Arnd Pollmann schreibt Bücher über Integrität und Unmoral, Menschenrechte und Menschenwürde. Er ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und Mitherausgeber des philosophischen Onlinemagazins Slippery Slopes.
Kritik der neuen Ungeselligkeit
04:30 Minuten
Die Pandemie macht Zusammenkünften am Jahresende einen Strich durch die Rechnung. Aber können wir unsere Geselligkeit beliebig lang aussetzen, ohne dabei ernsthaft Schaden zu nehmen? Arnd Pollmann meldet Zweifel an.
In virologisch ängstlicher Erwartung familiärer Zusammenkünfte zu Weihnachten und Silvester ging jüngst auf Twitter ein neues politisches Schreckgespenst herum: der "Familismus". Gebrandmarkt wird ein Denken, das in der familiären Sippschaft die Keimzelle des Sozialen verortet. Die rhetorische Nähe zu anderen gefährlichen "Ismen" wie Sexismus, Rassismus oder Klassismus soll signalisieren, dass längst auch die Familie unter das Verdikt fällt, der wahrhaft gerechten, der solidarischen Gesellschaft im Wege zu stehen.
Wachsende Abstände – auch vom Sozialen
In diesem diskreditierenden Abgesang auf traditionelle Familienfeste kulminiert eine beunruhigende Tendenz des auslaufenden Corona-Jahres, die zuletzt auch schon dem Glühweinausschank den Garaus machte: Das Zwischenmenschliche als solches steht unter Generalverdacht. Die alte Geselligkeit wird zunehmend als gefährlich, als unsolidarisch denunziert. Oder um es paradox zu pointieren: Das Soziale ist das neue "asozial".
Bereits mit dem Social Distancing hat sich dieses Paradoxon angekündigt. Die virologisch geforderte Distanz ist ja nicht nur eine Distanz im Sozialen. Sagen wir: 1,5 Meter Abstand. Es geht dabei zunehmend auch um eine Distanz vom Sozialen schlechthin. Die Stichworte hier lauten: Quarantäne, Kontaktverbot oder Ausgangssperre. Mehr und mehr tut sich so ein Graben auf zwischen zwei verschiedenen Bedeutungen im Begriff des Sozialen, die zuvor untrennbar miteinander verknüpft schienen.
Stachelige Angelegenheiten: kalt aber vorbildhaft
Sozial ist eine Beziehung dann, wenn sie ein Miteinander von mindestens zwei Personen betrifft. Doch mit "sozial" kann zugleich auch eine Praxis gemeint sein, die auf das Gemeinwohl insgesamt zielt: soziale Gerechtigkeit, Sozialpolitik oder auch soziale Arbeit.
Diese beiden Bedeutungen geraten nun immer häufiger in Widerstreit: Wer derzeit mit anderen Menschen zusammen sein will, ist offenbar nicht länger am Gemeinwohl orientiert. Wer stattdessen am Gemeinwohl orientiert ist, meidet tapfer das Zusammensein mit anderen - und zwar möglichst ganz.
Arthur Schopenhauer karikierte die Natur des Menschen einst wie folgt: "Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nah zusammen, um sich durch die gegenseitige Wärme vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln, welches sie dann wieder voneinander entfernte."
Lange Zeit wurde das sich in einsame Isolation zurückziehende Stachelschwein spöttisch bemitleidet. In diesen Tagen hingegen wird es als solidarisches Vorbild abgefeiert.
Das gesellschaftliche Tier: Wie lange ist Isolation artgerecht?
Was aber, wenn es sich diese separierten Stachelschweine in ihrer Isolation zunehmend gemütlich machen, um fortan, wie schon Schopenhauer argwöhnt, "keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen"? Was wird aus der menschlichen Geselligkeit, aus der Gemeinschaft, aus der politischen Öffentlichkeit? Was wird aus dem Menschen selbst, der einst als Zoon politikon galt, als das gesellschaftliche Tier? Und apropos "Zoo": Wie lange ist die virologische Käfighaltung eigentlich noch artgerecht?
Man wird hier sogleich einwenden wollen, diese Sorge sei übertrieben, der soziale Rückzug sei schließlich nur vorübergehend. Nach der Epidemie werde die Entwicklung rasch wieder umschlagen. Könnte sein. Könnte aber auch nicht sein. Zumal die Notlage noch eine Weile anhalten dürfte.
Angriff des Virus auf das "Wir"
Bis auf Weiteres jedenfalls grassiert mit dem gefährlichen Virus zugleich auch ein ungeselliges Ressentiment aufseiten vieler der so vorbildlich Eingeigelten: Wer sich nach Gemeinschaft sehnt, soll sich das jetzt einfach mal verkneifen! Die Jahresendfeier in größerem Kreise wird so zu einem vermeintlich unzivilen Ungehorsam unbelehrbarer Querdenker.
Dennoch mögen viele Menschen den Jahreswechsel zur Besinnung nutzen: Wir werden uns im neuen Jahr schon etwas einfallen lassen und kreativ werden müssen, falls wir unsere soziale DNA nicht überschreiben wollen.