Komponieren im und mit dem Internet

Vernetzt

28:40 Minuten
Frauenhände dirigieren vor dunklem Hintergrund. Im Vordergrund erschient eine goldene Notenzeile mit Notenschlüssel und einigen Noten.
Digitales Komponieren: gemeinsam und papierlos . © IMAGO / agefotostock
Von Leonie Reineke |
Komponieren bedeutet heutzutage längst nicht mehr, sich mit Notenpapier und Bleistift zu beschäftigen. Im Gegenteil: Immer mehr Musik entsteht auf der Basis von Interaktion, von digitaler Vernetzung.
Immer mehr Musik entsteht auf der Basis von Interaktion, von digitaler Vernetzung. Das Internet greift nicht nur massiv in unsere Alltagsgestaltung ein, es verändert auch die Vorstellungen davon, was Musikschöpfen und Musikmachen heißen kann: Weltweite Klangarchive und Apps zum Musizieren werden entwickelt, es entstehen neue Gattungen wie die "Blogpera", oder es wird in Gruppen von mehreren zehntausend Menschen komponiert.

"Crowd-Sound"

Was wie der vielleicht einfallsloseste Song aller Zeiten klingt, ist das Ergebnis einer Arbeit von über 46.000 Menschen. "Crowd-Sound" heißt das Online-Projekt des Programmierers Brendon Ferris, bei dem jeder Internetnutzer abstimmen darf, aus welchen Tönen sich ein Musikstück zusammensetzt.
Was zunächst faszinierend klingt, entpuppt sich als Enttäuschung: Sowohl Akkordfolge als auch Tonvorrat sind vorgegeben; zu entscheiden bleibt für den User also kaum etwas. So eng wie das Korsett ist, in das die Kreativität hier gezwängt wird, so vorhersehbar klingt auch das Ergebnis. Mit Fantasie und Kunst hat "Crowd-Sound" genau genommen nichts mehr zu tun.

Eine App für klingende Stille

Dass aber nicht jedes Musikprojekt automatisch uninspiriert ist, sobald es für die Netz-Community geschaffen wurde, stellt eine Smartphone-App unter Beweis, die auf das Stück 4’33" von John Cage rekurriert: Das Konzept der 1952 entstandenen Komposition besteht darin, dass der Instrumentalist bei der Aufführung zwar anwesend ist, aber keinen einzigen Ton spielt.
Die Zuhörer sind damit gezwungen, Stille und Umgebungsklänge aktiv wahrzunehmen. 4’33" klingt also je nach Aufführungsort unterschiedlich.
Der amerikanische Komponist und Schriftsteller John Cage am 29. April 1982 in den Stuhlreihen des Frankfurter Theaters am Turm. 
John Cage sprengte die Grenzen der Musik auf seine ganz eigene avantgardistische Art und Weise.© picture-alliance / dpa | Jörg Schmitt
An diesen Gedanken knüpft auch die 4’33"-App an: Mit einer an die dreisätzige Komposition angepassten Aufnahmemaske kann der Internetnutzer mit dem Handy seine akustische Umgebung aufzeichnen und anschließend in 4 Minuten und 33 Sekunden abspielen.
Diese Tonaufnahme wird in einer digitalen Weltkarte am entsprechenden Ort gespeichert und kann von anderen Nutzern angehört werden. So lässt sich John Cages Komposition überall auf der Welt aufführen.

So langsam wie möglich in Halberstadt

Ob eine Tonaufnahme im öffentlichen Raum allerdings mit der Spannung eines stillen Konzertsaals mithalten kann, ist fraglich. Dennoch lädt die App zum Kreativsein ein. Beispielsweise hat ein Internetnutzer 4’33" mit einer anderen Komposition von John Cage fusioniert: dem Orgelstück "as slow as possible".
Auf der St. Buchardi-Orgel in Halberstadt wird dieses wahrscheinlich langsamste Stück der Welt seit 2001 aufgeführt. Dabei bleibt ein Akkord oft mehrere Monate liegen.
Die Partitur des Musikstücks «ORGAN2/ASLSP» von John Cage liegt auf einem Notenständer im Inneren der Burchardi-Kirche, unweit der Orgel, die 639 Jahre klingen soll.
«ORGAN2/ASLSP» von John Cage klingt in Halberstadt schon seit 2001.© picture alliance / dpa-Zentralbild | Matthias Bein
Mit der 4’33"-App hat der Internetnutzer davon einen Mitschnitt gemacht. So wird das eine Stück innerhalb des anderen aufgeführt.
Wird hier die Idee, wirklich auf die Stille zu hören, nicht eigentlich konterkariert? Letztlich wird die 4’33"-App John Cages Komposition nicht gerecht. Vielmehr funktioniert sie als Sammelinstrument für Field Recordings.

Akustische Topographie

Ein solches Werkzeug wurde allerdings schon Ende der 1990er Jahre entwickelt: Unter dem Namen "radio aporée" entwarf der Elektroniker Udo Noll eine Online-Plattform für die Untersuchung akustischer Topographien. Ähnlich wie bei der 4’33"-App können hier interessierte Nutzer Aufnahmen von öffentlichen Orten in einer Landkarte hochladen, so dass ein weltweites Klangarchiv entsteht.
"radio aporée" soll die Internetnutzer einladen, sich zu vernetzen und sich über Klanglandschaften oder Aufnahmetechniken auszutauschen. Jeden Tag kommen neue Aufnahmen hinzu. So können auch ortsbezogene Klänge, die zum Beispiel durch Baumaßnahmen verschwinden, konserviert werden. So können Künstler auf eine Fülle an Materialien zurückgreifen, um zum Beispiel Klangskulpturen oder GPS-basierte Klangspaziergänge zu verwirklichen.

Musiktheater oder Blog? Beides!

Die Idee, dass Komposition heutzutage nicht mehr nur auf einer Bühne, sondern auch im Internet stattfinden kann, teilt auch das belgisch-französisch-niederländische "Jens Maurits Orchestra": Das junge Musiktheaterkollektiv hat 2015 die Gattung der "Blogpera" erfunden – ein Hybrid aus "Opera", also Musiktheater, und Internetblog.
Bei jungen Künstlern werden kaleidoskopartige Formen wie die "Blogpera" immer beliebter. Das Internet ist dabei Materiallieferant und Inspirationsquelle; auch für den 1987 geborenen Komponisten Neo Hülcker (früher Neele Hülcker). Basierend auf einem Online-Video-Hype der letzten Jahre gestaltet er sogenannte "ASMR-Performances".

Packe etwas vor deiner Kamera aus

Neo Hülcker: "ASMR steht für "autonomous sensory meridian response" und ist ein Wahrnehmungsphänomen, bei dem die Leute beschreiben, dass sie so ein angenehmes Kribbeln im Kopf und den Rücken runter bekommen. Und zwar gibt es da mittlerweile über 1,5 Millionen Videos auf youtube, in denen Leute meistens Objekte betatschen, anfassen, nach ihren Klängen untersuchen, das Ganze ganz nah mikrofoniert aufnehmen, dazu so flüstern und irgendwie so einer sehr intime, heimelige Atmosphäre schaffen, also dieses sich-direkt-dem-Betrachter-Zuwenden, dem das Objekt zeigen und so dieses Anfassen ganz langsam und lustvoll irgendwie machen.
Aber es gibt auch unterschiedliche Videos, wo Leute essen und die Essgeräusche ganz stark verstärkt aufnehmen. Es gibt ganz viele Rollenspiele, so Arztrollenspiele zum Beispiel, wo man dann in dem Video das Gefühl hat, sie untersuchen einen selber, und sie z.B. deine Ohren untersuchen, oder deine Haare bürsten. Meistens sind es immer Situationen, wo so Service angeboten wird, also, wo klar wird: Hier ist eine Person, die kümmert sich um dich."
Die ASMR-Clips wirken wie eine bizarre Mischung aus inszenierter Intimität, freizeitlichem Wohlfühl-Programm und experimenteller Klangforschungsarbeit. Neo Hülcker erkennt darin eine ästhetische Qualität: "Ich fand es total interessant, dass es da unglaublich viele Menschen gibt auf der ganzen Welt, die zum Teil extrem kreativ damit umgehen, die Objekte, Alltagsobjekte auf ihre Klänge hin untersuchen und da auch forschen, ins Detail gehen, da sehr genau sind, und teilweise auch künstlerisch total spannende Sachen machen."
In seinem Stück "happy accidents" verarbeitet Neo Hülcker das Internet-Phänomen "ASMR" – eine Art virtuelles Geräusch-Wellness-Angebot. Eine ähnlich absurde Praxis, die Hülcker ebenso auf Grundlage eines Online-Hypes entwickelt hat, ist das sogenannte "camera boxing".

Packe deine Kamera in etwas ein

Neo Hülcker: "'Camera boxing' ist ein Phänomen, das Tomomi Adachi und ich uns gemeinsam ausgedacht haben. Und zwar besteht das aus einer Aufforderung, seine Kamera zu verpacken. Man kann dafür alle möglichen Materialien nehmen, die man möchte.
Also man macht die Kamera an, stellt auf 'record' und umwickelt die Kamera z.B. mit Stoffen oder so, immer weiter, immer mehr, bis irgendwann komplett alles schwarz geworden ist, also bis die Kamera nur noch schwarz abbildet. Und ganz oft ist es so, dass der Ton sich dadurch verändert, weil man ja immer weiter mehr die Kamera einpackt und alles immer diffuser, immer dunkler, immer leiser und gedämpfter wird, je nach Material natürlich auch."
Hier greift Neo Hülcker nicht nur eine Internet-Erscheinung auf, sondern er hebelt die Ursprungsidee aus; er deutet das Phänomen künstlerisch um: Denn während "unboxing" eine Form des gelebten Warenfetischismus ist und damit ein typisches Symptom des Kapitalismus, scheint beim "camera boxing" eher die Materialstudie im Vordergrund zu stehen.
Die Grenzen zwischen Alltagskultur und Kunstproduktion verschwimmen im Internet. Die Bühne ist eine virtuelle. Jeder kann dabei sein, jeder kann mitgestalten.
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