Konfrontation zweier Kapitäne
Herman Melville, Verfasser des unvergleichlichen "Moby Dick", hat seine parabelhaften Geschichten immer wieder auf hoher See spielen lassen. Auch "Benito Cereno", erschienen 1855, erzählt von der Konfrontation zweier Kapitäne. Nun ist das Werk als Hörbuch erschienen.
1799. Ein Schiff dümpelt im Morgendunst vor den Klippen einer kleinen Insel, irgendwo am südamerikanischen Ende der Welt. Kapitän Amasa Delano, der selbst einen großen Robbenfänger befehligt, vermutet, das fremde Schiff sei in Seenot geraten und lässt sich in einem Boot hinrudern. Je näher er kommt, desto unheimlicher und verwahrloster wirkt das Schiff. Klumpen von Muscheln kleben am Rumpf wie Geschwulste. Darüber prangt der Name "SAN DOMINICK".
"Jeder Buchstabe streifig zerfressen vom herabrinnenden Rost der Kupfernägel, und bei jedem leichenwagengleichen Rollen des Schiffsrumpfs glitschten dunkle Girlanden aus Seegras wie schleimiger Trauerflor über den Namen."
Keine guten Vorzeichen. Delano geht an Bord. Und befindet sich plötzlich zwischen vielen Schwarzen und beunruhigend wenigen Weißen. Ein Sklavenschiff – aber niemand liegt in Ketten. Man habe entsetzliche Stürme mitgemacht, viele seien gestorben, erfährt er. Der Kapitän, Benito Cereno, ist schwer gezeichnet von Krankheit. Leichenblass und hustend gibt er Auskünfte, während sein Diener Babo ihm nicht von der Seite weicht:
"Sein Diener stützte ihn, zog ein herzstärkendes Mittel aus der Tasche und setzte es ihm an die Lippen. Er belebte sich etwas. Der Schwarze jedoch umschlang seinen Herrn weiterhin mit einem Arm und sah ihm unverwandt ins Gesicht, wie um die ersten Anzeichen einer völligen Erholung oder eines etwaigen Rückfall gleich zu erkennen. Der Spanier sprach weiter, stoßweise und verworren, wie in einem Traum. ‚O mein Gott! Mit Freuden hätte ich die schrecklichsten Stürme willkommen geheißen, statt auszustehen, was ich durchgemacht, aber.’"
Merkwürdig genug: ein königlich anmutender Schwarzer neben einem verstörten, totenbleichen Kapitän. Delano spürt: Hier stimmt etwas nicht! Aber er kann die Zeichen nicht lesen. Als personifizierte Gutmütigkeit ist er blind für das Böse. Der Hörer muss selbst zum Spurenleser werden, um die Wahrheit hinter der Fassade zu erfassen.
Wenn Babo seinen Kapitän keine Sekunde aus den Augen lässt, sieht Delano darin nicht die Überwachung, sondern ein Bild rührender Treue. Seine Sätze über die friedfertigen, dienstfertigen und kindlich anhänglichen "Neger" entsprechen der legitimierenden Menschenkunde einer Sklavenhaltergesellschaft:
"Die meisten Neger sind die geborenen Kammerdiener und Friseure; der Umgang mit Kamm und Bürste ist ihnen ebenso natürlich wie der mit Kastagnetten. Übertroffen wird das alles aber von der großen Gabe ihrer guten Laune. Das meint kein bloßes Grinsen oder Lachen. Sondern eine gewisse ungezwungene Heiterkeit, die in jedem Blick und jeder Bewegung harmonisch schwingt, als habe Gott den ganzen Neger auf eine hübsche Melodie gestimmt."
Aber Babo, der Anführer der Aufständischen auf der "San Dominick", ist mit seiner kalten Intelligenz das Gegenteil des liebenswürdigen "Onkel Tom" – eine Durchkreuzung rassistischer Klischees, die heute selbst als politisch unkorrekt empfunden werden kann. Die Motivierung der Grausamkeiten hat indes im Senegal mit dem Brandeisen stattgefunden.
Christian Brückner ist ein erprobter Melville-Vorleser: unvergessen seine fulminante Darbietung des kompletten "Moby-Dick". Als Meister der dunklen Zwischentöne erweist er sich auch bei "Benito Cereno". Vertrauensselig und energisch gibt er den Amasa Delano; heiser und gepresst den schwindsüchtigen Benito Cereno; mit hinterhältiger Aufgeräumtheit den beflissenen Babo. Beklommen hört man der zentralen Rasierszene zu. Eine perfide Inszenierung: Don Benito soll Auskünfte erteilen, während Babo die Klinge führt.
"Und der Stahl blinkte nahe der Kehle. Wieder schauderte Don Benito leicht. Ihr dürft nicht so zittern, Herr. Seht Ihr, Don Amasa, immer zittert der Herr, wenn ich ihn rasiere. Dabei weiß der Herr doch, dass ich ihn noch nie geschnitten habe, doch wenn der Herr weiter zittert, kann’s einmal leicht so gehen. ‚Und jetzt, Don Amasa, sprecht bitte weiter von dem Sturm und all dem, der Herr kann zuhören, und zwischendurch kann der Herr antworten.#"
Die Assoziation eines Scharfrichters mit seinem Opfer verdrängt Delano gleich wieder. Er hält das befremdliche Verhalten Benito Cerenos mal für das Resultat der Krankheit, mal für Unhöflichkeit und Verschlossenheit, mal für "Geistesstörung" und glaubt am Ende gar, der Spanier habe heimtückische Absichten gegen ihn. Stumme Zeichen, vielsagende Blicke - "Benito Cereno" ist ein Meisterwerk der Doppeldeutigkeit, mit den besten Novellen Kleists zu vergleichen.
Melville hat in der Geschichte des Sklavenaufstands den Grundkonflikt der auf den Bürgerkrieg zutreibenden amerikanischen Gesellschaft verdichtet. Nach spannungstreibenden Verzögerungen läuft die Novelle schließlich auf eine gewaltsame Entladung zu.
Die Erzählung lässt sich auch auf heutige Geiselnahmen übertragen: verzweifelte Menschen im Griff einer rachsüchtigen Wut. Gelesen von Christian Brückner, ist "Benito Cereno" aber zunächst und vor allem eins: ein literarischer Hörgenuss.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Herman Melville: Benito Cereno
Novelle. Deutsch von Michael Walter. Ungekürzt gelesen von Christian Brückner. Parlando Verlag 2011, 4 CDs, 280 Minuten, 24,99 Euro
"Jeder Buchstabe streifig zerfressen vom herabrinnenden Rost der Kupfernägel, und bei jedem leichenwagengleichen Rollen des Schiffsrumpfs glitschten dunkle Girlanden aus Seegras wie schleimiger Trauerflor über den Namen."
Keine guten Vorzeichen. Delano geht an Bord. Und befindet sich plötzlich zwischen vielen Schwarzen und beunruhigend wenigen Weißen. Ein Sklavenschiff – aber niemand liegt in Ketten. Man habe entsetzliche Stürme mitgemacht, viele seien gestorben, erfährt er. Der Kapitän, Benito Cereno, ist schwer gezeichnet von Krankheit. Leichenblass und hustend gibt er Auskünfte, während sein Diener Babo ihm nicht von der Seite weicht:
"Sein Diener stützte ihn, zog ein herzstärkendes Mittel aus der Tasche und setzte es ihm an die Lippen. Er belebte sich etwas. Der Schwarze jedoch umschlang seinen Herrn weiterhin mit einem Arm und sah ihm unverwandt ins Gesicht, wie um die ersten Anzeichen einer völligen Erholung oder eines etwaigen Rückfall gleich zu erkennen. Der Spanier sprach weiter, stoßweise und verworren, wie in einem Traum. ‚O mein Gott! Mit Freuden hätte ich die schrecklichsten Stürme willkommen geheißen, statt auszustehen, was ich durchgemacht, aber.’"
Merkwürdig genug: ein königlich anmutender Schwarzer neben einem verstörten, totenbleichen Kapitän. Delano spürt: Hier stimmt etwas nicht! Aber er kann die Zeichen nicht lesen. Als personifizierte Gutmütigkeit ist er blind für das Böse. Der Hörer muss selbst zum Spurenleser werden, um die Wahrheit hinter der Fassade zu erfassen.
Wenn Babo seinen Kapitän keine Sekunde aus den Augen lässt, sieht Delano darin nicht die Überwachung, sondern ein Bild rührender Treue. Seine Sätze über die friedfertigen, dienstfertigen und kindlich anhänglichen "Neger" entsprechen der legitimierenden Menschenkunde einer Sklavenhaltergesellschaft:
"Die meisten Neger sind die geborenen Kammerdiener und Friseure; der Umgang mit Kamm und Bürste ist ihnen ebenso natürlich wie der mit Kastagnetten. Übertroffen wird das alles aber von der großen Gabe ihrer guten Laune. Das meint kein bloßes Grinsen oder Lachen. Sondern eine gewisse ungezwungene Heiterkeit, die in jedem Blick und jeder Bewegung harmonisch schwingt, als habe Gott den ganzen Neger auf eine hübsche Melodie gestimmt."
Aber Babo, der Anführer der Aufständischen auf der "San Dominick", ist mit seiner kalten Intelligenz das Gegenteil des liebenswürdigen "Onkel Tom" – eine Durchkreuzung rassistischer Klischees, die heute selbst als politisch unkorrekt empfunden werden kann. Die Motivierung der Grausamkeiten hat indes im Senegal mit dem Brandeisen stattgefunden.
Christian Brückner ist ein erprobter Melville-Vorleser: unvergessen seine fulminante Darbietung des kompletten "Moby-Dick". Als Meister der dunklen Zwischentöne erweist er sich auch bei "Benito Cereno". Vertrauensselig und energisch gibt er den Amasa Delano; heiser und gepresst den schwindsüchtigen Benito Cereno; mit hinterhältiger Aufgeräumtheit den beflissenen Babo. Beklommen hört man der zentralen Rasierszene zu. Eine perfide Inszenierung: Don Benito soll Auskünfte erteilen, während Babo die Klinge führt.
"Und der Stahl blinkte nahe der Kehle. Wieder schauderte Don Benito leicht. Ihr dürft nicht so zittern, Herr. Seht Ihr, Don Amasa, immer zittert der Herr, wenn ich ihn rasiere. Dabei weiß der Herr doch, dass ich ihn noch nie geschnitten habe, doch wenn der Herr weiter zittert, kann’s einmal leicht so gehen. ‚Und jetzt, Don Amasa, sprecht bitte weiter von dem Sturm und all dem, der Herr kann zuhören, und zwischendurch kann der Herr antworten.#"
Die Assoziation eines Scharfrichters mit seinem Opfer verdrängt Delano gleich wieder. Er hält das befremdliche Verhalten Benito Cerenos mal für das Resultat der Krankheit, mal für Unhöflichkeit und Verschlossenheit, mal für "Geistesstörung" und glaubt am Ende gar, der Spanier habe heimtückische Absichten gegen ihn. Stumme Zeichen, vielsagende Blicke - "Benito Cereno" ist ein Meisterwerk der Doppeldeutigkeit, mit den besten Novellen Kleists zu vergleichen.
Melville hat in der Geschichte des Sklavenaufstands den Grundkonflikt der auf den Bürgerkrieg zutreibenden amerikanischen Gesellschaft verdichtet. Nach spannungstreibenden Verzögerungen läuft die Novelle schließlich auf eine gewaltsame Entladung zu.
Die Erzählung lässt sich auch auf heutige Geiselnahmen übertragen: verzweifelte Menschen im Griff einer rachsüchtigen Wut. Gelesen von Christian Brückner, ist "Benito Cereno" aber zunächst und vor allem eins: ein literarischer Hörgenuss.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Herman Melville: Benito Cereno
Novelle. Deutsch von Michael Walter. Ungekürzt gelesen von Christian Brückner. Parlando Verlag 2011, 4 CDs, 280 Minuten, 24,99 Euro