Daniel Loick ist Associate Professor für politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität Amsterdam. Von ihm erschien 2017 das Buch "Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts" im Reclam-Verlag.
Meinungen muss man erst mal bilden
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Sprachregelungen und sogenannte "Cancel Culture" gefährden die Meinungsfreiheit, heißt es. Der Philosoph Daniel Loick findet, es wird zu viel über die Freiheit von Meinungen diskutiert – und zu wenig darüber, wie diese überhaupt zustande kommen.
Dem Wunsch, die Meinungsfreiheit zu verteidigen, liegt ein richtiger Impuls zugrunde. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist der Kern liberaler Freiheitsrechte. Nicht ohne Grund bringen es auch emanzipatorische soziale Bewegungen immer wieder gegen staatliche Zensurversuche oder Überwachungsmaßnahmen in Anschlag.
Wenn es in den deutschen Feuilletons um Meinungsfreiheit geht, wird jedoch meistens ein sehr eingeschränkter Begriff davon zugrunde gelegt. Die einschlägigen Artikel verteidigen das Recht, seine "Meinung" zu sagen, ohne danach zu fragen, wie diese Meinung überhaupt zustande kommt.
Die Meinung selbst wird als vorpolitisch und vordiskursiv vorausgesetzt: Als sei sie immer schon vor dem Eintritt in die soziale Interaktion vorhanden: Man "hat" sie einfach irgendwie.
Nach Hegel ist Freiheit nicht einfach, "was man will"
Gegen einen solchen verkürzten (und deshalb falschen) Begriff von Meinungsfreiheit wendet sich Hegel, wenn er in seiner Rechtsphilosophie gegen ein bestimmtes Verständnis von Pressefreiheit polemisiert. "Preßfreiheit definieren als die Freiheit, zu reden und zu schreiben, was man will", so Hegel, "gehört der noch ganz ungebildeten Rohheit und Oberflächlichkeit des Vorstellens an."
Roh und oberflächlich ist diese Vorstellung, weil die Freiheit von Zensur nur eine leere und abstrakte Freiheit bleibt, so lange sie nicht die Frage der Freiheit der Meinungsbildung aufwirft.
Unsere Meinungen sind selbst Ergebnisse von gesellschaftlichen Prozessen: Wir werden geprägt von unserer Erziehung, dem Austausch mit Familie und Freundeskreis, den Medien und allgemein den vorherrschenden Ideen und Vorstellungen.
Wirklich frei ist unsere Meinung erst, wenn auch diese Prozesse frei sind.
Die Zufälligkeit des eigenen Meinens
Wenn man hingegen bloß sagt, "was man will", fragt man noch nicht danach, wie das, was man will, überhaupt zustande gekommen ist. Man überlässt sich der reinen Zufälligkeit des eigenen Meinens: Man handelt nicht frei, sondern unfrei. Wirkliche Meinungsfreiheit ist also die Freiheit, an sinnvollen Meinungsbildungsprozessen teilnehmen zu können.
Dies bedeutet zunächst, die wichtigsten Institutionen der Meinungsbildung radikal zu demokratisieren: die Schule, die Universität, die Medien. Die Inhalte der Zeitungen und die Algorithmen der Plattformen etwa dürfen nicht von einzelnen Großkonzernen, sondern müssen von uns gemeinsam bestimmt werden.
Denn nur in einem Diskurs von Freien und Gleichen können sich richtige Urteile und gute Gründe herausbilden.
Freie Meinungsbildung ist demokratisch, inklusiv, egalitär
Was bedeutet das? Freie Meinungsbildung ist inklusiv: Von jeder besonderen Perspektive ist potentiell ein wertvoller Beitrag zu erwarten. Daraus folgt, ausgeschlossene Positionen einzubeziehen, marginalisierte Stimmen zu verstärken und verschüttete Wissensformen zu entbergen.
Freie Meinungsbildung ist egalitär: Kein Beitrag zu unserem Selbstverständigungsdiskurs ist wertvoller, nur weil er von einem Titel, der Herkunft, von Geschlecht, Geld oder Macht gestützt ist. Daraus folgt, Hierarchien abzubauen – seien sie ökonomisch, institutionell oder informell.
Und schließlich: Freie Meinungsbildung ist selbstreflexiv. Eine freie Meinung befragt sich immer wieder neu daraufhin, ob sie wirklich Resultat eines freien Urteilens ist oder nicht doch nur die Wiedergabe überkommener Autoritäten und von Macht durchzogener Ausschlussprozesse.
Meinungsfreiheit ist ohne Widerspruch nicht zu haben
Teil des Kampfes um die Befreiung unserer Meinungsbildungsprozesse ist auch, dass sich Menschen in Machtpositionen gefallen lassen müssen, dass ihnen öffentlich und auch lautstark widersprochen wird. Das gleiche gilt für das Tabuisieren und Zurückdrängen menschenfeindlicher Einstellungen, die sich etwa in rassistischen, sexistischen oder homophoben Sprechakten ausdrücken.
Wer sich allein auf sein "Recht" kapriziert, an solchen Einstellungen festzuhalten, ist an einem freien Diskurs nicht interessiert – und für diesen auch nicht interessant. Er oder sie will sich gar keine Meinung bilden, sondern, so könnte man mit Hegel sagen, nur "zanken".