Komponist Vsevolod Zaderatsky

"Ich bin schon längst tot"

30:07 Minuten
Eine großes, maskenähnliches Denkmal aus Stein mit christlichen Zeichen steht in einer Winterlandschaft.
Die "Mask of Sorrow" in Magadan erinnert an alle Opfer, die das Leben in den Gulags gefordert haben. © Imago / robertharding
Von Elisabeth Hahn |
Leben im Gulag. Dieses Schicksal traf auch den Komponisten Vsevolod Zaderatsky, der 1891 in der Ukraine geboren wurde. Er schuf Musik unter schwierigsten Bedingungen, ohne Klavier auf Telegrammpapier. Sein in Vergessenheit gedrängtes Werk ist eine Entdeckung.
Als Pianist Jascha Nemtsov vor etwa 15 Jahren für die Zeitschrift „Osteuropa“ einen wissenschaftlichen Artikel über Komponisten im Gulaschreiben soll, stößt er erstmals auf den Namen Vsevolod Zaderatsky, auch Zaderackij oder Saderazki geschrieben. Er bekommt eine Noten-Lieferung aus Russland: 24 Präludien und Fugen.
Ein Aha-Erlebnis: "Ich dachte: Oh das ist ja nicht nur etwas nicht nur für einen Artikel, sondern was richtig Großes. Also das war gleich mein erster Eindruck, dass das ein ganz interessanter, origineller Komponist mit einer eigenen Handschrift ist, das ist etwas, was ich so noch nicht kenne." 3½ Jahre brauchte Nemtsov, um diesen hochkomplexen Klavier-Zyklus einzustudieren, bis er sich mit Konzerten und mit einer Aufnahme an die Öffentlichkeit wagt.

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Etwa 20 Millionen Menschen waren bis in die Mitte der 1950er Jahre in sowjetischen Lagern, den Gulags, inhaftiert. Doch das dunkelste Kapitel der Sowjetunion war bis zur Perestroika ein Tabu.

Forschungsarbeiten spät zugelassen

In der Musikwissenschaft wurde das Thema Gulag bis vor wenigen Jahren kaum thematisiert. Lange ging man davon aus, dass Musikerinnen und Musiker dem sogenannten „Schonungsbefehl“ unterlagen – dass es unter ihnen also keine Opfer des Stalin-Terrors gab. 2014 erschien eine umfassende Forschungsarbeit von Inna Klause über Musik und Musiker im Gulag. Auch Jascha Nemtsov hat wichtige Aufklärungsarbeit geleistet. Beide zeichnen ein anderes Bild der Wahrheit. Es gab sie, die Komponisten im Gulag.

Von Riwne nach Moskau

Geboren wird Vsevolod Petrowitsch Zaderackij am 21. Dezember 1891 in der ukrainischen Stadt Riwne. Klavier lernt er bei seiner Mutter. Nach seinem Juradiplom studiert er am Moskauer Konservatorium neben Klavier und Dirigieren auch Komposition beim Tschaikowski-Schüler Sergej Taneev und beim Rimski-Korsakow-Schüler Michail Ippolitov-Ivanov. Zwischen 1915 und 1916 unterrichtet Zaderackij den Thronfolger der Zarenfamilie. Wahrscheinlich wird ihm das zum Verhängnis für das weitere Leben.
Er kämpft als Offizier im Ersten Weltkrieg und kurz darauf im Bürgerkrieg in der Weißen Armee. Als er in die Hände der Roten Armee gerät, spielt er die ganze Nacht über Klavier. Im Publikum: der gefürchtete Felix Dserdschinski, auch bekannt als „Stalins Henker“. Dserdschinski mag Musik. Am nächsten Morgen lässt er alle Gefangenen exekutieren. Außer Zaderackij. Den schickt er in die Verbannung, nach Rjazan 200 km südöstlich von Moskau.

Bürger letzter Klasse

Er besitzt nun den sogenannten „Wolfspass“. Mit ihm ist es unmöglich, in einer Großstadt zu wohnen. Fast 20 Jahre lang gehört Zaderackij  zu den „lišency“ – also den Bürgern ohne Wahlrecht, ohne freie Berufswahl, auf allen Ebenen diskriminiert und zurückgestellt.
1926 wird Zaderackij festgenommen und ins Gefängnis gesperrt. Wahrscheinlich wegen seiner militärischen Vergangenheit. All seine Manuskripte werden vernichtet. Damit ist sein gesamtes kompositorisches Schaffen bis zu diesem Zeitpunkt ausgelöscht. Ein Selbstmordversuch im Gefängnis scheitert. Zwei Jahre später wird er entlassen. Und schreibt kurz darauf zwei Klaviersonaten.

Hoffnungsschimmer Moskau

1930 darf Zaderackij endlich nach Moskau ziehen. Hier knüpft er Kontakte zur Moskauer Musikavantgarde, ist befreundet mit dem Komponisten Alexander Mossolov. Doch die Avantgarde wird zunehmend politisch ausgegrenzt. 1934 wird Zaderacky erneut aus Moskau verbannt und geht nach Jaroslavl. Über Wasser halten kann er sich und seine Familie als Lehrer am städtischen Musikkolleg. In diesen Jahren komponiert er mehrere symphonische Werke und Klavierzyklen. Zum Beispiel die 24 Präludien. Außerdem viele Charakterstücke mit Ähnlichkeit zur Klaviermusik von Erik Satie, aber doch mit einer individuellen modalen Klangsprache.

Der "Große Terror"

Seit dem Herbst 1936 beherrschen die vernichtenden sogenannten „Säuberungswellen“ von Stalin die Sowjetunion. Der „Große Terror“ stoppt auch nicht vor der Kulturszene. Im Juli 1937 wird Vsevolod Zaderackij denunziert und verhaftet. Seine Manuskripte hat er dieses Mal vorsorglich in Sicherheit gebracht. Laut Kriminalakte wird ihm ein Vergehen nach dem Paragraphen 58 vorgeworfen: antisowjetische Tätigkeit und Propaganda mit dem Ziel des Sturzes der Sowjetherrschaft.
Seine Familie vermutet, dass ihm das Plakat eines Konzertes zum Verhängnis wurde, bei dem er Musik von Richard Wagner und Richard Strauss dirigiert hatte. Wohin er deportiert wird, erfährt die Familie nicht. Verurteilt wird er zu 6 Jahren Lagerhaft ohne Recht auf Briefwechsel. Sein Sohn, der Musikwissenschaftler Vsevolod Zaderackij junior, erinnert sich: "Damals wusste meine Mutter noch nicht, dass diese Formel den sicheren Tod bedeutete. Sie begann, für die Rückkehr ihres Mannes zu kämpfen. Sie fuhr nach Moskau und stellte sich in die endlose Schlange der Bittsteller zu Michail Kalinin."

60 Grad Minus

Im November 1937 wird  Zaderackij ins „Sevostlag“ eingewiesen. Es ist das größte Lager in der Sowjetunion, gelegen auf der Kolymar. Das Sevostlag ist ein riesiges Lagernetz mit vielen Unterabteilungen. Die unwirtliche Region Kolyma im Nordosten von Sibirien wird auch als „Grausamkeitspol des Gulag“ bezeichnet. Wahrscheinlich ist Zaderackij an einem der kleineren Lagerpunkte. Gemeinsam mit Kriminellen. Die Häftlinge errichten Straßen, bauen Bodenschätze ab oder fällen Bäume. In einer Umgebung mit bis zu minus 60 Grad im Winter. Ausbeutung, Mangelernährung, Kälte und Krankheiten beherrschen den Lageralltag.
Zaderackij komponiert die 24 Präludien und Fugen zwischen 1937 und 38. Weil er keinen Radiergummi und kaum Papier hat, darf er sich keinen Fehler erlauben. Sein Zyklus ist der erste dieser Art nach Johann Sebastian Bach. Und damit noch vor Paul Hindemith und Dmitri Schostakowitsch.

Mit Geschichten in die Freiheit

Zaderackijs Überleben lässt sich möglicherweise auch damit erklären, dass er ein außerordentlich guter Geschichtenerzähler war. So berichtet sein Sohn: "Die Gefangenen versammelten sich am Feuer und lauschten seinen Geschichten. Hauptsächlich waren es historische Erzählungen, die er bestens kannte. Es ging um die Geschichte des antiken Griechenlands und des alten Roms, um die Eroberung Amerikas, um die europäischen Revolutionen und natürlich um die Geschichte des Rußländischen Reichs."
Vielleicht hatten die Bemühungen seiner Frau Erfolg. Oder die positiven Gutachten seiner Kollegen. Jedenfalls wird Zaderackij im Mai 1939 nach anderthalb Jahren aus der Lagerhaft entlassen. Doch um die Region mit dem Schiff oder der Eisenbahn zu verlassen, fehlt es den meisten Inhaftierten an Geld. Zaderackij hat Glück, berichtet sein Sohn "Er erzählte, daß einer seiner Stammzuhörer – ein alter Dieb – bei seiner Freilassung einen goldenen Ring aus dem Mund holte (den er dort einige Monate lang aufbewahrt hatte) und ihn ihm mit den Worten gab: ‚Damit kommst du weiter’. "

Zurück in einen Alltag

Für Zaderackij folgen nun mehrere Stationen abseits der Musikzentren: Merke in Kasachstan, Krasnodar und Jaroslavl in Russland und Schitomir in der Ukraine. Der Klavierzyklus „Die Front“ entsteht 1944. Die Sätze tragen Titel wie „Über dem Massengrab“, „Die Erde brennt“ oder „Brandruine am Heimatort.“
Im Sommer 1949 findet er im ukrainischen Lviv erstmals ein musikalisches Umfeld auf hohem Niveau vor – und arbeitet am Konservatorium als Lehrer für Klavier, Kammermusik und Geschichte des Klavierspiels.  Zaderackij ändert in dieser Zeit seinen Kompositionsstil. Vereinfacht seine Musiksprache, integriert ukrainische, russische und belarussische Volkslieder. Er passt sich der sozialistischen Doktrin an und bekommt erstmals offizielles Lob. Sein zweites Klavierkonzert für Kinder wird sogar vom ukrainischen Komponistenverband für ein Konzert in Kiew empfohlen.

Vernichtende Kritik

Doch die vernichtende Kritik folgt auf dem Fuß aus Moskau. Die Zeitschrift „Sowjetskaja muzyka“ schreibt eine entsprechende Rezension:  Künstlerische Mängel, stilistischer Bruch zwischen den volkstümlichen Liedthemen und dem eigenen Material, formalistische Entwicklung der Themen.
Formalismus. Es ist das künstlerische Todesurteil in der Sowjetunion. Doch Zaderackij übt sich nicht – wie damals üblich und gefordert – in demütiger Selbstkritik. Er schlägt verbal zurück und schreibt im Spätsommer 1950 einen wütenden Brief an den Chefredakteur der Moskauer Zeitschrift „Sovetskaja muzyka“, an Marian Koval. Dessen Kritiken hatten zwei Jahre zuvor die Karrieren von Dmitri Schostakowitsch und einigen anderen Komponisten vernichtet. Aus dem Brief von Zaderatsky spricht offene Anklage, Rebellion. Wer so etwas schreibt, in dieser Zeit, der hat offenbar nichts mehr zu verlieren.

Ich bin schon längst tot als Komponist – ich werde nicht gespielt und nicht gedruckt, und es ist absurd, einem Toten nach dem Hals zu greifen, um ihn umzubringen. Wir beide, Sie und ich, verstehen, daß Ihre Tat – mit gedrucktem Wort ein Werk zu vernichten, das Sie nicht gesehen und nicht gehört haben, [. . .] ein literarisches Pogrom ist, eine brutale Abrechnung mit einem, der die Unfehlbarkeit der Sekretäre des Komponistenverbandes in Frage gestellt hat.

Nach dieser Auseinandersetzung leidet Zaderackijs Herz. Er stirbt einen Monat vor Stalin am 1. Februar 1953 mit 61 Jahren.

Endlich im Blick der Musikgeschichte

In den letzten Jahren hat sich in der Zaderackij-Rezeption viel getan. 2015, also 77 Jahre nach ihrer Entstehung, wurden die 24 Präludien und Fugen von Jascha Nemtsov in Deutschland uraufgeführt. Einige ukrainische und russische Verlage haben seine Musik längst publiziert. Und auch der Schott-Verlag beteiligt sich an einer Gesamtausgabe der Klavierwerke. Doch der Fall Zaderackij zeigt, wie viel Potential der Musikgeschichte in den Gulags verloren gegangen ist.
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