"Entnetzt euch!"
Der Mensch ist erschöpft, weil er ständig erreichbar sein und neue Kontakte sammeln muss, meint der Soziologe Urs Stäheli. Er wünscht sich "Inseln der Entnetzung", auf denen jeder bei Bedarf eine Pause einlegen kann. Und er gibt zu: "Ich bin auch noch nicht der große Entnetzungskünstler."
Ulrike Timm: Haben Sie sich heute schon vernetzt? Haben Sie heute schon genetzwerkt, Ihre Klicks bei Xing und LinkedIn hinterlassen und ihre unbekannten Netzbekannten mit anderen unbekannten Netzbekannten weiter vernetzt? Nicht? Na, dann sind Sie wohl kein moderner Mensch. Viele haben ihr Denken am Internet ausgerichtet oder auch weit darüber hinaus, denn sich vernetzen, das ist ein Zauberwort, eine Lebensweise, manchmal auch eine Sache des guten Images, beruflich und privat. Wer will schon rückständig sein und gänzlich ohne Freunde oder "Gefällt mir"-Klicks? Allerdings: Nach dem Hype ist jetzt doch mächtig Ernüchterung eingetreten, spätestens seitdem klar ist, dass die NSA potenziell alles mitlesen kann und irgendein Unbekannter 16 Millionen Mal die E-Mail-Adressen und die Passwörter räuberte.
Selbst ein Freak wie Sascha Lobo hat zerknirscht festgestellt, dass das Netz nicht das ist, wofür er es lange gehalten hat, nämlich kein perfektes Medium für Demokratie und Selbstbefreiung. Eine gehörige Portion Skepsis streut auch der Soziologe Urs Stäheli, und bevor er die auf einer großen Tagung in der Berliner Volksbühne am Wochenende los wird, lässt er sie bei uns. Guten Tag, Herr Stäheli!
Urs Stäheli: Guten Tag, Frau Timm!
Timm: Sie fordern das so schön: Wir sollen uns entnetzen – als Stoßseufzer der Verzweiflung?
Stäheli: Ich würde nicht sagen, Stoßseufzer der Verzweiflung, aber doch eine gewisse Skepsis gegenüber den Vernetzungsaufforderungen, mit denen wir ständig konfrontiert werden. Vernetzungsaufforderungen, die ja nicht nur die Beispiele, die Sie gerade genannt haben, also die Social Media betreffen, sondern in fast alle unsere Lebensbereiche vorgedrungen sind. Wenn wir in Unternehmen arbeiten, ist Vernetzung gewissermaßen eine große Pflicht, eine große Auf- und Anforderung an den Einzelnen, sich mit anderen zu vernetzen. Man sieht das ja auch an architektonischen Gestaltungen wie dem Open Office, das dafür gestaltet worden ist, dass man sich mühelos mit anderen kurzfristig vernetzt, in Teams zusammenarbeiten kann.
Und das ließe sich auf ganz viele andere gesellschaftliche Bereiche beziehen. Und was mir aufgefallen ist: Wie schwierig es eigentlich überhaupt noch ist, über etwas nachzudenken oder gar so zu handeln, dass man diesem Vernetzungsimperativ nicht gehorcht. Man sieht das auch schon an den Schwierigkeiten, überhaupt Worte für – Entnetzung ist ja kein schönes Wort –, überhaupt Worte dafür zu finden, wenn Sie Social-Media-Plattform anschauen, dann sind wir mit Ausdrücken wie Defriending, Delinking, Unfollowing konfrontiert, alles Ausdrücke, die gewissermaßen negative Varianten sind von dem, was eigentlich gefordert ist. Und ich möchte gewissermaßen auf die Probleme, die es durch diesen Entnetzungsimperativ gibt, antworten mit der Aufforderung, darüber nachzudenken: Wie kann man sich eigentlich überhaupt entnetzen? Warum könnte Entnetzung zunehmend wichtig werden? Und warum brauchen wir dann auch in der Theorie Begriffe dafür, um über Entnetzung nachdenken zu können?
Ständiges Vernetzen macht müde
Timm: Dann lassen Sie uns das mal tun. Also im Büro oder so sind wir doch alle ganz froh, wenn wir uns vernetzen, zumindest meistens. Ein Klick, und alle Kollegen, mit denen ich arbeiten muss, wissen Bescheid. Wo ist denn da die Übervernetzung, der es dringend zu begegnen gilt?
Stäheli: Die Probleme, die zunehmend dadurch auftauchen, sind auf der individuellen oder subjektiven Ebene - wir kennen das auch nicht zuletzt aus den Medien und vielen Diagnosen - eine Erschöpfung durch diese ständige Bereitschaft, durch die ständige Erreichbarkeit, eine Ermüdung gewissermaßen dadurch, dass wir immer offen für andere sein sollen, dass wir immer mehr Verbindungen knüpfen sollen. Manchmal wird das ja auch zum Selbstzweck. Wir haben in Unternehmen, aber auch in der Wissenschaft Vernetzungstreffen, die dann eigentlich fast nichts anderes tun, als das nächste Vernetzungstreffen zu planen und …
Timm: Wo man seine unbekannten Bekannten mit den anderen unbekannten Bekannten verknüpft.
Stäheli: Genau, ja.
Timm: Aber nun ist es ja so: Sich dem wieder zu entledigen ohne in so eine kleine "Splendid Isolation" abzurutschen, ist ja gar nicht so einfach heute.
Stäheli: Das ist überhaupt nicht einfach, und man sieht das ja auch daran, dass viele Figuren, die für Entnetzung stehen, eher nur Negativfiguren sind. Also wenn Sie etwa an die Figur des Introvertierten oder Schüchternen denken, der nicht in der Lage ist – oder so wird es ihm zugeschrieben –, der nicht in der Lage dazu ist, immer diesen Vernetzungsaufforderungen nachzukommen, dann sieht man, dass gewissermaßen diese Fähigkeit des Rückzugs, des Sich-Zurücknehmens für eine bestimmte Zeit sehr häufig sogar als eine Art Pathologie, als ein Problem gesehen wird.
Timm: Ist ja auch ein Problem. Wer sich heute privat trennen will, Herr Stäheli, nur ein Beispiel, der muss das ja auf allen Kanälen tun, sofern er vernetzt ist. Er muss sich entfreunden, er muss sich entfollowern, er muss Spuren mühsam verwischen. Aber ist das wirklich so prinzipiell anders, als wenn man früher zum Beispiel einen Briefkontakt schmerzlich abbrach, indem man jemanden ins Leere laufen ließ und nicht mehr antwortete? Vielleicht ist das Sich-Vernetzen und Sich-Entnetzen einfach eine Sache unserer Zeit, wie es früher die abgebrochenen Briefe waren.
Entnetzung fällt in den Social Media besonders auf
Stäheli: Ja, ich würde zunächst auch mal sagen, dass dieser Imperativ des Sich-Vernetzens nicht erst mit den Social Media aufgetaucht ist. Er wird dort besonders deutlich, weil wir gewissermaßen sogar benennen müssen, wenn wir entnetzen. Also wenn ich jemanden defriende, dann wird es als ein Akt sichtbar, dass ich diese Freundschaft aufkündige. Ich kann also weniger gut einfach nur den Brief ins Leere laufen lassen, sondern ich mache gewissermaßen meine Entnetzungsaktion selbst sichtbar und muss sie dann möglicherweise auch noch zusätzlich begründen.
Also mein Argument ist nicht, dass wir mit diesem Problem erst mit den Social Media konfrontiert sind. Das wird gesteigert, es wird sichtbarer, und die Vernetzung hat sich natürlich auf unzählige Kanäle gewissermaßen gleichzeitig verschoben, sodass diese Entnetzungswünsche viel schwieriger durchzuführen sind. Aber was mir auch wichtig ist: Wenn ich jetzt da vielleicht etwas, pathetisch von „Entnetzt euch!“ spreche, schwebt mir nicht vor, diese Splendid Isolation, die Sie vorhin genannt haben, also schwebt mir nicht vor, dass wir nun wieder gewissermaßen in ein Vor-Netzwerk-Zeitalter zurückkehren sollen, und das geht ja auch gar nicht und wäre sicherlich auch nicht eine besonders schöne Sache, sondern es geht mir darum, innerhalb von Netzwerken Inseln der Entnetzung, Verlangsamung zu denken, wo es gewissermaßen ein Pausieren, ein Pausieren von den Entnetzungsanforderungen geben kann.
Timm: "Entnetzt euch!", das fordert der Soziologe Urs Stäheli, und er erklärt uns, wie das geht und warum man das überlegen sollte. Herr Stäheli, ich bewerbe mich ja sofort um eine still entnetzte Insel. Aber kann ich die realistisch überhaupt anschwimmen? Ein Kollege meinte völlig berechtigt: Na ja, die Kühlschränke, die Stromzähler, die elektrischen Geräte – alles zunehmend vernetzt. Kann man sich da überhaupt wieder rausziehen? Geht das überhaupt?
Sicherheitstechnik durch zu starke Vernetzung gefährdet
Stäheli: Das vollständige Rausziehen, das ist, denke ich, das ist unmöglich, sondern es geht eben darum, gewissermaßen in der Entnetzung, was ich vorhin schon meinte, zu versuchen, Sphären oder Inseln zu schaffen, die mich für eine bestimmte Zeit lang gewissermaßen von diesem Druck entlasten, aber auch - und das ist eine zweite wichtige Dimension - das Problem der Übervernetzung spielt ja nicht nur auf der individuellen oder subjektiven Ebene, sondern auch auf der Ebene der Netzwerke selbst. Also gerade wenn Sie betonen, dass der Kühlschrank, dass viele Dinge im Sinne des Internets der Dinge miteinander vernetzt sind, ja, auch kritische Infrastrukturen wie Krankenhäuser beispielsweise sind ja zunehmend auch über das Internet vernetzt, und da kommt aus der Perspektive der Netzwerke, die ja zunächst einmal auch mit großer Euphorie auch als Sicherheitstechnik eingeführt worden sind, zunehmend der Ruf auf, dass diese Netzwerke gefährdet sind durch ihre Übervernetzung.
Timm: Herr Stäheli, bevor wir uns ver-, ent- oder zwischennetzen, wo haben Sie selber denn schon die Reißleine gezogen?
Stäheli: Ja, die Reißleine, das sind dann so kleinere Techniken, dass man sich mal eine Zeitinsel schafft, wo man unerreichbar ist, dass man sich gewissermaßen für eine bestimmte Zeit zurückzieht. Aber ich muss ganz ehrlich sagen: Ich bin auch noch nicht der große Entnetzungskünstler.
Timm: Das heißt, Sie haben den Slogan geschaffen, um sich selber ein bisschen mehr danach zu richten?
Stäheli: Ja. Ich denke, also was der Slogan ja auch zeigt, ist, wie schwierig, wie schwierig es eigentlich ist, Entnetzung vorzunehmen. Und ich möchte mit diesem Slogan, wenn Sie so wollen, darüber nachdenken, wie sieht die zeitliche Organisation, die räumliche Organisation von Entnetzung aus, dass wir auch wieder Räume – um auf das Open-Office-Beispiel zurückzukommen –, dass wir auch wieder uneinsehbare Räume, um sich zu verstecken, sich zurückzuziehen benötigen. Und das ist ganz interessant, dass neuere Büroarchitektur oder auch Kindergartenarchitektur weg kommt von dieser Idee des transparenten Raums, des panoptischen Raums, wo alle alle sehen können, wieder zu Raumorganisationen, wo es Verstecke …
Timm: Wo man die Tür zumachen kann…
Stäheli: … wo man die Tür zumachen kann, wo es wieder Verstecke gibt, wenn Sie so wollen.
Timm: "Entnetzt euch!" fordert der Soziologe Urs Stäheli. Am Wochenende vernetzt er sich trotzdem auf einer großen Tagung in Berlin, aber ganz real, gemeinsam mit Wissenschaftlern, Künstlern und Netzaktivisten, die in der Volksbühne diskutieren, garantiert nicht virtuell, sondern ganz in Echt. Schönen Dank, Herr Stäheli, und alles Gute!
Stäheli: Vielen Dank, Frau Timm!
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