Kulturpolitik statt Politik der Abgrenzung
Über positive Aspekte der Aus- und Einwanderung diskutieren in Berlin Künstler, Wissenschaftler und Publizisten. Bei der Konferenz "Europa und das Mittelmeer in Zeiten der Migration" wird auch das Projekt "Berlin Creative Platform" vorgestellt, das den Künstlern unter den Flüchtlingen eine Anlaufstelle bietet.
Das Mittelmeer im 20. Jahrhundert – für viele war oder ist es ein Ort der Bürgerkriege: in Spanien, am Ende des Zweiten Weltkriegs in Griechenland, später im Libanon und schließlich nach dem "Arabischen Frühling" und weiteren Anrainerstaaten. Das Mittelmeer war und bleibt für viele aber auch ein Sehnsuchtsort.
Ghassan Salamé: "Das Mittelmeer ist ein Ort der Migranten, der Händler, aber auch der Kultur. Diese Bürgerkriege aber sind ein Zeichen dafür, dass ein Ausgleich der Kräfte fehlt, weil der Staat zu schwach ist. Deshalb kommt es zu Spaltungen, Spaltungen, die dann noch verstärkt werden durch Diktaturen, durch autoritäre Staaten."
Ghassan Salamé war Kulturminister im Libanon – nach dem Ende des Bürgerkriegs, in den Jahren, als der Libanon sich aus der immer wieder militärisch erzwungenen Vormundschaft Syriens befreien konnte. Und zum Modell wurde für den Umgang mit Flüchtlingen und Migranten. Wolfgang Ischinger, deutscher Diplomat und Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz:
"Wenn die EU verhältnismäßig genauso viele Flüchtlinge aufgenommen hätte wie der Libanon, dann hätten wir heute 250 Millionen Flüchtlinge in der Europäischen Union."
Von einem "Flüchtlingsproblem" redet Ghassan Salamé nicht, ganz im Gegenteil. Als Vorsitzender der AFAC-Stiftung, des Arab Fund for Arts and Culture, favorisiert er eine Alternative zur knallharten Politik der Angst und der Abgrenzung: die Kulturpolitik. Positiv und optimistisch, aber nicht so eindimensional wie im arabischen Info-TV von Al Jazeera.
Ghassan Salamé: "Soft power bedeutet, an der öffentlichen Meinung, der Mentalität, der Kultur zu arbeiten. Und ein Modell des sozialen Zusammenlebens zu bieten, das für andere attraktiv ist. Da war zeitweise Al Jazeera ein Vorbild – aber wir sind kein Massenmedium. Wir finanzieren, wir unterstützen die freie Meinungsäußerung der Kreativsten – und das sind oft Randgruppen, Außenseiter."
Kreative und Außenseiter, Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller unter den Flüchtlingen sammeln sich auch in Berlin. Längst ist hier so etwas wie eine kulturelle Diaspora entstanden. Und deren Kräfte wollen Salamé und Michael Thoss von der Allianz Kulturstiftung bündeln mit ihrem gemeinsamen Projekt BBCP, der Beirut Berlin Creative Platform:
Michael Thoss: "Es entstehen hier ganz neue literarische Orte, Berlin gehört auch dazu. Und natürlich ist diese Kosmopolitisierung der arabischen Literatur in Europa ein wahnsinnig interessantes Phänomen. Und wir hoffen ja auch, dass sie hier nicht nur fortgeschrieben wird, sondern auch weiterentwickelt und irgendwann dann auch wieder die Region befruchtet, die jetzt in Schutt und Asche liegt."
"Innere Integration" der arabischen Communities
Vorerst allerdings muss die Plattform auch zu einer Art "innerer Integration" der arabischen Communities beitragen. Denn die einen sind – so Michael Thoss – mit der Business Class nach Berlin gekommen, den anderen blieb nur der gefährliche Weg im Boot übers Mittelmeer:
"Die Spaltung ist ganz offensichtlich. Bei einer Schriftstellerin konnte ich wirklich feststellen, dass sie hier ihrer gehobenen Mittelklasse abgeschworen hat und sehr glücklich war ins Gespräch zu kommen mit Menschen aus ihrem Land, denen sie in ihrem Heimatland nicht begegnet wäre."
Schriftsteller Petros Markaris über Migration
Andererseits bürgt nicht einmal die Gastfreundschaft der deutschen Gesellschaft für wirkliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das weiß der griechische Schriftsteller Petros Markaris, aufgewachsen als Sohn einer armenischen Familie im Istanbul der vierziger Jahre:
"Ich hörte gleichzeitig Türkisch, Griechisch, Armenisch, sephardisches Jüdisch, aber auch Französisch und Italienisch. Dieses multiethnische Zusammenleben begrenzte sich aber auf der Straße und im Geschäftsleben. Das Privat- und Familienleben der Minderheiten war vollkommen getrennt und je nach Stadtteil bestimmt."
Die Identität selbst mixen
Dieses multiethnische, manchmal kleinkariert abgeschottete Privat- und Familienleben zu achten – und dennoch als Weltbürger zu agieren, darin sieht Ghassan Salamé keinen Widerspruch – sondern geradezu den Auftrag jeder Kulturpolitik:
"Weder Kosmopolitismus noch Nationalismus oder sonst ein Ismus darf die ursprüngliche Identität eines Menschen ausradieren. Jeder hängt an seinem Dorf, seiner Familie, das ist legitim. Aber das darf nicht zum einzigen Kriterium des Zusammenhalts, der Solidarität werden. Denn Identität ist vielfältig – millefeuille, wie der Blätterteig. Und heute, 2016, bedeutet Freiheit, sich alle Zutaten, alle Ingredienzen seiner Identität selbst zusammenstellen zu können."