Konflikte im Keimstadium

Rezensiert von Jörg Magenau |
Alice Munro versteht es, aus wenigen Szenen ein ganzes Leben zu entfalten. Mehr noch: In ihrem neuen Erzählungsband "Tricks" zeigt sie das nicht gelebte Leben, die Wünsche und Sehnsüchte, die sich unter dem Alltag verbergen, und die nur in besonderen Augenblicken spürbar werden.
Carla und Clark sind ein junges Paar. Sie leben in einem Wohnwagen, sind aber als Reitlehrer und Pferdepfleger in einem Dorf in Ontario sesshaft geworden. Carla hat mit ihren Eltern gebrochen, als sie sich für Clark und für dieses Leben entschied. Geld verdient sie nebenbei als Putzfrau bei Mrs. Jamieson, einer älteren Dame in der Nachbarschaft, die sich ein wenig verliebt hat in die mädchenhafte Carla. Als Carla dort eines Tages weinend zusammenbricht und berichtet, sie werde von ihrem Freund drangsaliert, hilft ihr Mrs. Jamieson zur Flucht.

Carla besteigt einen Bus, der sie nach Toronto bringen soll. Doch auf halber Strecke steigt sie aus, ruft bei Clark an und lässt sich von ihm abholen. Sie begreift nicht mehr, warum sie Mrs. Jamieson Lügengeschichten aufgetischt hat und was sie weggetrieben hat. War es vielleicht doch eher die Angst vor der Zuneigung von Mrs. Jamieson?

Das ist in etwa der Inhalt der ersten von acht Erzählungen in Alice Munros neuem Erzählungsband "Tricks". Jede dieser Geschichten ist nuancenreich und so etwas wie ein komprimierter Roman. In allen Geschichten stehen Frauenfiguren im Mittelpunkt, meistens in ihren Beziehungen zu Männern. Die Erzählungen spielen bevorzugt in den 50er und 60er Jahren, in der moralischen Enge der Provinz, werden aber mit ein paar lockeren Strichen bis in die Gegenwart verlängert. Dadurch ergibt sich ganz unaufdringlich so etwas wie eine Geschichte der weiblichen Emanzipation.

Auch der Zerfall traditioneller Familienstrukturen ist ein immer wiederkehrendes Thema. In die Rubrik "Frauenliteratur" sollte man Alice Munro allerdings nicht stecken. Der Begriff schränkt zu sehr ein, indem er Literatur auf einen bestimmten Zweck festlegt. Munros Texte wollen nichts beweisen. Sie verkünden nichts, sondern legen auf subtile Weise das Innere der Figuren frei. Die Frauen kommen dabei nicht besser weg als die Männer. Aber sie sind immer die Hauptfiguren, aus deren Perspektive die Welt betrachtet wird.

Nicht zufällig begann Munro, Mutter von drei Töchtern, 1968 zu veröffentlichen und sich in ihren Geschichten mit der Rolle der Frau auseinanderzusetzen. Sie selbst, Jahrgang 1932, wuchs als Farmerstochter in Ontario auf. Als sie zwölf war, starb ihre Mutter. Von da an musste sie den Haushalt führen. Das könnte fast schon eine Geschichte von ihr sein. Ein Journalistik-Studium hat sie abgebrochen, erst mit 36 veröffentlichte sie erste literarische Texte. Dass sie Erzählungen schrieb, erklärt sie mit zeitökonomischen Gründen. Für Romane hatte sie eben keine Zeit, während sie drei Kinder großziehen musste. Nachdem die Kinder aus dem Haus waren, blieb es dabei.

Es gibt aber auch inhaltliche, ästhetische Gründe dafür, dass Munro ausschließlich mit Erzählungen zur wohl wichtigsten kanadischen Schriftstellerin wurde. Sie versteht es, aus wenigen Szenen ein ganzes Leben zu entfalten. Mehr noch: Sie zeigt das nicht gelebte Leben, die Wünsche und Sehnsüchte, die sich unter dem Alltag verbergen, und die nur in besonderen Augenblicken spürbar werden.

So setzen auch Carla und Clark ihre gemeinsame Existenz fort, als wäre nichts gewesen. Seltsam nur, dass Clark eine Ziege tötet und vergräbt, die zur selben Zeit wie Clara verschwunden ist und die in derselben Nacht wieder auftaucht. Es ist, als könne er dieses Zeichen nicht ertragen, als müsse jede Erinnerung an die überstürzte Flucht seiner Frau ausgelöscht werden, um Normalität wieder herzustellen.

Alice Munro kommt zumeist ohne dramatische Szenen aus. Sie besichtigt Konflikte im Keimstadium, noch bevor sie den Protagonisten selbst ins Bewusstsein getreten sind. Sie schildert Latenzphasen, Entscheidungssituationen, in denen der zukünftige Verlauf des Lebens auf dem Spiel steht. In der Titelgeschichte "Tricks" fährt eine Frau, die mit einer asthmakranken, rachsüchtigen Schwester zusammenlebt, in die nahe Hauptstadt, um ins Theater zu gehen. Sie lernt dort einen Einwanderer aus Montenegro kennen, einen Uhrmacher, der ihr Gulasch kocht, eine Flasche Wein entkorkt und sie am späten Abend zum Zug bringt.

Sie küssen sich auf dem Bahnsteig und vereinbaren, sich in einem Jahr wiederzusehen und dann - sollten sich ihre Gefühle als haltbar erweisen - zusammenzubleiben. Doch ein Jahr danach schlägt ihr der Uhrmacher die Tür vor der Nase zu. In hohem Alter erst entdeckt die Frau, dass der Uhrmacher einen taubstummen Zwillingsbruder hatte, dem sie begegnet sein muss. Wäre sie fünf Minuten früher oder später gekommen, hätte sie den richtigen getroffen. Jetzt ist es zu spät, um das verpasste Leben zu betrauern. Munro verweigert sich beharrlich der Tragödie. "Tricks" endet mit der lakonischen Feststellung:

"Alles an einem Tag zerstört, binnen weniger Minuten, nicht schrittweise, durch qualvolle Kämpfe, Hoffnungen und Enttäuschungen, in dem lang hingezogenen Prozess, durch den solche Dinge für gewöhnlich zerstört werden. Und wenn es stimmt, dass so etwas in aller Regel zerstört wird, ist dann der kurze Prozess nicht leichter zu ertragen?"

Alice Munro: Tricks. Erzählungen
Aus dem Englischen von Heidi Zerning
Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006, 380 Seiten