"Wir reagieren oft zu spät"
Deutschland muss sich stärker an der Prävention von Konflikten beteiligen, fordert der EKD-Friedensbeauftragte. Dazu gehöre etwa die Verbesserung von Handelsbeziehungen. Vor allem müssten Konflikte langfristig betrachtet werden und nicht erst, wenn sich die Frage nach militärischem Eingreifen stelle.
Kirsten Dietrich: Gaza, Ukraine, Irak, Syrien – jeder dieser Ortsnamen steht für einen ganz unterschiedlich strukturierten Konflikt. Allen gemeinsam aber ist die beunruhigende Botschaft: Um den Frieden in der Welt steht es schlecht, und wer das bisher anders sah, hat einfach nur nicht genau genug hingeschaut. Über Krieg reden die Nachrichten in großer Ausführlichkeit, aber wer redet über Frieden, wer entwickelt Visionen oder vielleicht gar konkrete Lösungsvorschläge?
Die Evangelische Kirche in Deutschland hat einen Militärbischof und einen Friedensbeauftragen. Das kann man weise finden oder unentschieden. Auf jeden Fall hat der Friedensbeauftragte sehr konkrete Vorstellungen, wie das mit dem Frieden auf jeden Fall nicht geht. Ich habe vor der Sendung mit Renke Brahms gesprochen, Friedensbeauftragter der Evangelischen Kirche und Schriftführer, also leitender Geistlicher der Evangelischen Kirche in Bremen. Und ich habe ihn gefragt, ob es eigentlich gerade schlechten Zeiten für den Frieden sind oder ob es doch auch gut ist, dass dieses ja auch von den Kirchen selber ein bisschen vernachlässigte Herzensthema wieder mehr in den Blick rückt.
Renke Brahms: Na, ich würde erst mal sagen, es sind schwere Zeiten, denn wenn wir an die Menschen denken, die jetzt betroffen sind in diesen aktuellen Situationen, egal, wo man hinguckt, in den Irak, nach Israel und Palästina oder in die Ukraine, dann sind es schwere Zeiten für den Frieden. Aber wir müssen heftig darüber reden und diskutieren, was wir dann an dieser Stelle tun können.
Dietrich: Was kann denn ein Friedensbeauftragter der Evangelischen Kirche überhaupt tun?
Brahms: Als Friedensbeauftragter der Evangelischen Kirche habe ich natürlich erst mal die Aufgabe, die Friedensarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland auch zu bündeln und zu stärken, so lautet mein Auftrag, das heißt, ich arbeite ganz stark zusammen mit Beauftragten aus den Landeskirchen, aus großen Einrichtungen wie "Brot für die Welt" oder Akademien.
Das heißt, wir diskutieren, wir überlegen, wie wir auch sehr praktisch handeln können, indem wir in Deutschland zum Beispiel Friedensfachkräfte unterstützen, indem wir Ausbildungen anbieten in verschiedenen Organisationen für Friedensfachkräfte oder auch für Jugendliche und Konfirmanden überlegen, wie sie Frieden lernen können, Frieden stiften können in ihrer ganz unmittelbaren Umgebung, in der Jugendgruppe, in der Schule oder anderswo. Also es geht um eine theologische, politische Auseinandersetzung und Thematisierung, aber durchaus um Unterstützung von sehr praktischen Schritten.
Zusammenarbeit mit der Bundeswehr – "miteinander ins Gespräch kommen"
Dietrich: Sie arbeiten mit Friedensfachkräften zusammen, Sie arbeiten auch mit der Bundeswehr zusammen.
Brahms: Der Rat der EKD hat beschlossen, dass der Vorsitz in der Konferenz der Friedensarbeit und der Vorsitz im Beirat für die evangelische Seelsorge in der Bundeswehr in einer Person zusammengebunden wird. Der Gedanke dabei ist, zwei unterschiedliche Kulturen, zwei möglicherweise auch oft als verschiedene Lager verstandene Gruppen auch im Gespräch miteinander zusammenzuführen. Und da sehe ich auch eine Aufgabe drin, das immer wieder zu tun, zu diskutieren. Wir sind gemeinsam für den Frieden verantwortlich, und insofern müssen wir auch immer miteinander ins Gespräch kommen, auch wenn es ganz unterschiedliche Meinungen an dieser Stelle in der Evangelischen Kirche gibt.
Dietrich: Dass es solche unterschiedlichen Meinungen gibt, das merkt man ja gerade so ganz plastisch: Bundespräsident Joachim Gauck, selber seines Zeichens evangelischer Pfarrer, hat angeregt, dass die Bundeswehr für friedenserhaltende Militäreinsätze sich stärker engagieren sollte, und es gab sofort harsche Kritik aus der Evangelischen Kirche, es gab einen Protestbrief von Pfarrern aus vor allen Dingen den ostdeutschen Landeskirchen. Wie stehen Sie denn in diesem Konflikt?
Brahms: Zunächst mal muss man genau hingucken, was der Bundespräsident gesagt hat, und ich weise immer gerne darauf hin, dass er die Worte des entschiedeneren und schnelleren Einsatzes und Engagements im Zusammenhang der Prävention gesagt hat. Und da würde ich ihm vollkommen recht geben. Wir müssen viel schneller und engagierter uns einsetzen für Prävention, damit Konflikte deeskaliert werden und wirklich entschärft werden.
Zu wenig Diskussion über zivile Konfliktlösungen
Aber – und das ist die andere Seite – man muss natürlich auch auf die Ursachen von Konflikten hinweisen. Das hat der Bundespräsident nicht so deutlich gemacht. Insofern ist das letzte Mittel eines militärischen Einsatzes immer daraufhin zu befragen: Ist es wirklich das alleräußerste Mittel? Und ich hätte mir gewünscht, dass die Debatte noch viel stärker sich fokussiert auf die Alternativen zu einer militärischen Logik.
Wie können wir Mittel der gewaltfreien, zivilen Konfliktbearbeitung stärken, Gerechtigkeit schaffen? Wie können wir Handelsbeziehungen so gestalten, dass Konflikte erst gar nicht entstehen? Das sind Dinge, die in die Debatte unbedingt hineingehören. Das hat vielleicht etwas gefehlt in der Rede, deswegen kann ich Kritik verstehen, aber ich würde ihn auch immer unterstützen an der Stelle, bei der es darum geht, die Debatte über diese Frage und die Friedensverantwortung Deutschlands auch wirklich zu führen.
Dietrich: Ist das aber nicht vielleicht einfach der realistischere Blick gewesen? Denn man guckt ja auf die meisten Konflikte wirklich erst, wenn eben die Frage nach Eingreifen, nach auch militärischem Eingreifen vor allen Dingen, herangetragen wird.
Brahms: Genau, das ist das Problem. Wir reagieren eigentlich oft zu spät und wir diskutieren diese Stelle an der letzten oder allerletzten Stelle. Den Fokus darauf zu legen, was können wir im Vorfeld tun, das ist, glaube ich, das Wichtige. Und natürlich tut Deutschland an dieser Stelle auch eine Menge, in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit, in der diplomatischen Arbeit, aber darauf noch viel Wert zu legen, auch in Konfliktsituationen…
Ich nenne ein Beispiel: Die ganze Debatte um die Rüstungsexportpolitik zeigt das ja in der Tat, hier muss viel restriktiver vorgegangen werden, denn wir merken in aktuellen Konflikten, dass wir Waffen oder Waffensysteme oder Fabriken in Länder liefern, aus denen dann Waffen weitergegeben werden in Konfliktherde, und damit feuern wir Konflikte noch wieder an. Also wir müssen viel früher anfangen und uns nicht immer von der allerletzten Frage nach der Ultima Ratio eines militärischen Einsatzes drängen lassen. Das ist natürlich wichtig, wie jetzt im Irak, aber das ist immer zu kurz gegriffen, wenn es um langfristige Betrachtung von Konflikten geht.
"Nicht immer zuerst auf das letzte Mittel gucken"
Dietrich: Jetzt ziehen Sie sich aber damit auch ein bisschen natürlich aus der aktuellen Situation raus. Sie haben das Beispiel Irak ja gerade genannt. Den Jesiden, die dort verfolgt werden, denen nutzt wahrscheinlich eine Debatte über Rüstungsindustrie nicht so viel, denen nutzen dann wirklich vielleicht militärische Eingriffe eher in ihrer direkten, bedrängten Verfolgungssituation.
Brahms: Ich verweigere mich nur einem Ansatz, der immer nur zuerst auf das letzte Mittel guckt. Deswegen sage ich immer und betone ich immer auch die anderen Wege der Prävention und der anderen politischen Mittel. Allerdings – natürlich, es gibt jetzt eine Situation im Irak, die grausam ist, furchtbar und erschreckend. Wenn wir die Bilder und Nachrichten sehen und hören der Verfolgten, Vertriebenen, Ermordeten, des drohenden Völkermordes oder vielleicht schon entstehenden oder vielleicht schon stattfindenden Völkermordes, dann können wir nicht untätig sein, dann muss sicherlich ein Eingreifen da sein.
Und das, was im Moment geschieht, ist bedauerlicherweise, sage ich, möglicherweise oder notwendigerweise so, aber es zeigt natürlich auch die langfristigen Folgen einer militärischen Intervention der sogenannten "Koalition der Willigen" im Irakkrieg, denn das, was wir heute sehen, sind die langfristigen Folgen davon.
"Waffenlieferung, auch durch Deutschland, völlig falsch"
Dietrich: Und jetzt sagt man ja, man hat daraus gelernt, man will gar nicht wieder neues Militär schicken, sondern dann lieber Waffen liefern an die, die sie dort in der Region selber handhaben können.
Brahms: Ich halte eine Lieferung von Waffen auch gerade durch Deutschland für völlig falsch. Wir haben uns in der Bundesrepublik Deutschland zu einer Rüstungsexportpolitik entschieden, politisch, die deutlich sagt, in solche Kriegs- und Krisenregionen nicht zu liefern. Dieser Linie muss man auch treu bleiben. Ich halte nichts davon, jetzt da Waffen hinzuliefern.
Dietrich: Wie abgekoppelt von den aktuellen Konflikten, wie grundsätzlich darf man als kirchlicher Friedensbeauftragter überhaupt denken und mahnen, wenn man von den politischen Akteuren noch gehört werden will?
Brahms: Ich glaube, dass wir als Kirche die Chance haben, grundsätzlich langfristig, perspektivisch und vielleicht auch manchmal wirklich mit Visionen für eine Friedenswelt zu denken und auch zu reden. Ich glaube auch nicht, dass es nicht gehört wird oder dass diese Rolle der Kirche nicht anerkannt wird. Es darf natürlich nicht vollkommen vorbei an aktuellen Situationen oder in naiver Weise geschehen, sondern auch fachlich begründet.
Aber ich glaube, wir haben diese Chance, an diesen Stellen auch noch mal langfristiger und grundsätzlicher zu denken und immer auch eine wirklich friedensethische Debatte einzufordern, und das gelingt ja auch immer mal wieder. Gucken Sie sich die Drohnendebatte an: Ich glaube schon, dass wir da als Kirchen auch eine Rolle gespielt haben in der Diskussion darum, dass wir wirklich eine ethische Debatte darüber führen. Also an solchen Stellen haben wir, glaube ich, als Kirche eine große Rolle.
Dietrich: Margot Käßmann, die ja keine ganz unbedeutende Stimme im Protestantismus ist, gerade wenn es um diese Debatten geht, die hat da gerade grundsätzlich eher von Wünschen gesprochen in einem "Spiegel"-Interview, hat gesagt, keine Bundeswehr wäre eigentlich die bessere Option – und wird dafür prompt ganz ordentlich abgewatscht dafür, dass das eine zu innerliche Perspektive sei, die das Leiden der Opfer gar nicht berücksichtigen würde.
Visionen unabhängig von der Realpolitik entwickeln
Brahms: Also ich kann mir auch gut eine Welt vorstellen, in der wir keine Bundeswehr brauchen. Das wäre doch sehr erstrebenswert und sehr schön. Dass das im Moment oder auch, ich sehe das auch auf lange Frist, nicht so möglich ist, umzusetzen, das ist die andere Seite. Aber sich noch mal auszumalen, wie könnten wir friedensethisch, friedenspolitisch Bewegungen unterstützen, stärken, viel mehr investieren, die auf eine andere Art an Konflikte herangeht – wunderbar. Das unterstütze ich sehr und das halte ich auch nicht für naiv oder unrealistisch.
Ich glaube, wir müssen den Blick auch ein Stück wenden von dieser ständigen, ja, Ultima-Ratio-Betrachtung von der Konfliktsituation, von den Konflikten, die wir jetzt aktuell sehen, und hingucken auf viele Entwicklungen, die wir viel früher beeinflussen könnten, auch international, durch Friedensfachkräfte, durch Polizei, durch Verwaltungsaufbau, durch gerechte Handelsbeziehungen und so weiter. Den Fokus immer wieder darauf zu legen und darauf hinzuweisen, halte ich für vollkommen richtig und überhaupt nicht naiv und unrealistisch.
Dietrich: Wie parteilich darf man dabei als Kirche sein? Also ist das überhaupt erlaubt, dann zu sagen, ich stelle mich jetzt mal auf die Seite dieser oder jener Gruppe? Also zum Beispiel Pax Christi, die katholische Friedensorganisation, macht das ja am aktuellen Gaza-Konflikt, wenn ich es richtig sehe, recht kompromisslos, indem sie sich auf die Seite der Palästinenser stellt und Israel als Angreifer scharf kritisiert. Darf man das dann in solchen Konflikten?
Israel-Palästina-Konflikt: "Tue mich schwer, mich auf eine Seite zu stellen"
Brahms: Also bei der grundsätzlichen Frage kommt es immer auf die Betrachtung an, und da gibt es möglicherweise Situationen, bei denen man sich schon auf eine Seite stellen kann. Beim Konflikt Israel-Palästina wage ich das ehrlich gesagt nicht, denn wenn ich mir die große Komplexität dieser Situation angucke, habe ich Schwierigkeiten, mich auf eine Seite zu stellen. Ich kann viele Motive und Argumente verstehen. Israel ist auf der einen Seite ein demokratischer Staat, er ist bedroht, er muss sich wehren gegen Angriffe. Gleichzeitig kann man und muss man Kritik üben an einer Besatzungspolitik und einer Siedlungspolitik.
Aber auf der anderen Seite – das, was die Hamas tut, das ist geradezu verbrecherisch, wie sie die eigene Bevölkerung sozusagen gefangen nimmt, wie sie auch eigene Gegner im Gazastreifen mundtot macht, die Raketenangriffe auf Israel, der Wille zur Vernichtung Israels. Also von daher ist … An dieser Stelle tue ich mich da sehr schwer, mich auf eine Seite zu stellen.
Was vollkommen klar ist, ist in diesem ganzen Konflikt nämlich die Frage, wie wir in Deutschland eigentlich damit umgehen, und da ist es allerdings wichtig, noch mal deutlich zu sagen: Das kann nicht sein, dass angesichts dieses Konfliktes wieder alter, latenter Antisemitismus auftaucht und auf den Straßen in Parolen gerufen wird. Dagegen müssen wir uns allerdings hier vor Ort wehren, denn wenn wir es vor Ort nicht hinkriegen, angesichts dieses Konfliktes friedlich mit unterschiedlichen Meinungen umzugehen, wie sollen wir es da erwarten, dass das in Israel und Palästina geschehen kann?
Dietrich: Frieden – eine Herausforderung, auch für die Kirchen. Ich sprach mit Renke Brahms, Friedensbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.