Gerontologe fordert mehr Miteinander von Alt und Jung
Weihnachten ist vorbei und viele betagte Menschen sind wieder allein. Der Gerontologe Thomas Klie sieht darin eine Gefahr: "Die Alten werden zu Fremden im eigenen Land". Er fordert, mehr Begegnungen zwischen den Generationen zu organisieren.
Nach Ansicht des Gerontologen Thomas Klie von der Evangelischen Hochschule Freiburg müssen die Beziehungen zwischen den Generationen gestärkt werden, damit die Gesellschaft langfristig nicht auseinanderfällt. Im Deutschlandradio Kultur sagte Klie, die Generationen trennten sich momentan immer stärker voneinander. Das sei nicht gut und gefährde die Solidarität. "Die Alten und die Menschen mit Demenz werden zu Fremden im eigenen Land, wenn wir nicht die Gelegenheit zu Begegnungen schaffen", sagte Klie. Deswegen sei er dafür, Einrichtungen wie Kindergärten und Altenheime an einem Ort zusammen zu planen. Das heiße nicht, dass sich Kinder und Alte täglich treffen müssten: "Aber sie sehen sich und sie haben die Gelegenheiten, sich zu begegnen."
Man müsse auch immer wieder Gelegenheiten inszenieren, damit Alt und Jung gemeinsame Erfahrungen miteinander machten. Ein entsprechendes Projekt in Freiburg, bei dem sich Kinder mit Senioren wöchentlich trafen, sei positiv verlaufen. Bei den älteren Menschen sei mehr Wohlbefinden sichtbar gewesen, sagte Klie. Es habe "magische Momente" gegeben, in denen sich Kinder und Senioren außergewöhnliche Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Die Kinder wiederum hätten durch die Begegnung ihr Bild von den Alten verändert. Motto: "Die Älteren sind gar nicht nur so fremd und so komisch, das sind zum Teil auch prima Leute."
Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Ob als amerikanische Filmkomödie oder als reales deutsches Drama – Familienbegegnungen an Weihnachten können mitunter kompliziert sein. Und für viele ist es entweder lästige Pflicht oder christliche Nächstenliebe, Opa oder Großtante im Heim zu besuchen.
Ab heute kehrt wieder Alltag ein, und der bedeutet für die Älteren und Alten, dass sie jetzt über Wochen womöglich gar keinen Besuch mehr bekommen, vor allem nicht von den Jüngeren oder von den ganz Jungen. An der evangelischen Hochschule Freiburg hat man versucht, Begegnungen zwischen Senioren und Vorschulkindern nachhaltiger zu gestalten, und dafür verantwortlich zeichnet der Sozial- und Rechtswissenschaftler Thomas Klie. Guten Morgen, nach Freiburg!
Thomas Klie: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Was macht die Begegnung zwischen Jung und Alt grundsätzlich für beide Seiten wertvoll?
Klie: Alt und Jung werden sich fremder, wenn sie sich nicht mehr alltäglich begegnen, die Gelegenheiten nehmen ab und gleichzeitig haben die sich viel zu erzählen, haben viel aneinander zu entdecken, was früher war, was Kinder heute ausmacht, und Kinder und hochbetagte Menschen können in ihren Begegnungen auch erleben, was es heißt, in einer Generationenbeziehung zu leben, und dies durften wir drei Jahre lang organisieren mit sehr guten Effekten.
Welty: Inwieweit waren diese Effekte sehr gut, und wo tauchten womöglich Probleme auf, mit denen Sie vielleicht gar nicht gerechnet haben?
Klie: Zunächst traten Probleme bei den Eltern der Kinder auf, die zum Teil Sorge hatten, dass sich ihre Kinder anstecken könnten. Anstecken an Demenz zum Beispiel, also Vorstellungen, die überhaupt gar nichts mit der Medizin zu tun haben, mit dem, was wir über die typischen Alterserkrankungen wissen.
Darin offenbaren sich altersstereotype Vorstellungen vom Alter, die sehr viel mit Pathologie, mit Krankheit, mit Defiziten zu tun haben und die galt es, auch und gerade bei den Eltern zu überwinden, die – nicht alle, aber doch einige – Scheu hatten, ihren Kindern zu erlauben, in diese Begegnungen zu gehen, die wöchentlich stattfanden in drei Tandems zwischen Kindertagesstätten und Einrichtungen für und mit älteren Menschen.
Welty: Und die positiven Effekte, die Sie eben angedeutet haben?
Kinder und Alte: Emotional wertvolle Begegnungen
Klie: Nun, für die älteren Menschen waren sichtbar in der Situation, wie sie sich freuen, wie sich ihr Wohlbefinden verändert hat, wie sich ihre Aktivität erhöht hat, ihre Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Viele Somnolente erwachten gewissermaßen neu aus ihrer Zurückgezogenheit, aus einem Alltag, der häufig auch nicht sehr anregungsreich ist, und man entdeckte viele spielerische, viele emotional sehr wertvolle Begegnungen im Miteinander, magische Momente, wo Kinder und alte Menschen miteinander spielten, eine Aufmerksamkeit sich schenkten, die wirklich außeralltäglich ganz besonders war und beiden stille oder eben auch durchaus vernehmbare Freude bereitete.
Und bei den Kindern konnten wir sehr deutliche Effekte feststellen, was ihre emotionale Lernfähigkeit, ihre emotionale Aufgeschlossenheit anbelangt. Sie legten die bisweilen auch von ihren Eltern oder anderen übernommenen stereotypen Vorstellungen von alten Menschen ab, machten sich auf die Entdeckungsreise, was denn das Altsein ausmacht, wie ein Rollstuhl funktioniert, was sich hinter der Bewegungseinschränkung der älteren Menschen verbarg. Und man spürte am Ende der zwei Jahre – manche haben zwei Jahre an diesen Begegnungen teilgenommen, manche nur ein Jahr, aber wöchentlich – dass sich generell das Verständnis des anderen Menschen, des alten Menschen deutlich erhöht hat, dass sie sich besser hineinversetzen konnten in die Stimmungslagen, dass sie hinter den Einschränkungen, die ja nicht zu übersehen waren, doch viele Kompetenzen erlebt haben vom älteren Menschen, und so aus den Begegnungen zum Teil Beziehungen wurden, die in der subjektiven Interpretation der Kinder eine große Bedeutung spielten.
Welty: Man hört es Ihnen an, Sie ziehen eine durchaus erfreuliche Bilanz. Aber werden solche Begegnungen nicht aus sehr idealisiert, weil die Bedürfnisse und Fähigkeiten von Menschen dann doch sehr unterschiedlich sind. Kinder toben lieber, und Senioren unterhalten sich lieber, so zumindest die Vorstellung.
Klie: Na gut, aber man kann auch nicht immer toben.
Welty: Sagen Sie das mal meinen Neffen!
Die Kinder sagen: Die Alten sind gar nicht so komisch und anders
Klie: Ich hab auch selber Kinder. Das sind Situationen, die auch gerade sehr agile, sehr aktive Kinder auch zu einer anderen Aufmerksamkeit und Konzentration gebracht haben, das war auch kein schlechter Nebeneffekt. Und die dürfen jetzt auch nicht ewig andauern, diese Begegnungen. Wir haben sie auf anderthalb bis zwei Stunden einmal in der Woche reduziert, und darum haben sich die Kinder auch überwiegend gerissen.
Aber nicht alle. Manchen waren die Älteren auch fremd, und auch die Älteren haben nicht nur Freude an der Lebendigkeit von Kindern. Es gab auch bisweilen mal schwierige Situationen, die es zu meistern galt, wo es auch Situationen gab, wo ein älterer Mensch sich eher ein bisschen autoritär verhalten hat, oder sogar ein Mensch mit Demenz sogar mal nach den Haaren eines Kindes gegriffen hat. Darum bedarf es dann auch der fachlichen Begleitung.
Und man kann auch nicht sagen, dass sich durch diese wöchentlichen Begegnungen die Lebenssituation von den auf Pflege angewiesenen Menschen, um die es auch überwiegend ging, nun generell geändert hätte. Das wäre auch völlig überzogen, eine solche Erwartung zu haben. Aber was ganz wichtig war, ist, dass die Kinder, die an diesen Begegnungen teilgenommen haben, ihr Bild vom alten Menschen deutlich verändert haben, dass sie anderen auch darüber berichtet haben, dass das bis in die Familien hinein gewirkt hat – die Älteren, die sind gar nicht nur so fremd und so komisch. Die sind vielleicht komisch bisweilen, sie sind auf jeden Fall anders, aber das sind zum Teil auch prima Leute, mit denen man sich gut unterhalten kann oder die zumindest sehr interessant sind.
Welty: In Japan gibt es ja solche Modelle häufiger, sogar in der institutionellen Kombination von Altenheim und Kindergarten. Wünschen Sie sich so etwas für Deutschland, auch als Ersatz für die Großfamilie mit mehreren Generationen unter einem Dach?
Klie: Auf jeden Fall müssen wir die Generationenbeziehung wichtig nehmen, sonst werden wir uns fremd, und das im kulturellen und sozialen Wandel verdammt schnell, ohne dass wir es richtig merken. Und die Generationen trennen sich immer stärker, wir werden immer generationsspezifischer in unserer Alltagsgestaltung. Das ist nicht gut so, das erhöht auch nicht die Solidarität in den Generationenbeziehungen. Und die Alten und auch die Menschen mit Demenz werden zu Fremden im eigenen Land, wenn wir nicht die Gelegenheiten zur Begegnung schaffen.
Darum bin ich sehr dafür, infrastrukturell Einrichtungen für Kinder und für Hochbetagte territorial zusammen zu planen. Das heißt nicht, dass die sich täglich treffen müssen, aber sie sehen sich und sie haben die Gelegenheiten, sich zu begegnen. Und auch das, was wir ausprobiert haben, lohnt sich, in die Breite zu bringen. Dass man immer wieder Gelegenheiten inszeniert, in denen Alt und Jung sich treffen, Erfahrungen miteinander machen, auch wenn es zum Teil konfliktuale sind. Aber das macht ja nichts, Hauptsache, man macht Erfahrungen miteinander, bleibt miteinander im Kontakt. Und ganz häufig entsteht Wunderbares daraus.
Welty: Thomas Klie von der evangelischen Hochschule in Freiburg, dort spezialisiert auf die Gerontologie. Und er plädiert für ein neues Miteinander von Jung und Alt. Wir sagen Danke für das Miteinander hier in Studio 9!
Klie: Auch ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.