Aufgewachsen im Gulag – Erinnerungen, die nicht vergehen
Erst mit 46 Jahren erfuhr Simon Mirakaj zum ersten Mal, wie sich Freiheit anfühlt. Damit war er nicht allein, denn der Steinzeit-Kommunismus in Albanien ging selbst mit den jüngsten seiner Gegner hart um. Noch heute trauern sie den verlorenen Jahren ihres Lebens nach.
Luschnja kennt in Albanien jeder, obwohl man in Luschnja nicht gewesen sein muss. Ein kleiner unauffälliger Ort, eine knappe Autostunde von Tirana entfernt, für Adria-Touristen kein Ziel. Luschje ist berühmt-berüchtigt. Denn Luschnja war umgeben von Straflagern.
"Wir wurden nach Sabre gebracht, vier Kilometer von Luschnja entfert."
Sagt Simon Mirakaj, der 1944 als Säugling, keine zwei Wochen alt, in das erste Straflager kam.
"Aber es gab um Luschnja herum noch viele andere Lager: Lugo 3km entfernt, Dschasa 15 km, Ramsa 10 km, Tscherma 15 km, dann ab 1957 eins in Gradisch und 1960 Grabian, Kosova bei Luschnja sowie Dragott zwischen Luschnja und Erbasan. Das Land rund um Luschnja war ein großes Feuchtgebiet. Und wer hätte den Sumpf besser und billiger trockenlegen können als die Gefangenen?"
Simon Mirakajs Vergehen bestand darin, die falschen Eltern zu haben. Einen Vater, der gegen den Diktator Enver Hoxha kämpfte, der in Albanien das errichtete, was man den Steinzeit-Kommunismus nannte, mit Gulags vom ersten bis zum letzten Tag der Diktatur, bis 1991. Simon Mirakaj erfuhr erst mit 46 Jahren, wie sich Freiheit anfühlt.
Sofokli Kuqeci war älter als Simon Mirakaj, aber auch noch ein Kind, acht Jahre alt, als seine Mutter zusammen mit seinen fünf Brüdern und drei Schwestern in Sabre bei Luschnja interniert wurde. Der heute 60-Jährige wartet am Dorfplatz von Sabre an einem auffällig neuen Denkmal. Die stilisierte Figur fällt ins Auge in dem verwahrlosten Ort. Sofokli Kuqeci tippt mit dem Zeigefinger auf die Namensliste am Stein. Sein Blick verrät Verachtung.
"Das Denkmal wurde weder feierlich eingeweiht, noch weiß man, wer es entworfen hat. Selbst die Namen der Opfer darauf stimmen nicht, denn dieser Professor hier war gar kein Opfer. Sie wollten wohl einfach nur zeigen, dass sie etwas tun."
"Hier lebten die Verurteilten und dort die, die frei waren"
Das Dorf wirkt wie ausgestorben, keine der Nebenstraßen ist asphaltiert, bei Regen versinkt alles im Schlamm. Sofokli Kuqeci stoppt an einer kleinen Kreuzung.
Hier war die Grenze, erklärt er. In jede Richtung führen Wege, die gesäumt sind von blickdichten Zäunen, überall Wände aus Brettern. Dahinter lugen die Dächer ärmlicher Einfamilienhäuser hervor.
"Hier lebten wir, die verurteilten Familien, und dort jenseits der Straße die, die frei waren. Die erwachsenen Gefangenen hatten sich morgens und abends bei der Polizei zu melden. Wenn hoher Besuch in der Gegend erwartet wurde, mussten sie sich auch mittags bei der Polizei zeigen."
"Jetzt gehen wir zu dem Haus, das sie uns zugewiesen haben."
Sofokli Kuqeci öffnet vorsichtig das Tor, das fast aus den Angeln fällt. Wir waten durch hüfthoch stehendes Unkraut im Garten auf eine Ruine zu. Zwei Räume zu ebener Erde, ohne Küche und ohne Bad waren Heim für neun Personen, dreißig Jahre lang. Dem Asbest-Dach auf der halbverfallenen Hütte haben Wind und Zeit ordentlich zugesetzt.
Sofokli Kuqecis trauert den verlorenen Jahren seiner Jugend noch heute nach, mehr als 25 Jahre nach der Freilassung.
"Ich fühlte mich schrecklich als Teenager. In meinen besten Jahren konnte ich nicht meinen Interessen nachgehen, keine Freundin haben. Wenn es Veranstaltungen im Ort gab, hieß es: aber nicht für die politischen Gefangenen."
"Gebt uns zurück, was wir gebaut haben"
In dem kleinen Balkanland entfaltete sich ab 1944 unter dem Führer Enver Hoxha eine Diktatur, die für ein Drittel der Bevölkerung ein Leben hinter Stacheldraht und in Zwangsarbeit bedeutete. Nebil Cika, der einen von mehreren Verbänden für die ehemaligen politischen Häftlinge führt, erklärt das Ausmaß der Ausbeutung dieser Gefangenen.
"Das war unbezahlte Arbeit, sie waren Sklaven. Albanien zehrt noch heute von den Bauten, die die politischen Gefangenen errichtet haben. Unseren einzigen zivilen Flughafen zum Beispiel. Den Militärflughafen von Kuçova. Die Kupferminen in Spaç. Die Sumpfgebiete von Maliq bei Korça und Myzeqeja, die die Gefangenen mit den bloßen Händen trockenlegen mussten, sind Massengräber, mit hunderten Toten. Viele Wohnböcke in Tirana und anderen Städten haben Gefangene gebaut. Es wird bis heute über Kompensation gestritten. Ich sage dann nur: Gebt uns zurück, was wir gebaut haben, eine andere Kompensation brauchen wir nicht."
Die Gefangenen in den Lagern wurden stundenlang mit kommunistischer Propaganda beschallt, mit endlosen Ansprachen von Hoxha oder anderen Funktionären der sozialistischen Volksrepublik. Für die gebildeten oppositionellen Gefangenen eine Folter. Das Lager Tepelena zu überleben, schafften sehr viele nicht, erzählt Simon Mirakajas.
"Der Hof des Militärgeländes, auf dem sich das Lager Tepelena befand, war noch von dem griechisch-albanischen Krieg 1941 vermint. Einige Minen explodierten und wir sahen, wie die Körperteile umherflogen. Viele Kinder starben, aber auch alte Menschen, wegen der hochgehenden Granaten, vor allem aber an Unterernährung. Es gab nur zwei Mal am Tag Essen, meist eine Wassersuppe, die manchmal voller Würmer war."
Ohne die Dorfbewohner, die den Gefangenen nachts Lebensmittel brachten, wäre die Familie von Simon Mirakaj auf jeder ihrer zahlreichen Haftstationen gestorben. In Berat, eine Stadt, die heute Weltkulturerbe ist, in Tepelena und in den Lagern bei Luschnja. Vor allem aber hielt die Solidarität untereinander die meisten am Leben.
"Die Älteren vermittelten uns die Liebe zur Musik und Literatur"
"Im Lager Sabre hatten wir viele Mitgefangene, Intellektuelle, die vor dem Krieg im Ausland studiert hatten. Sie vermittelten uns die Liebe zur Musik und Literatur. Das italienische Musikfestival in Sanremo war für uns der Höhepunkt. Wir lauschten heimlich im Radio, welche Teilnehmer dort sangen. Wir hörten auch die Nachrichten auf Italienisch und wussten deshalb, was in der Welt vor sich ging. Einer musste immer draußen Wache halten. Wir waren in keinem Moment, keiner Minute in Freiheit. Wir standen unter lückenloser Kontrolle der Polizei. Die älteren hochgebildeten Mitgefangenen um uns herum haben uns solche Kraft gegeben! Und wahrscheinlich haben wir mit unserer Jugend ihnen wiederum geholfen durchzuhalten."
Von 1944 bis 1990 dauerte die Herrschaft der Kommunisten in Albanien. Nach kurzen Phasen der Zusammenarbeit mit Jugoslawien, der Sowjetunion und später China hatte das Regime ab 1976 jegliche Verbindung zur Außenwelt abgebrochen und schottete sich völlig ab. Albanien war isoliert wie heute Nordkorea. Nebil Cika vom Opferverband für ehemalige politische Häftlingen beklagt, dass es bis heute in Albanien keine gültige Bestandsaufnahme der Opfer der Hoxha-Diktatur gibt.
"Der albanische Staat erkennt rund 7.860 Opfer an. Aber darin sind nicht die Personen enthalten, die ohne Prozess ermordet wurden, die im Widerstandskampf gegen das Regime während der 1960er Jahre umgebracht wurden, in den Bergen, an den Grenzen. Deswegen ist es realistischer, von 10.000 Toten zu sprechen. Und das bei einer Bevölkerungszahl damals von rund einer Million Albanern. Man kann also von einem regelrechten Massaker sprechen, wenn man sich anschaut, wie hoch der Prozentsatz war. Der größte Schaden wurde in der Elite angerichtet. In den 1950er Jahren wurden Politiker, Geschäftsleute, Journalisten, Schriftsteller, Lehrer, Ingenieure umgebracht. Die Auslöschung der Elite war ein ungeheures Verbrechen."
Die Paranoia vor Feinden aus dem Ausland, die Armut und der Terror gegen die eigene Bevölkerung waren Konstanten in der Diktatur.
Die Lieder der albanischen Sängerin Alida Hisku, die ebenfalls ins Gefängnis geworfen und dort schwer gefoltert wurde, wecken bei Simon Mirakaj Erinnerungen an eine Zeit, die er vergessen möchte, aber nicht kann. Der schmale Mann blickt zur Seite, als sich die Augen mit Tränen füllen.
"Von 1973 bis 1981 war es am schlimmsten, immerzu wurde jemand abgeholt. Wenn wir morgens zur Arbeit gingen, verabschiedeten wir uns mit Umarmungen und Küssen, falls wir uns zum letzten Mal sahen."
"Ich werde niemals ihr Spion werden"
Ein 76 Jahre alter Mitgefangener, ein Priester, wurde vom Lager ins Gefängnis gesteckt - für 15 Jahre. Selbst der Sohn des Lagerkommandeurs wurde verhaftet. Simon Mirakaj, noch heute ein drahtiger Mann, fiel als Jugendlicher auf wegen seines Fußball-Talents und seiner Intelligenz. Auch der Staatssicherheit Sigurimi, die ihn als Spitzel anwarb, mit Zureden, mit Gewalt. Jedoch vergeblich:
"Ich sagte ihnen, sie können mit mir machen, was sie wollen, ich werde niemals ihr Spion sein. Ich spürte, wie ich plötzlich immer stärker wurde, wie ich begann, sie anzusehen als wären sie Fliegen. Ich wurde immer lauter, der Sigurimi-Mann brüllte zurück. Als er mich als Sohn eines Kriminellen bezeichnete, sagte ich ihm, dass ich so unschuldig sei wie sein Sohn, der gerade draußen spielt und nicht ahnt, was sein Vater gerade tut."
Die Erwähnung des Sohnes zeigte Wirkung, der Geheimdienstvertreter ließ ihn gehen. Simon Mirakaj, der sich nichts zuschulden kommen lassen hat, der aber der Sohn eines Regimegegners war, wurde weitere 20 Jahre im Internierungslager festgehalten. 1990, nach dem Sturz des kommunistischen Regimes, öffneten sich für ihn erstmals die Tore in die Freiheit, seit seiner Inhaftierung als Säugling waren 46 Jahre vergangen.
"Das, was war, ist vorbei. Ich versuche, nicht mehr daran zu denken. Mein Sohn ist jetzt 21 Jahre alt, ich habe ihm bis jetzt noch nichts von früher erzählt. Ich warte noch etwas, bevor ich ihm die wahre Geschichte von mir und seinem Großvater erzähle. Einige seiner Freunde sind Töchter und Söhne von kommunistischen Kadern, die Teil des Regimes von früher waren. Ich möchte nicht, dass er deswegen in Konflikte gerät."
Mit fast 50 Jahren hatte sich der heute 73-Jährige seinen Jugendtraum erfüllt: Jura zu studieren. Danach trat er eine Stelle ausgerechnet im Innenministerium an, das noch wenige Jahre zuvor die Repressalien gegen Regime-Gegner vollstreckte. Als ehemaliger Häftling wollte er so wenig wie möglich mit Menschen zu tun haben, sondern nur noch mit Papier, mit Akten. Vor kurzem willigte er ein, als Vertreter der Opfer im Beirat der neuen Sigurimi-Unterlagen-Behörde mitzuarbeiten. Sie wurde erst Ende vorigen Jahres gegründet.
"Jetzt habe ich nur noch Angst um meinen Sohn"
Für Sofokli Kuqeci, der zwar nicht 46, aber immerhin 30 Jahre seines Lebens in der Verbannung verbringen musste, hat das neue Sigurimi-Archiv keine große Bedeutung. Wichtiger ist Kommunismus-Opfern wie ihm die Entschädigungszahlung. Weil Simon Mirakajs Schicksal als eines der schwersten anerkannt wurde, hat er seine Kompensationszahlung bereits bekommen.
"Für die 44 Jahre Lagerhaft bekam ich 20 Millionen Leke."
Das sind fast 17.000 Euro. Auf den ersten Blick viel, denn der Durchschnittsverdienst liegt bei 250 – 350 Euro. 46 Jahre unschuldige Haft wiegt der Betrag allerdings auch im armen Albanien kaum auf, doch er beklagt sich nicht.
"Jetzt habe ich nur noch Angst um meinen Sohn. Albanien ist so instabil. Mit jedem Regierungswechsel ändert sich das ganze Machtgefüge bis ins kleinste Glied. Diese Unsicherheit heutzutage mag ich nicht. Wie wird mein Sohn das verkraften? Er ist nicht so stark wie ich. Er ist nicht Simon."
Obwohl deutlich jünger ist Sofokli Kuqeci weit pessimistischer. Er wurde Unternehmer, lebte einige Jahre im benachbarten Griechenland, kam aber wieder zurück, um die inzwischen 103 Jahre alte Mutter zu pflegen. So ist er noch immer an den Ort seiner Verbannung gefesselt. Sein Fazit der bisherigen Jahre in Freiheit:
"Enttäuschung, nichts als Enttäuschung, weil der Staat in den vergangenen 27 Jahren nichts getan hat, um dieses Kapitel unserer Geschichte zu beleuchten. Anfang der 1990er Jahre gab es noch einige von uns im Parlament, aber jetzt ist von uns nicht mehr die Rede."