart erscheinen. Es ist kein schlechter Roman, aber ganz sicher – angesichts der Shortlist und mit Blick auf das Literaturjahr insgesamt – nicht „der Roman des Jahres“, den der Deutsche Buchpreis ja auszeichnen will. Kritisieren muss man also einzig und allein die Jury, deren Entscheidungen bereits seit der Longlist wenig nachvollziehbar und streckenweise willkürlich erscheinen. Aber: Nach dem Buchpreis ist ja glücklicherweise auch vor dem Buchpreis.