"Hitler hatte eine pervertierte Rationalität"
Im Januar erscheint die kommentierte Ausgabe von Hitlers "Mein Kampf". Verantwortlich für die Edition ist das Münchner Institut für Zeitgeschichte. Ein Gespräch mit dessen Direktor Andreas Wirsching über kritische Lektüre und Hitlers gefährliche Propaganda.
Hitler stehe für eine extreme Reduzierung der Komplexität der modernen Welt in ein Freund-Feind-Schema, sagte der Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, Andreas Wirsching, im Deutschlandradio Kultur. Das liege auch in der Gegenwart leider nicht fern. Dieser Mechanismus der extremen Reduktion der erfahrbaren Welt zu einer Freund-Feind-Dichotomie bestehe weiter und sei auch heute eine Gefahr, betonte der Mitautor der kommentierten Ausgabe, die Anfang Januar in Deutschland erscheint.
Rundumschlag gegenüber der erfahrbaren Welt
Wirsching sagte, die kommentierte Ausgabe sei wichtig, um Hitlers Propaganda, Halbwahrheiten und Lügen erkennen zu können. "Dafür braucht man eine kritische Anleitung", sagte er. Es gebe viele Anspielungen und Quellen, die sonst nicht ohne weiteres verständlich seien. Hitlers "Mein Kampf" sei ein "Rundumschlag gegenüber der erfahrbaren Welt", der auf ideologischen, völkischen Prämissen beruhe, sagte der Historiker. Man müsse sich damit auseinandersetzen, wie er alles mit Hass überziehe, um die Antriebskräfte und Aussagen kenntlich zu machen.
Verbrecherische Wirklichkeit nach 1933
"Insofern ist es ein Buch, dass man im Auge behalten muss", sagte Wirsching. Auch wenn die Lektüre zeitweise anstrenge, solle man die Dynamik dieses Textes nicht unterschätzen. "Hitler hat eine Art, wenn man so will, eine verbrecherische, pervertierte Rationalität, mit der er versucht, seine ideologischen Prämissen dann auch auf die Praxis anzuwenden." Vieles, von dem, was Hitler geschrieben habe, sei nach 1933 verbrecherische Wirklichkeit geworden. Es sei von entscheidender Bedeutung, diesen Zusammenhang zu erläutern.
Das Interview im Wortlaut
Liane von Billerbeck: Wenn ein Autor 70 Jahre tot ist, dann sind die Rechte an seinem Werk gemeinfrei. Das gilt auch für diesen, nur dass hier dennoch alles anders ist, denn der Autor heißt Adolf Hitler. Das Buch, um das es geht: "Mein Kampf". Die Rechte hat dann der Nachfolger des Verlages, in dem Hitlers Bücher erschienen sind, der Freistaat Bayern, doch auch bisher konnte man, obwohl Vertrieb und Verkauf des Originalbuches unter Strafe standen, "Mein Kampf" im Internet und auch in Antiquariaten auftreiben. Im Januar erscheint nun eine kommentierte Ausgabe des Buches, erarbeitet und herausgegeben vom Münchner Institut für Zeitgeschichte. Professor Andreas Wirsching ist Direktor des Instituts für Zeitgeschichte und jetzt am Telefon: Schönen guten Morgen!
Andreas Wirsching: Guten Morgen, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: "Mein Kampf" hat tausend Seiten etwa, die kommentierte Ausgabe ist doppelt so dick, Hitlers Text ist quasi von Ihren Fußnoten umzingelt. Braucht er das?
Wirsching: Er braucht das auf jeden Fall, weil Hitler so, wie er propagandistisch mit Halbwahrheiten, auch mit Lügen dieses Buch geschrieben hat, verstanden werden muss. Er muss verstanden werden, aber dafür braucht man eine gewissermaßen kritische Anleitung, weil ja vieles, vieles gar nicht so ohne Weiteres verständlich ist – viele Anspielungen, viele Quellen, aus denen er schöpft. Also diesen Kommentar braucht es schon, um das Buch angemessen zu verstehen.
von Billerbeck: Sie sagen Halbwahrheiten und Lügen, das ist ja das Wesen von Demagogie. Womit, mit welchen Themen und Fachgebieten, haben Sie und Ihre Historikerkollegen und -kolleginnen sich befassen müssen, um Hitlers Behauptungen zu widerlegen?
Wirsching: Hitler ist gewissermaßen … Hitlers "Mein Kampf" ist ein Rundumschlag gegenüber der erfahrbaren Welt, beruhend auf ideologischen Prämissen, auf rassen-antisemitischen, auf sozialdarwinistischen, auf völkischen Prämissen, also alles das, was wir natürlich auch im Grunde kennen, aber dann setzt er das natürlich ein in seine parlamentarische Umwelt, in die Umwelt der frühen Weimarer Republik, in der er praktisch alles mit einer Freund-Feind-Konstruktion belegt und entsprechend alles das, was ihn und seiner engeren Umwelt nicht passt, eben mit Hass überströmt und mit Hass überzieht. Und genau damit muss man sich auseinandersetzen, um die Antriebskräfte, auch die Aussagen, eben auch die vielen Anspielungen, die da in dem Werk sind, eben auch deutlich zu machen und kenntlich zu machen – nicht immer, um ihn einfach nur zu widerlegen, sondern auch zu zeigen, ihm gewissermaßen ins Wort zu fallen und zu zeigen, wo auch die Gefahr dieses Buches gelegen hat.
von Billerbeck: Geht denn von dem Buch heute überhaupt noch eine Gefahr aus?
Wirsching: Ja, das ist eine viel gestellte Frage, die man sicherlich auch …
von Billerbeck: Die muss man auch hier stellen natürlich.
Wirsching: Man muss die stellen, das ist ganz klar, die wird man nicht dezidiert beantworten können so richtig. Grundsätzlich ist es natürlich schon ein fremder Text. Es ist ein fremder Text, der erst mal auch wie gesagt erklärt werden muss. Andererseits, wofür Hitler natürlich steht, ist eine extreme Reduzierung der Komplexität der modernen Welt, eben in ein Freund-Feind-Schema, und das ist nun in der Tat etwas, was leider Gottes auch in der gegenwärtigen Zeit nicht so ganz fern liegt, sodass ich persönlich schon sagen würde, man kann es nicht ganz ausschließen, dass Hitler auch gewissermaßen zitiert wird. Nicht in dem Sinne, wir wollen jetzt alles machen wie Hitler oder der Nationalsozialismus – damit kann man keinen Blumenstrauß gewinnen politisch –, aber der Mechanismus der extremen Reduktion der erfahrbaren Welt zu einem Freund-Feind, die ist eine Freund-Feind-Dichotomie. Diese Gefahr, die besteht natürlich schon. Insofern ist es durchaus ein Buch, das man im Auge behalten muss, sagen wir mal so.
von Billerbeck: Trotzdem ist es ja so, wenn man den Text liest, der ist ja auch in weiten Strecken schlicht ätzend langweilig.
Wirsching: Das ist richtig. Es ist nicht so schlecht geschrieben, wie häufig gesagt wird – teilweise schon, es gibt auch viele Stilblüten und so weiter –, aber man muss natürlich sehen, alle diese völkische, rassistische, auch vulgär-darwinistische Literatur, die es da um die Jahrhundertwende bis in die 20er-Jahre gegeben hat, ist nicht so einfach zu lesen. Also Hitler bewegt sich da gewissermaßen in einem allgemeinen Feld einer Lektüre, die für uns heute primär mal relativ anstrengend ist. Aber man sollte, sagen wir mal, die Dynamik dieses Textes auch nicht unterschätzen. Hitler hat eine Art, wenn man so will, verbrecherisch pervertierte Rationalität, mit der er versucht, seine ideologischen Prämissen dann auch auf die Praxis anzuwenden. Zunächst bei "Mein Kampf" als Theorie, als theoretischen Entwurf, aber vielen von dem, was er dann da schreibt, wird nach 1933 auch gewissermaßen brutale Wirklichkeit, kriminelle, verbrecherische Wirklichkeit. Und diesen Zusammenhang herzustellen, zu erläutern, ist, glaube ich, schon von entscheidender Bedeutung.
von Billerbeck: Nun habe ich in der Anmoderation so einfach gesagt, das Institut für Zeitgeschichte gibt eine kommentierte Ausgabe von "Mein Kampf" heraus, klingt, als ob das nichts gewesen ist. Welche Probleme, welche Widerstände gab’s denn da?
Wirsching: Zunächst mal gibt es, wenn Sie so wollen, dieses magische Datum 01.01.2016, das natürlich entstanden ist dadurch, dass das Urheberrecht – Sie haben es in der Anmoderation gesagt – entsprechend verwendet worden ist, um Nachdrucke zu verhindern. Das ist im Prinzip ja auch völlig richtig, aber dieses "magische Datum", in Anführungszeichen, als solches entfaltet jetzt natürlich seine Wirklichkeit. Der Freistaat Bayern hat bekanntlich anfangs dieses Projekt noch mit einer Sonderförderung versehen, die dann praktisch ideell, auf der ideellen Ebene zurückgenommen worden ist, nicht auf der materiellen Ebene, insofern ist das Ganze jetzt nicht so problematisch gewesen. Die Widerstände sind eigentlich gar nicht so groß gewesen, muss ich ehrlich sagen. Wir haben insgesamt – von dieser Episode mit dem Freistaat Bayern mal abgesehen – eigentlich sehr viel Zuspruch erlebt und sehr viel Zuspruch erfahren. Es war sehr anstrengend, es war sehr, sehr anstrengend. Die Materie ist, wie Sie schon gesagt haben, spröde und auch nicht gerade nur sehr erfreulich, aber insgesamt, glaube ich, können wir ganz zufrieden jetzt auf die letzten drei Jahre zurückblicken.
von Billerbeck: Professor Andreas Wirsching war das, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte und einer der Mitautoren der im Januar erscheinenden kommentierten Ausgabe von Hitlers "Mein Kampf". Ich danke Ihnen!
Wirsching: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.