Kommentar zu digitaler Bildung

Ein gigantischer Modernisierungsstau

05:16 Minuten
Ein Junge sitzt an seinem Schreibtisch vor dem Computer.
Fernunterricht in der Pandemie: Jeder Lehrer macht in jeder Klasse seine eigene Digitalisierung, kritisiert Marcus Richter. (Symbolfoto) © imago images / Jochen Tack
Von Marcus Richter |
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Danke Föderalismus, danke Schulpolitik! Dass digitale Bildung in Deutschland verschlafen wurde, wird in der Pandemie auf schmerzliche Weise deutlich, kommentiert Marcus Richter. Er kennt die Misere auch aus der Perspektive als Familienvater.
April. Es war Ende April. Letzten Jahres. Als mir endgültig klar wurde, wie schlecht es um digitale Bildung in Zeiten der Pandemie bestellt ist. Nicht nur bei uns in der Familie, sondern so ganz allgemein. Ich kann sogar den genauen Zeitpunkt benennen.
Der war, als mir Myrle Dziak-Mahler vom Zentrum für Lehrer*innenbildung an der Uni Köln in einem längeren Interview sagte: "Aber ein Modernisierungsstau von zwei Jahrhunderten ist schon gigantisch, und der fällt uns gerade auf die Füße."
Aber das war ja Ende April, letzten Jahres. Seitdem hat sich doch sicher einiges getan. Es ist ja fast ein Jahr vergangen, es gab Sommerferien, in denen man Konzepte erarbeiten, Pläne machen und Realisierungen umsetzen hätte können.

Verständliche pädagogische Konzepte fehlen

Was seitdem passiert ist? Nichts! Na ja. Genau genommen nicht gar nichts, die "Digitalisierung" ist in vollem Gange. Jeder Lehrer macht in jeder Klasse seine eigene Digitalisierung – das Ergebnis ist ein wildes Durcheinander.
Die folgende Geschichte ist nicht exakt so passiert - aber allen Eltern wird sie bekannt vorkommen. Immer wieder höre ich so was von den eigenen Kindern oder aus dem Umfeld: Man erfährt Sonntag Nacht, dass Montag früh eine wichtige Videokonferenz passiert. Die dann nicht für alle klappt, weil nicht alle Ton haben, aber sich niemand genug auskennt, um auf Fehlersuche zu gehen. Was aber auch nicht so schlimm ist, weil es sowieso an verständlichen pädagogischen Ansätzen fehlt – und ein Gesamtkonzept bis heute nicht vorhanden ist.
Ja, das ist auch eine Sache, in der sich seit April nichts getan hat. Letzten Jahres.

Ausnahmen sind nicht der Normalfall

"Aber Marcus", höre ich dann manchmal, wenn ich mein Leid klage: "Hier an meiner Schule funktioniert das doch wohl sehr gut!" Ja natürlich gibt es Ausnahmen, so ist es ja seit Jahren, dass idealisierte Einzelkämpfer oder manchmal sogar Einzelschulen die Fackel der Digitalisierung hochhalten und mit ihrem eigenen Brennstoff füttern.
Aber das ist so, wie zu sagen, in ganz Deutschland gibt es gute Schulgebäude, weil in Berlin-Zehlendorf eine mittelständische Elterninitiative und ein paar motivierte Lehrer ein Schulgebäude saniert haben, während im Rest der Republik die Schulklassen um brennende Mülltonnen unter zugigen Brücken Unterricht abhalten.
Was die Situation noch schwerer zu ertragen macht: Es gibt ja sogar Konzepte! Aber was mit guten, digitalen Ideen im Bereich Bildung passiert, können Sie ja mal die freien Medienpädagog*innen fragen, die sich am Rand des Existenzminimums von Projektantrag zu Projektantrag hangeln müssen und seit Jahrzehnten darüber reden, was man alles machen könnte.

Ein politischer Kindergarten

Und die Politik? Wenn ich mich auf einschlägigen Podiumsdiskussionen befinde, dann klingen die dort geführten Debatten - wie ein Kindergarten. Mal trägt der Bund die Schuld, dann wieder die Länder, dann wieder der Bund, dann wieder...
Danke Föderalismus, danke deutsche Bildungspolitik. Es fehlt einfach an allem: an Geld, politischem Willen, freien Kapazitäten beim Lehrpersonal. Alle Energie wird gerade darauf verwendet, in einer Pandemie - wegen der in Deutschland gerade jeden Tag etwa 1000 Menschen sterben - an der Präsenzpflicht festzuhalten.
Aber das ist noch mal ein ganz anderes Thema, über das ich mich jetzt nicht auch noch aufregen kann. Ich muss erst mal den Router neu aufsetzen, weil wir seit Tagen DSL-Probleme haben. Aber immerhin, wenn mein Anschluss funktioniert, hat der zumindest mehr Bandbreite als die ganze Schule. Das ist doch schon mal was, oder?
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