Debattenkultur

Heldenerzählungen taugen nicht mehr

Mann in Anzug und Superhelden-Umhang und -Maske sitzt auf einem Gehsteig und schaut auf sein Smartphone.
Angesichts der Nachrichtenlage haben Superheros ausgedient: Geschichten von Gut und Böse liefern nicht ausreichend Erklärungen, meint die Autorin Anne Haeming. © imago images / Westend61 / Vitta Gallery
Ein Kommentar von Anne Haeming |
Wir leben in Zeiten vieler Krisen und viele sind miteinander verflochten. Einfache Erklärungen reichen nicht, andere Erzählmuster müssen her. Die Idee einer Science-Fiction-Autorin aus den 80ern liefert Lösungen, meint die Journalistin Anne Haeming.
Das “Sprechen über Krisen” zeigt es am deutlichsten: Es bildet die aktuelle Lage nicht ab, alles in zwei Spalten einzusortieren – gut und schlecht, Erfolge und Niederlagen, Heldinnen und Bösewichte.
Nun könnte man sagen: Klar, wir leben in komplexen Zeiten: Globalisierung, Baby! In der Tat war unsere Debatte schon einmal weiter: mehr differenzieren, Widersprüche aushalten, Diversität von Perspektiven feiern. Doch derzeit rutscht der öffentliche Diskurs hierzulande zurück in eine Dualität wie im Kalten Krieg: Komplexität wird nicht nur reduziert, sie wird oft eliminiert.
Da ist das 9-Euro-Ticket, das entweder als letzte Rettung gilt, um die Verkehrswende zu schaffen – oder als unfinanzierbares Beispiel raffgieriger Gratismentalität. Da war der Jahrestag des versuchten Attentats auf Hitler: Die einen feierten Stauffenberg als Helden des Widerstandes. Die anderen protestierten: Er sei doch selbst Faschist gewesen. Oder etwa die Zeitenwende, die Bundeskanzler Olaf Scholz Ende Februar ausrief – und die viele schon nach ein paar Wochen pauschal als gescheitert abhakten.

Schwarz-Weiß-Denken dominiert derzeit 

Das Dazwischen, es verschwindet, in Talkrunden, Politik-Statements, Nachrichten, Social Media: Die Schwarz-Weiß-Denke sticht heraus, wenn es um den Stand der Dinge geht. Das Publikum: in zwei Seiten gespalten.
Vielleicht sind immer noch Generationen vom Erzählmodus “Gut und Böse”, “Schwarz und Weiß” geprägt. Allein der jahrelange Schulunterricht. Egal, ob Dramenanalyse oder Romaninterpretation: Die Schaubilder an der Tafel, sie zeigen Held, Rivalin, Schurke. Einstieg, Hauptteil, Klimax, Wende, Schluss. Das gleiche in Kino-Blockbustern und Serien, staffelweise: Heldin, Rivale, Schurkin. Einstieg, Hauptteil, Happy End.
Moment mal, sagen jetzt vielleicht einige: Die Superhero-Filme und TV-Krimis feiern doch längst Figuren, die Gefühle haben, gebrochen sind. Ja, schon, dennoch: Storys ohne Gut-Böse-Duo bleiben rar, Storys, die am Schluss moralische Knoten übrig lassen.

Es braucht die passende Kommunikation

Aber mit dieser Welthaltung, die noch bis zum Ende des Kalten Krieges alles so schön übersichtlich sortierte, kommen wir heute nicht weiter – dass es anders geht, macht Wirtschaftsminister Robert Habeck vor, mit seiner Art, über die Lage der Dinge zu sprechen. Er sagt: Das sind die Rahmenbedingungen. Wir versuchen, die Guten zu sein, aber es ist kompliziert. Kurz: Um über unseren komplexen Alltag zu denken und zu sprechen, braucht es die passende Methode.
Ausgerechnet eine Science-Fiction-Autorin hat eine entworfen: die US-Amerikanerin Ursula K. Le Guin. Sie schrieb auch Essays, in denen sie überlegt, wie wir uns erzählen, was wir uns erzählen. Kern ihres Vorschlags: Wir sollten Geschichten sehen wie Behälter. Der Text erschien 1986, gegen Ende des Kalten Krieges. Originaltitel: “The Carrier Bag Theory of Fiction”.
Mit der “Carrier Bag” meint sie dieses alltagspraktische Utensil: Tüte, Tasche, Tragebeutel. Die Figuren, die Werkzeuge, die Wichtigkeiten, alles rumpelt darin durcheinander. Permanent entstehen neue Beziehungen, nirgends lupenreine Heldinnen und Schurken, keine reinen Erfolge und Niederlagen.

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Unser Alltag ist zwar kein Roman, die Erzähl-Strategien sind trotzdem dieselben. Werfen wir also ein Thema immer in seine eigene Tragetasche: das 9-Euro-Ticket, Stauffenberg, Zeitenwende, die derzeitigen Krisen noch dazu. Und siehe da, Ereignisse und die handelnden Personen sind nicht nur gut oder schlecht, natürlich nicht.
Ja, das ist eine Binse, aber das scheinen viele vergessen zu haben. Bevor uns also der Schema-F-Reflex überkommt: Erstmal alles in die Tasche – und dann sehen, was da wie aneinander rumpelt und wie es sich dadurch verändert. Oder wie Ursula K. Le Guin sagt: “Es gibt noch Platz im Beutel.”

Anne Haeming ist Autorin und lebt in Berlin. Sie arbeitet seit 20 Jahren als Kultur- und Medienjournalistin, befasst sich viel mit Ost-West-Perspektiven und sattelt um auf Provenienzforschung. Derzeit arbeitet sie am Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln und forscht über den Sammlungsbegründer Wilhelm Joest.

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