Arnd Pollmann schreibt Bücher über Integrität und Unmoral, Menschenrechte und Menschenwürde. Er ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice Salomon Hochschule Berlin und Mitherausgeber des philosophischen Online-Magazins Slippery Slopes.
Der Rechtsstaat wird von zwei Seiten untergraben
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10.000 Fälle pro Jahr, so hoch schätzt eine aktuelle Studie die Dunkelziffer illegaler Polizeigewalt. Zugleich mehrt sich auch die Gewalt gegen Polizeikräfte. Beides gefährdet das staatliche Gewaltmonopol, meint der Philosoph Arnd Pollmann.
Neulich wurde ein Polizist aus dem Sauerland zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Er hatte seinen Diensthund auf einen fahrerflüchtigen 17-Jährigen losgelassen, der nach wilder Verfolgungsjagd in einer Böschung gelandet und im Grunde bereits wehrlos war. Daraufhin fragte "Der Spiegel": "Wen darf ein Polizeihund beißen?".
Im Lichte der Bochumer Studie zur Polizeigewalt, die in dieser Woche die Runde machte, zielt diese Frage ironisch auf den Punkt: Ein Hund hat keine Pflichten, und zwar selbst dann nicht, wenn er im Staatsdienst tätig ist und dort als Waffe eingesetzt wird. Einem Polizeihundeführer jedoch darf die Justiz ein solches Verhalten nicht durchgehen lassen. Repräsentanten des staatlichen Gewaltmonopols haben Pflichten, und zwar solche, die normale Bürgerinnen und Bürger – und Hunde sowieso – nicht haben.
Öffentlicher Frieden durch staatliches Gewaltmonopol
Es war Max Weber, der im Jahr 1919, inmitten anarchischer Nachkriegswirren folgende Definition vorschlug: "Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes [...] das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht." Ein Staat, der für Sicherheit sorgen soll, besitzt Souveränität dann und nur dann, wenn seine Herrschaft auf einer effektiven Konzentration von Gewaltbefugnissen beruht.
Etwaige "private" Gewalt soll durch die Androhung "öffentlicher" Gewalt eingehegt werden. Der Staat wacht über den individuellen Gewaltverzicht seiner Bürgerinnen und Bürger – und zwar notfalls mit Gewalt. Das klingt paradox, ist aber leider notwendig. Nur derart souveräne Herrschaftsverbände bieten Aussicht auf ein friedliches Miteinander – und damit auch auf Demokratie, Freiheit und Menschenwürde.
Was, wenn der Schurke selbst Polizist ist?
Das Gewaltmonopol ist daher kein Selbstzweck. Abgesehen von der präventiven Kraft, die diese Drohkulisse entfaltet, werden friedfertige Bürgerinnen und Bürger ihren Staat nur dann als schützend und legitim betrachten, wenn sich das Gewaltmonopol im Notfall als wehrhaft erweist. Damit ist aber zugleich angedeutet, dass nicht schon jede Form von staatlicher Gewalt legitim sein kann. Sie ist es vielmehr nur dann, wenn die öffentliche Gewalt verhältnismäßig agiert und der Gewaltminimierung dient.
Ist dem nicht so, wie im Fall polizeilicher Willkür, werden Menschenrechte verletzt. Arthur Schopenhauer sprach hier einst von "doppelter Ungerechtigkeit": Wird man von einem Schurken attackiert, kann man sich an die Polizei wenden. Was aber, wenn der Schurke bei der Polizei ist? Über 90 Prozent der Verfahren gegen die Polizei werden eingestellt. Bezeichnend auch, wie rasch die Gewerkschaft der Polizei bemüht war, die Bochumer Forschergruppe wissenschaftlich zu diskreditieren.
Verdrängte Staatskunde auf beiden Seiten
Das zeitdiagnostisch beunruhigende Problem ist aber ein anderes: Die Ergebnisse der Studie passen zu einem geradezu konträren Befund. Auch die Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten nimmt zu, der Respekt vor der Exekutive schwindet: in Fußballstadien, auf Pegida-Demos, im Rahmen bewaffneter Hochzeitskorsos auf der A2, am Rande von G20 oder Neuköllner Clan-Rivalitäten. Ob sich beide Seiten gegenseitig hochschaukeln oder ob dies einer ohnehin epidemisch grassierenden Wut geschuldet ist, sei dahingestellt. Auch mögen die Waffen hier sehr ungleich verteilt sein – eben das meint ja Schopenhauers Idee "doppelter Ungerechtigkeit".
Dringlicher aber ist, dass beide Seiten das Gewaltmonopol missachten: willkürlich "zu viel" agierende Staatsbedienstete ebenso wie wild gewordene, staatsferne Hooligans. Damit wird der Rechtsstaat von zwei Seiten aus untergraben, denn ein funktionierendes Gewaltmonopol ist Bedingung von Demokratie und Menschenrechten. Ein Polizeihund mag das nicht wissen, aber aufgeklärte Staatsbürgerinnen und Staatsbürger – ob in Uniform oder auf der anderen Seite – sollten sich dieser Staatskundelektion bewusst sein.