Von da, wo man allein ist
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Jährlich werden Komponisten in italienische Kulturresidenzen eingeladen: die Stipendien befreien von finanziellen Sorgen in der „Abgeschiedenheit“. Wie wirken sich solche Aufenthalte auf die Musik von Künstlerinnen aus, die sonst im urbanen Raum arbeiten?
Es ist Anfang August 2020, als die kroatische Komponistin Sara Glojnarić die Reise nach Positano an der italienischen Amalfi-Küste antritt; von Stuttgart aus, wo sie seit mehreren Jahren lebt. Vier Wochen wird ihr Aufenthalt dort dauern, denn solange wird ihr ein Arbeitsstipendium gewährt.
Sara Glojnarić war 2020 glückliche Gewinnerin des Progetto Positano, eines Stipendiums, das die Ernst von Siemens Musikstiftung gemeinsam mit der Wilhelm-Kempff-Kulturstiftung und dem Berliner ensemble mosaik seit 2017 jährlich an zwei Komponistinnen oder Komponisten vergibt. Positano, das ist ein beliebtes Urlaubsdomizil, in normalen Zeiten touristisch überlaufen, wunderschön, aber hektisch.
Komponieren auf der Terrasse von Wilhelm Kempff
Wo andere Urlaub machen, soll Sara Glojnarić arbeiten, an ihrer Musiksprache feilen, neue Stücke komponieren. Später wird es ein Porträtkonzert mit dem Ensemble Mosaik geben. Residieren darf sie in der Casa Orfeo der Wilhelm-Kempff-Kulturstiftung.
In diesem Anwesen hatte der Pianist Wilhelm Kempff seit dem Ende der 1950er-Jahre seine Beethoven-Meisterkurse gegeben, die er bis 1982 fortführte. Regelmäßig finden auch heute noch dort Veranstaltungen, Konzerte und Akademien statt.
Neue Musik in historischer Atmosphäre
Wie wird sich diese Umgebung auf die künstlerischen Prozesse auswirken? Denn die Komponistin arbeitet mit Klangmaterialien aus Hoch- und Popkultur gleichermaßen, setzt verstärkt Neue Medien und Elektronik ein und verwendet das Klavier oftmals in präparierter Form. Wird sie in der dörflichen Umgebung, wo sonst die zeitgenössische Musik nur wenig Raum hat, Inspiration finden?
Mittendrin und dennoch eine Insel - die Villa Massimo
In Rom ist das anders: In der Villa Massimo der Deutschen Akademie Rom vergibt die Beauftragte der Bundesregierung für Kunst und Kultur einmal im Jahr prestigeträchtige Jahres-Stipendien für "außergewöhnlich qualifizierte" und "hochbegabte" Künstlerinnen und Künstler aus den Bereichen Architektur, Literatur, Bildende Kunst und Musik.
Wer für die "bedeutendste Auszeichnung für deutsche Künstlerinnen und Künstler im Ausland" ausgewählt wird, darf über einen gewissen Zeitraum in einer der italienischen Residenzen der Deutschen Akademie Rom verweilen, zu denen neben der großen Villa Massimo auch die nahegelegene Casa Baldi gehört.
Endlich allein oder echt einsam?
Der Stipendienaufenthalt "darf nicht durch Besucher beeinträchtigt werden", steht in der Hausordnung der Deutschen Akademie Rom. Doch hier sind die Künstlerinnen und Künstler von anderen Künstlern sowie vom Geist manch prominenter Alumni umgeben. Und sie werden mit Akteuren und Institutionen des römischen und italienischen Kulturlebens vernetzt.
Die Rompreisträger leben und arbeiten in großzügigen Wohn- und Atelierräumen und dies in idyllischer Stille und, wie es heißt, in "Abgeschiedenheit". Das klingt nach idealen Voraussetzungen, um mehrere Monate in Kreativklausur zu gehen. Zugleich stellt sich aber die Frage, wie zeitgemäß diese Idee von einem Komponierhäuschen heute noch ist: Können heutige Komponistengenerationen sich von solch kontemplativen und romantisierten Orten zu aktueller und innovativer Musik inspirieren lassen?
Akustisches Porträt eines Bergdorfes
Jacopo Salvatori, 1986 in Florenz geboren, studierte Klavier und Komposition in Cremona, Ferrara und München, heute lebt er in Berlin. Im März 2020 bezog Jacopo Salvatori als einer der Rompreisträger die Casa Baldi, den kleinen Ableger der Villa Massimo im Bergstädtchen Olevano Romano, etwa 70 Kilometer von Rom entfernt.
Die Casa Baldi bietet Platz für zwei Personen, die sich in dem ausladenden Garten begegnen oder aber sich in ihre jeweiligen Apartments und Studios zurückziehen können, die minimalistisch-modern ausgestattet sind.
Die Casa Baldi stellt sich für den Stipendiaten Jacopo Salvatori als besonders inspirierend heraus. Seine interdisziplinäre Abschlussarbeit ist als eine Art akustisches Porträt dieser Umgebung zu verstehen.
Die Abgeschiedenheit des Künstlerhauses ermöglichte dem Komponisten Jacopo Salvatori etwas, was ihm in Berlin oder anderen Großstädten nur bedingt möglich ist: mit der Natur in einen Dialog zu treten, genau genommen mit einer bestimmten Vogelart.
Im Dialog mit der Meise
Denn seit mehreren Jahren interessiert sich der Komponist für die Zusammenhänge von Musik und Sprache, besonders im Hinblick auf diejenigen Tierarten, die ornithologischer Forschung zufolge komplexe Sprach- und Kommunikationssysteme aufweisen, wie etwa die japanische Meise. Deren Sprachsystem studiert und analysiert Jacopo Salvatori, um die Strukturen auf ganz unterschiedliche Weise in Musik zu übersetzen.
Komponieren ist Arbeit
Sara Glojnarić und Jacopo Salvatori blicken differenziert zurück auf ihren Stipendienaufenthalt in Italien. Beide sind 2020 der Einladung prestigeträchtiger Förderprogramme gefolgt und haben sich, unterschiedlich lang, in italienischen Künstlerresidenzen aufgehalten, zurückgezogen vom Alltag. Während sie von schönen Begegnungen und Naturlandschaften erzählen und ihre Arbeitsprozesse nachzeichnen, neigen sie auch dazu, den Kompositionsvorgang ein Stück weit zu verklären. Aber nicht, ohne das mit einem kühlen und kritischen Blick auf das System zu relativieren.
Der Musik, die in Positano und Olevano Romano entstanden ist, ist die italienische Künstlerresidenz in irgendeiner Weise eingeschrieben: gewiss nicht hörbar für Außenstehende; aber wie Sara Glojnarić und Jacopo Salvatori erzählen, haben sie an diesen besonders aufgeladenen Orten künstlerische Entscheidungen getroffen, die in Stuttgart und Berlin wohl anders ausgefallen wären.