Konflikt zwischen Russland und der Türkei

"Politik mit freiem Oberkörper"

Russlands Präsident Wladimir Putin hält im Kreml die traditionelle Rede an die Nation
Russlands Präsident Wladimir Putin hält im Kreml die traditionelle Rede an die Nation © picture-alliance / dpa
Raphael Utz im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
"Sie werden bereuen, was sie getan haben." Im Konflikt mit der Türkei verschärft Russlands Präsident Putin den Ton. Damit habe er sich erneut als "der starke Mann, der starke Führer" präsentieren wollen, meint der Historiker Raphael Utz.
Der derzeitige Streit zwischen Russland und der Türkei müsse vor einem bestimmten historischen Hintergrund beurteilt werden, sagte der Historiker Raphael Utz im Deutschlandradio Kultur: Es gehe um das Selbstverständnis Russlands als europäischer Großmacht:
"Dass große Fragen wie eben im 19. Jahrhundert die sogenannte 'orientalische Frage' oder auch heutige große politische Fragen der europäischen Politik und der Weltpolitik nicht ohne Russland und über Russland hinweg entschieden werden sollen. Das ist so eine glorifizierte, beleidige Leberwursthaltung."
Tradiertes russisches Herrschaftsbild
Diese Haltung habe damit zu tun, wie die russische Führung sich selbst und das von ihr regierte Land wahrnehme:
"Insofern ist diese Rede, die Putin gestern an die Nation gehalten hat, genau das: Eine Rede an die eigene Nation. Weil diese Politik mit freiem Oberkörper - der starke Mann, der starke Führer -, das ist ein sehr tradiertes russisches Herrschaftsbild und richtet sich in erster Linie darauf, die vermeintlichen Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu bedienen. Ob das wirklich trägt, ist eine andere Frage."
Russland verfolge im Syrien-Konflikt "knallharte politische Interessen", betonte Utz.
"Eben weil sie nicht wollen, dass der Westen alleine in diesem Konflikt entscheidet. Sie möchten dabei sein. Das ist das Entscheidende an all diesen Fragen."
Raphael Utz ist Historiker am Imre Kertész Kolleg, dem Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte der Universität Jena. Sein Forschungsschwerpunkt ist der russische Nationalismus.

Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Der Konflikt zwischen der Türkei und Russland, er ebbt nicht ab. Präsident Putin hat ja nach den Sanktionen gegen die Türkei noch mal nachgelegt in seiner Rede an die Nation. Nach dem Abschuss eines russischen Bombers hat er gesagt, man werde sie, die Türken, noch daran erinnern, was sie getan haben, und sie werden es noch bereuen, "Wir wissen, was wir zu tun haben".
Wer das gehört hat, diesen Ton, der fragt sich, ob die jüngsten Eskalationen im Syrien-Konflikt zwischen Russland und der Türkei nicht eine viel längere Vorgeschichte haben. Dr. Raphael Utz ist Historiker am Imre Kertész Kolleg, Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte der Universität Jena, und befasst sich mit russischem Nationalismus. Herr Utz, schönen guten Morgen!
Raphael Utz: Guten Morgen, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Der Konflikt zwischen der Türkei und Russland ist ja nicht neu, aber welche Konfliktlinien gab es denn da in der Vergangenheit?
Die sogenannte "orientalische Frage"
Utz: Das ist eine ganz lange Geschichte, und zwar im Zusammenhang mit dem, was man im 19. Jahrhundert die orientalische Frage genannt hat. Der russische Nationalismus hat so ab Ende des 18. Jahrhunderts ein sehr klares außenpolitisches Ziel formuliert, nämlich die Eroberung und Befreiung – so wie das die Russen sich vorgestellt haben – Konstantinopels. Das haben wir seit Katharina der Großen als klares außenpolitisches Programm und es ist bis in den Ersten Weltkrieg hinein verfolgt worden.
von Billerbeck: Hatte dieser Konflikt zwischen Russland und dem damals ja noch Osmanischen Reich auch eine religiöse Komponente? Also hier die christlich-orthodoxen Russen, da die islamischen Türken?
Utz: Das haben die Russen so gesehen. Sie haben sich ab 1774 als Schutzherren verstanden der christlichen Bevölkerung auf dem Balkan, die damals ja noch eben unter der Oberherrschaft des Osmanischen Reiches gelebt hat. Und haben das auch benutzt, um ganz konkret sich sozusagen an der Zerschlagung des Osmanischen Reiches zu beteiligen und Ländern und Staaten wie Serbien oder Bulgarien eine Nationalstaatsbildung und eine Unabhängigkeit überhaupt erst zu ermöglichen. Insofern, das religiöse Argument war eigentlich immer nur ein Argument, eine Darstellungsform, aber es ging nicht im Kern um religiöse Fragen.
von Billerbeck: Nun sprechen Sie vom Osmanischen Reich, das gibt es ja schon ein Weilchen nicht mehr. Hat denn dieser Konflikt Russland-Türkei fortgewirkt, also über den Ersten Weltkrieg hinaus, auch in der Zeit der Sowjetunion?
Utz: Nein. Also, die sowjetische Regierung hat sehr vieles an den imperialen Traditionen des Zarenreiches ziemlich problemlos fortschreiben können. Wenn man zum Beispiel an den Grundgedanken der Weltrevolution denkt, hat das ja durchaus imperialen oder auch imperialistischen Charakter. Aber dieses konkrete außenpolitische Ziel der Eroberung Konstantinopels und der Eingliederung Konstantinopels in einen russischen Staatsverband, das wurde nach der Revolution nicht mehr verfolgt, nein.
Nachwirken historischer Konflikte
von Billerbeck: Was wirkt denn aber von den historischen Konflikten, die Sie da geschildert haben, inklusive Katharina der Großen und der osmanischen, der orientalischen Frage, was wirkt denn von diesen historischen Konflikten bis heute nach, was wir da eben erleben in der aktuellen Auseinandersetzung zwischen der Türkei und Russland?
Utz: Ich würde das als eine Art historisches Hintergrundrauschen bezeichnen und es ist auch überhaupt nicht auszuschließen, dass irgendein mehr oder minder durchgeknallter russischer Nationalist sehr weit rechts da jetzt wieder an diese Dinge erinnert, so als eine Art Echoraum.
Was allerdings sehr viel konkreter nachwirkt, ist ein Verständnis Russlands von sich selbst als europäischer Großmacht, das also große Fragen – wie eben im 19. Jahrhundert die sogenannte orientalische Frage oder auch heutige politische, aktuelle, große Fragen der europäischen und der Weltpolitik – nicht ohne Russland und über Russland hinweg entschieden werden sollen. Das ist, sagen wir mal, eine etwas glorifizierte Beleidigte-Leberwurst-Haltung.
Und das hat in erster Linie etwas damit zu tun, wie die russische Führung sich und das Land, das sie regiert, selber wahrnimmt. Also weniger mit uns als mit sich selbst. Und insofern ist diese Rede, die Putin gestern an die Nation gehalten hat, eben auch in erster Linie genau das, eine Rede an die eigene Nation, weil: D iese Politik mit freiem Oberkörper, der starke Mann, der starke Führer, das ist ein sehr tradiertes russisches Herrschaftsbild und richtet sich in erster Linie daran, die vermeintlichen Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu bedienen. Ob das wirklich trägt, ist eine andere Frage. Denn das Ergebnis der russischen Politik im 19. Jahrhundert ist ein vollständiges Scheitern.
"Knallharte außenpolitische Interessen"
von Billerbeck: Warum aber, wenn wir uns die aktuellen Ereignisse ansehen, die derzeit da zu erleben sind zwischen den beiden Ländern, warum aber nehmen die Spannungen zwischen der Türkei und Russland gerade jetzt wieder so akut zu?
Utz: Das hat keinerlei historische Gründe, das sind aktuelle politische Interessen. Das sind die ganz knallharten russischen außenpolitischen Interessen in diesem Raum. Sie unterstützen ja Assad nicht, weil sie ihn so sympathisch finden, sondern weil sie strategische Interessen haben. Zum Beispiel eben die Flottenbasis im Mittelmeer, an der syrischen Mittelmeerküste.
Und weil sie nicht wollen, dass der Westen alleine in diesem Konflikt entscheidet. Sie möchten dabei sein, das ist das Entscheidende in all diesen Fragen. Wir sehen das auch gerade wieder in der Frage mit Montenegro, wo wir den Zusammenhang haben Türkei-Balkan, ganz ähnlich. Wo genau diese Fragen wieder vermischt werden. Es geht Russland grundsätzlich darum, wir möchten dabei sei, wir möchten einbezogen werden, wir möchten nicht, dass irgendetwas in einer wichtigen Frage ohne uns geschieht!
von Billerbeck: Der Jenenser Historiker Raphael Utz über das schwierige Verhältnis zwischen Russland und der Türkei und dessen Vorgeschichte. Ich danke Ihnen!
Utz: Ganz herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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