Kommentar zur Zeitumstellung

Eine metaphysische Absurdität

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Ein Haufen übereinanderliegender, historischer Uhren mit unterschiedlichen Zeigeranzeigen.
Ja, wo ist denn die Uhr geblieben? Die turnusmäßige Zeitumstellung sorgt regelmäßig für Klagen. © unsplash / Jon Tyson
Von David Lauer |
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Der Mini-Jetlag der Zeitumstellung macht vielen zweimal im Jahr zu schaffen. Der Philosoph aber klagt darüber nicht einfach, sondern gerät ins metaphysische Grübeln: Kann man Zeit einfach so „umstellen“? Und was ist Zeit überhaupt?
"Was also ist Zeit?" - So fragt der heilige Augustinus im elften Buch seiner Bekenntnisse, und er gibt die tausendfach zitierte Antwort: "Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es einem Fragenden erklären will, weiß ich es nicht."
Augustinus’ Text gilt als Gründungsdokument der Zeitphilosophie. Und der Kirchenvater verzweifelt darin fast an der Ungreifbarkeit dieses flüchtigsten aller Gegenstände. Ein Teil des Problems sei, so klagt er, dass häufig unklar bleibe, was wir mit dem Wort "Zeit" eigentlich bezeichnen.
Hätte er den Ausdruck "Zeitumstellung" gekannt, er hätte sich ganz und gar bestätigt gesehen, denn was soll das für eine Zeit sein, die man so mir nichts, dir nichts umstellen kann? Aus der man an einem willkürlich gewählten Punkt eine Stunde herausschneidet, um sie ein halbes Jahr später durch eine Art temporales Copy-and-Paste wieder einzufügen, sodass am heutigen Sonntag die Stunde zwischen zwei und drei Uhr gleichsam zweimal durchlaufen wurde? Ist es überhaupt denkbar, die Zeit zu manipulieren?

Kann man Zeit anhalten?

Nehmen wir an, es wäre einem allmächtigen Wesen möglich, auf einen Schlag jede Art von Bewegung und Veränderung im Universum anzuhalten, von der Expansion der Galaxien über die Bewegung jedes Moleküls im Meer bis zu den Zerfallsprozessen im letzten Cäsiumatom. Hätte dieses Wesen damit die Zeit angehalten? Oder würde sie, obwohl nichts passiert, weiterlaufen? Ist die Zeit so etwas wie ein leerer Behälter, in dem Dinge existieren, der aber auch leer sein könnte? Platon und Newton neigten dieser Ansicht zu.
Oder liegt die Zeit vielmehr in den Dingen und ihren Beziehungen zueinander und würde zugleich mit ihnen erstarren, wie Aristoteles und Leibniz meinten? Oder entspringt die Zeit - noch ganz anders - vielmehr in uns? Ist sie vielleicht allein die Form, in der uns die Wirklichkeit erscheint, ohne dass wir je wissen könnten, ob auch die Dinge an sich selbst in der Zeit sind, wie Kant lehrte?
David Lauer im Porträt.
David Lauer© Privat
Der britische Philosoph John McTaggart Ellis McTaggart, der wirklich so heißt, weil sein eigener Nachname ihm als Vorname gegeben wurde, sodass er innerhalb seines Namens zweimal vorkommt, der Mann ist also gewissermaßen seine eigene Zeitumstellung – dieser Philosoph McTaggart also fragte sich: Ist die fundamentale Ordnung der Zeit eine objektive Ordnung, die sich durch beobachterunabhängige, absolute Datierungen beschreiben lässt?
Oder begreift man die Zeit letztlich immer vom eigenen Standpunkt in der Zeit her, sodass beobachterrelative Zeitangaben die Grundlage der Zeitreihe bilden, wie etwa "gestern", "als ich dich traf" und "nächstes Jahr"? Das Grübeln über diese Frage führte McTaggart zu dem Schluss, Zeit überhaupt sei nur eine Illusion.

Der halbjährliche Mini-Jetlag

Es wäre schön, wenn sich dasselbe über die Zeitumstellung sagen ließe, über deren politische wie ökonomische Sinnlosigkeit sich seit Jahren irgendwie alle einig zu sein scheinen. Aber wir haben ja ohnehin längst erkannt, dass hier, wie Augustinus beklagte, einfach eine Begriffsverwirrung herrscht. Denn in Wirklichkeit wird gar nicht die Zeit umgestellt – sondern nur die Zeitrechnung.
Die Zeit macht nicht im März einen Sprung und dreht sich im Oktober einmal um sich selbst. Der Lauf der Gestirne, Tag und Nacht, die Stoffwechselprozesse in unseren Zellen, sie gehen unbeirrt weiter und damit auch unser Biorhythmus, der von den Ziffern auf unseren Uhren nichts weiß. Was uns Ende März und Ende Oktober jeweils einen nervtötenden Mini-Jetlag beschert, ist eine schlichte Uhrumstellung. Die sogenannte Zeitumstellung ist nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine metaphysische Absurdität.

David Lauer ist Philosoph und lehrt an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des Geistes und der Erkenntnistheorie. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

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