Kongress "Desintegration" in Berlin

Zeitgenössische jüdische Identitäten

Zwei kleine Jungen mit Kippa
"Wir sind in der dritten Generation nach Hitler", betonte Michel Friedmann auf dem Kongress, Deutschland habe sich gewandelt. © picture alliance / dpa / Daniel Bockwoldt
Von Peter Kaiser |
Heutigen jüdischen Identitäten ging der Kongress "Desintegration" im "Studio" des Maxim Gorki-Theaters in Berlin-Mitte auf den Grund. Zentral war die Frage, ob die jüdische und die deutsche Seele voneinander zu trennen sind.
Was ist der gemeinsame Nenner jüdischer Identität? Sind die deutsche und die jüdische Seele voneinander zu trennen? Diese und andere Fragen zu zeitgenössischen jüdischen Positionen wurden drei Tage lang kürzlich auf dem Kongress "Desintegration" im "Studio" des Maxim Gorki-Theaters in Berlin-Mitte diskutiert. Alle waren herzlich zum Kongress eingeladen, stand im Flyer ganz unten, und dann etwas verwirrend: Komma, sogar Deutsche. Der Kongresskurator Max Czollek sagt dazu...
"Das ist noch mal eine polemische Illustration dessen, was wir hier eigentlich probieren. Nämlich auf einer politischen Ebene, jüdischen Ebene, eine jüdische Position zu unterscheiden von einer deutschen."
Das Kernproblem des Kongress wurde schnell deutlich, nämlich der abgehobene, nicht jedem nachvollziehbare durchpolitisierte Sprachduktus, der an die gespreizten Tiraden der 68er-Generation erinnert. Auf Nachfrage, was diese Aussage zu bedeuten hat, erläutert Max Czollek...
"… zum Beispiel bei der Genderdebatte wären es Männer und Frauen. Also ich mache ein feministisches Podium, und ich sage: es sind alle eingeladen, auch Männer. Uns geht es bei diesem Kongress eben auch darum, einen jüdischen Raum zu generieren."
Jener "jüdische Raum", was immer das auch ist, war am zweiten Veranstaltungsabend gut besucht, so beim Streitgespräch "Ghettojude" mit Michel Friedman und Sasha Marianna Salzmann. Gut dabei, dass die Idee, die Besucher des Gespräches mit "Judenvoyeur" oder "Ghettojude" am Eingang zu bezeichnen, eher wohl ein schlechter Witz war.

Teilweise widersprüchliche Identitäten

Eigentlich ist die zentrale Frage des Kongresses die gewesen, ob die jüdische und die deutsche Seele voneinander zu trennen sind? Gibt es die eine Identität und dann die andere? Oder ist beides wie in einem osmotischen Vorgang miteinander vermischt? Etwas abseits vom Kongressgeschehen sagt der Soziologe Michal Bodemann von der Universität Toronto dazu...
"Die deutsche und die jüdische Seele sind nicht zu trennen. Wir haben eine Minorität, die in Deutschland lebt, und sie beeinflussen sich wechselseitig. Aber vor allem auch beeinflusst das deutsche Ambiente natürlich eine Minorität, die hier lebt. Das gilt für die Juden so gut wie für die Türken und andere Minoritäten hier auch. Man muss anerkennen, dass Juden natürlich die Minorität par excellence in Deutschland waren."
Der Philosoph, Publizist, Jurist und Fernsehmoderator Michel Friedmann fügt an...
"Es gibt wie in jedem Leben eine Vielzahl von Identitäten, die teilweise widersprüchlich sind, teilweise aber auch in einem tiefen Konflikt zueinander stehen. Es ist, glaube ich, nachvollziehbar, dass nach der Shoa und Hitler eine Übereinstimmung zwischen jüdischer Identität und der Identität, ich bin ein deutscher Jude, nicht a priori harmonisch verlaufen kann.
Es gibt dazu auch in den Familiengeschichten zu viele Wunden. Schauen Sie, ich bin das Kind von Holocaustüberlebenden. Ich habe mit meinen Eltern erfahren, was es bedeutet hat, was Deutsche anderen angetan haben. Und trotzdem bestehe ich darauf, dass ich bestimme ich bin ein Deutscher, ich habe den deutschen Pass, und mir das niemand von außen absprechen kann."

Kongress-Fazit: Nicht immer leicht verständlich

Professor Bodeman meint, besonders in Deutschland sind eben Terrains entstanden, die Juden und Deutsche zusammen kreieren.
"Nehmen wir mal zum Beispiel das Jüdische Museum. Das Jüdische Museum hat hier zehn festangestellte jüdische Leute, und 100 Festangestellte, die nicht jüdisch sind insgesamt. Aber dieses Terrain wird zusammen geschaffen dadurch, dass eine deutsche Perspektive reinkommt, eine jüdische Perspektive, und aus dieser heraus eine Institution entsteht."
Michel Friedmann: "Wir sind im Jahre 2016, und das Jahr 2016 bedeutet, wir sind in der dritten Generation nach Hitler. Und auch bei allen Rückschlägen, die wir jetzt beispielsweise mit der AfD auch erleben, muss man trotzdem feststellen, dass das Jahr 2016 ein anderes Deutschland ist. Und das ist keine quantitative Bewertung, sondern eine qualitative Bewertung. Wir sind mit allen Rückschlägen und Schwächen eine Demokratie, die es versucht."
Das Fazit des Kongresses ist: Er war wichtig und richtig. Denn besonders in diesen unruhigen Zeiten hilft eine Überprüfung der Positionen deutscher und jüdischer Identitäten, die Kommunikation zwischen diesen Minoritäten und der Majorität hier zu verbessern. Denn noch immer gibt es viel Unverständliches, Verschwiegenes und Verdrehtes. Wichtig ist nur: es klar und leicht verständlich auszusprechen. Das könnte das Ziel eines neuen Kongresses im nächsten Jahr sein.
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