Kommentar zu unsicheren Coronadaten

Die Politik braucht eine neue Strategie!

04:34 Minuten
Illustration von zwei Händen, die ein Smartphone in die Höhe halten. Eins zeigt ein Diagramm mit aufsteigendem Pfeil, das andere einen absteigenden Pfeil.
Spieglein in der Hand: Statistiken über die Pandemieentwicklung wirken fundierter als sie sind, gibt die Wissenschaftsjournalistin Sibylle Anderl zu bedenken. © imago / stop images / Malte Müller
Von Sibylle Anderl |
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Theater dicht, Schulen offen - ergibt das wirklich Sinn? Im Moment scheint nur eines klar: Eine gesicherte Faktenlage über das Infektionsgeschehen haben wir nicht. Die Politik muss deshalb nach anderen Prinzipien vorgehen, kommentiert Sibylle Anderl.
Die erste Woche des neuerlichen "Lockdown Light" haben wir nun hinter uns, Restaurants, Kultur- und Freizeiteinrichtungen haben seit Montag geschlossen. Die Maßnahmen sind weniger streng als im Frühjahr, die Diskussionen darüber dagegen weit kontroverser.
Wie kann es sein, dass Theater und Kinos geschlossen werden, während Schulen und Kirchen offen bleiben? Hat je eine Ansteckung in der Oper stattgefunden? Zeigen nicht die Daten des Robert Koch Instituts (RKI), dass die Anzahl von Ausbrüchen im Freizeitbereich äußerst gering ist?

Sind die Maßnahmen fehlgeleitet?

Tatsächlich sind die Gesundheitsämter angehalten, jeden Neuinfizierten zu befragen, ob er innerhalb der vergangenen zwei Wochen Kontakt zu einem bestätigten Fall hatte. Wenn möglich, werden Fälle dann zu Ausbruchsgeschehen zusammengefasst und deren Kontext festgehalten. Diese Daten zeigen: Ausbrüche der Kategorien "Freizeit" und "Speisestätte" gibt es vergleichsweise selten. Sind die beschlossenen Maßnahmen also fehlgeleitet?
Wer sich die Daten und die Art ihrer Erhebung ansieht, bemerkt zunächst vor allem eines: Sie gaukeln dem Betrachter ein Wissen vor, das es in dieser scheinbaren Sicherheit nicht gibt, denn sie sind unvollständig und methodisch verzerrt.
So konnte bis Mitte Juli nur rund ein Viertel der Ansteckungen einem Kontext zugeordnet werden, mittlerweile sind es deutlich weniger. Dass sich ein Infizierter an die Ansteckung durch ein Familienmitglied erinnert, ist wiederum deutlich wahrscheinlicher, als dass ein vielleicht symptomloser Sitznachbar in der Bahn als Infektionsquelle identifiziert werden kann.

Unsichere Daten, pauschale Ergebnisse

Die Daten seien "mit Zurückhaltung zu interpretieren", schreibt auch das RKI. Mit anderen Worten: Die Unsicherheiten sind groß, die abzuleitenden Schlüsse viel allgemeiner, als die aufgeschlüsselten Daten vorzugeben scheinen. Intensiver persönlicher Kontakt ist demnach gefährlich, genau wie schlecht belüftete Innenräume. Das ist wenig überraschend. Was also ist mit solch unsicherer Empirie überhaupt anzufangen?
Porträt der Astrophysikerin Sibylle Anderl, geboren 1981. Sie hat in Astrophysik über Stoßwellen im interstellaren Medium promoviert und in Philosophie ein Magisterstudium abgeschlossen. Seit Januar 2017 ist sie Redakteurin der FAZ und schreibt für das Feuilleton sowie das Wissenschaftsressort.
Das Naheliegende tun und nachjustieren: Philosophin und Astrophysikerin Sibylle Anderl© imago/Viadata/Holger John
Die Wissenschaftsphilosophin Sandra Mitchell argumentiert, dass politische Entscheidungen in einer dynamischen, komplexen Welt anders funktionieren müssen, als wir es klassisch erwarten. Die klassische Strategie folgt dem Prinzip "Voraussehen und Handeln". Kosten und Nutzen möglicher Maßnahmen werden anhand von Wahrscheinlichkeiten abgeschätzt. Auf dieser Grundlage wird dann entschieden.
Aber wie wahrscheinlich ist eine Ansteckung im Kino? Wie wahrscheinlich demgegenüber in der Schule? Das sind Informationen, die wir derzeit nicht besitzen, das zeigen die Ausführungen des RKI.

Trotz Unwägbarkeiten zum Ziel

Was jedoch ist zu tun, wenn zuverlässige quantitative Aussagen fehlen, gleichzeitig aber großer Handlungsdruck herrscht? In solchen Fällen, so Mitchell, muss die Strategie eine andere sein. Der erste Schritt sei dann eine Robustheitsanalyse: Man sucht nach denjenigen Handlungsoptionen, die angesichts eines möglichst breiten Spektrums von Unwägbarkeiten immer noch ein zufriedenstellendes Ergebnis nahelegen.
Die Losung, die Maßnahmen unter die allgemeine Vorgabe der Kontaktreduktion zu stellen, kann wohlwollend so gelesen werden: Egal, was wir noch über die Details der Ansteckung in verschiedenen Kontexten herausfinden werden, je weniger Kontakte desto besser — das gilt in jedem Fall.

Naht ein kompletter Lockdown?

Dass für dieses Ziel der gewählte "Lockdown Light" die ideale Strategie ist, mag indes bezweifelt werden. Zu zaghaft und zu partikulär wirken seine Mittel. Umso wichtiger aber ist vor diesem Hintergrund der zweite Schritt Mitchells: Maßnahmen sind anhand kurzfristig messbarer Meilensteine anzupassen.
Die These, dass nun wegfallende Ansteckungen in Restaurants, Kultur- und Freizeitstätten einen wichtigen Anteil am Infektionsgeschehen haben, könnte so sehr schnell durch weiter steigende Zahlen von Neuinfektionen infrage gestellt werden. Dann müssten wir nachsteuern: womöglich mit einem umfassenderen Lockdown.

Sibylle Anderl, geb. 1981, ist Philosophin, promovierte Astrophysikerin und arbeitet als Wissenschaftsedakteurin im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Zuletzt erschien "Das Universum und ich. Die Philosophie der Astrophysik"(Carl Hanser Verlag, 2017, 256 Seiten, 22 Euro)

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