Daniel Loick ist Associate Professor für politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität Amsterdam. Von ihm erschien 2017 das Buch "Anarchismus zur Einführung" im Junius-Verlag.
Warum keine Krankenschwester?
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Wer kann Kanzlerin werden? Der Kreis hat sich erweitert – zum Beispiel um Frauen – aber er ist mit Blick auf die Gesellschaft als ganze immer noch sehr eng. Daniel Loick denkt darüber nach, warum das so ist und wie sich das ändern könnte.
1992 schrieb die feministische Künstlerin Zoe Leonard anlässlich der Präsidentschaftskandidatur einer lesbischen Freundin das Gedicht "I Want a President". Der Text beginnt mit der Zeile "I want a dyke for president", ich will eine Lesbe als Präsidentin. Das Gedicht ist eine Aufzählung von Identitäten, die Leonard gern im Weißen Haus sehen würde: Eine Person, die einen Liebhaber aufgrund von Aids verloren hat, die mit 16 abgetrieben hat, die schon mal im Sozialamt warten musste, die in Therapie war, die Drogen nimmt.
Das Gedicht endet mit der Frage: Warum ist dies nicht möglich? Warum ist der Präsident, von welcher Partei er auch kommt, immer ein Kapitalist, ein Dieb, ein Clown, ein Lügner?
Beinahe 30 Jahre später und in einem anderen Land erscheint Leonards Frage noch immer aktuell: Wir werden aller Wahrscheinlichkeit nach auch nach der Bundestagswahl keine Lesbe als Bundeskanzlerin haben. Auch keine Krankenschwester, die in überbelegten Intensivstationen drei Schichten hintereinander gearbeitet hat. Auch keinen Gefängnisinsassen, keine transsexuelle Person, keine arbeitslose, keine, die regelmäßig Opfer von Racial Profiling wird, keine Sexarbeiterin, keine Depressive, keine Geflüchtete. Warum ist dies nicht möglich?
Wie weit reicht Diversität?
Aus Zoe Leonards Text lassen sich für das Wahljahr einige wichtige Schlussfolgerungen ziehen.
Erstens: Repräsentation ist wichtig. Es macht für ausgeschlossene und marginalisierte Gruppen einen Unterschied, ob sie in gesellschaftlichen Machtpositionen vertreten sind. Nicht nur, weil Repräsentation empowern kann, sondern auch, weil die Erfahrungen, die man in seinem Leben gemacht hat, bei der Ausübung dieser Macht eine Rolle spielen.
Zweitens: Die Repräsentation ist nie vollständig. Denn tatsächlich – dies hat sich seit 1992 geändert – ist es ja heute möglich, einen schwarzen Präsidenten, eine Frau als Bundeskanzlerin oder einen schwulen Bundesgesundheitsminister zu haben.
Dies reicht aber nicht aus, um Leonards Wunsch zu erfüllen. Trotz ihrer oberflächlichen Diversität scheinen alle politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger irgendwie den gleichen Hintergrund zu haben, sie sprechen die gleiche Sprache, lesen die gleichen Zeitungen und gehen auf die gleichen Cocktailpartys.
Es gibt also, drittens, subtile Ausschlussmechanismen, die einen wirklichen Eintritt der Verbannten, Vergessenen und Verlassenen in die Sphäre der politischen Entscheidungsmacht verhindern. Schon für Aristoteles durften Frauen und Sklaven keinen Zutritt zur Polis haben, weil ihnen die zur Politik nötige Vernunft fehle. Und noch für Kant kamen Staatsbürgerschaftsrechte nur wirtschaftlich unabhängigen Männern zu, weil nur diese die zum Denken notwendige "bürgerliche Selbstständigkeit" besäßen.
Trotz des formal allgemeinen Wahlrechts ziehen sich solche Ausschlüsse bis heute durch. Da ist einmal der Elitismus des politischen Apparats, der es Menschen mit Geld, Abitur und guten Manieren leichter macht, eine politische Karriere zu verfolgen.
Daneben gibt es aber auch andere strukturelle Barrieren, die es verhindern, dass manche Anliegen überhaupt als politische Anliegen erscheinen. Wie in einer Beziehung die Hausarbeit verteilt ist, ob man damit rechnen muss, auf der Straße angemacht oder beleidigt zu werden, dass man von zu viel Arbeit ein Burn-out bekommt, wie hoch die Miete ist – all das ist für die Lebensrealität vieler Menschen entscheidend, gilt aber im gegenwärtigen System als Privatsache.
Geteilte Erfahrung der Deprivilegierung
Um diese grundlegenden Ungleichheiten adressieren zu können, müssen wir unsere Aufmerksamkeit den vielen ökonomischen, sozialen, kulturellen, alltäglichen Machtstrukturen zuwenden, die sie ermöglichen und absichern. Es geht also nicht nur darum, die Bundeskanzlerin auszutauschen, sondern unsere politischen Institutionen ganz grundlegend zu verändern – und zudem die ganze Gesellschaft, auf der sie basieren. Wer soll diese Veränderung bewirken?
Das ist die vierte Lektion von Zoe Leonards Gedicht. Es gibt etwas, das alle, die nicht Bundeskanzlerin werden können, gemeinsam haben: die geteilte Erfahrung der Deprivilegierung, ihre Position außerhalb der Macht. Niemand weiß, was alles möglich wird, wenn sie sich zusammentun.