Konjunktur 2014

Zwischen Kaufrausch und Krisendämmerung

Zwei Passanten gehen in den Potsdamer Platz Arkaden in Berlin an einem Schaufenster vorbei, in dem mit hohen Preisnachlässen geworben wird.
Das Jahr 2014: Erst kleines Wirtschaftsunder, jetzt Krisenstimmung © picture-alliance / dpa / Daniel Karmann
Von Erik Albrecht |
Lohnsteigerungen, Beschäftigungsrekorde, Konsumlust - die Deutschen starteten optimistisch ins Jahr 2014. Was aber ist vom Wirtschaftswunder übrig geblieben? Ein wirtschaftlicher Jahresrückblick von A wie Arbeit bis Z wie Zinsen.
Dase: "Ich finde es sehr, sehr schön, dass es eben auch die Möglichkeit besteht für einen Friseur, sich auch seine Leistung bezahlen zu lassen, durch diesen Mindestlohn."
Schmitt: "Zumal ja jetzt auch Strafzinsen geplant sind auf Guthaben. Gut für die kleinen Anleger noch nicht, aber man weiß es ja nicht. Und fürs Geldanlegen gibt es ja nichts."
Stellbrink: "Ich hab mich etwas länger beworben. Man hat ja hier mittlerweile ziemlich viel Auswahl. Das hat etwas länger gedauert. Aber ich hab ja hier das richtige gefunden. Und das macht ja Spaß."
Unter Volldampf durch das Jahr 2014. Deutschland als Wachstumslokomotive für ganz Europa. Wäre die deutsche Wirtschaft tatsächlich ein Zug, wäre er länger als je zuvor. Güterwaggons soweit das Auge reicht. Dahinter die Abteile der ersten und zweiten Klasse – so voll wie selten. Noch nie hat die deutsche Wirtschaft mehr Menschen beschäftigt. Noch nie hat sie mehr produziert.
Lohnsteigerungen, Beschäftigungsrekorde und Konsumlust bei Niedrigzinsen – die Deutschen starteten optimistisch ins Jahr 2014. Max Mustermann, der Durchschnittsdeutsche mit den wohl meisten Kreditkarten im Land – hatte mehr Arbeit und auch mehr in der Tasche. Das Plus trug er förmlich säckeweise in die Geschäfte – oder ins Internet. Mustermann – und irgendwie sind wir eben alle auch ein wenig Max Mustermann – musste sich eigentlich nur noch einen lauschigen Fensterplatz suchen, um das kleine deutsche Wirtschaftswunder zu genießen.
Grabka: "Wenn man die wirtschaftliche Situation in Deutschland in einem kurzen Statement zusammenfassen wollte, dann könnte man schon sagen, dass Deutschland sich auf der Sonnenseite dieses Jahr befunden hat."
Hohlfeld: "Es war ein durchwachsenes Jahr. Nach einem erfreulich guten Auftakt zu Jahresbeginn hat sich dann im Sommerhalbjahr doch eine Stagnation eingestellt."
Herzog-Stein: "2014 war insgesamt ein gutes Jahr. Wir sollten uns das Jahr nicht schlecht reden lassen. Es war ein gutes Jahr. Es hätte aber noch besser sein können. Und wir sollten mit dem guten nicht zufrieden geben. Es ist kein Jahr, in dem man sich zurücklehnen kann. Die wirtschaftliche Dynamik hätte besser sein können."
2014 – zwischen Wachstum und Stagnation. Dabei fing alles so gut an: Mehr Arbeit, mehr Lohn, mehr Konsum. Nur der Blick in die Zeitung erinnerte Max Mustermann daran, dass es längst nicht überall wirtschaftlich so rund lief wie in Deutschland.
Für Mustermanns südeuropäische Verwandten war auch im sechsten Jahr kein Ende der Eurokrise absehbar. Die Ukraine kämpfte nach dem Sturz des korrupten Präsidenten Viktor Janukowitsch gegen Separatisten, die massiver von Russland unterstützt wurden. Binnen eines Jahres halbierte sich der Wert der Landeswährung Hriwna. Für Petro Petrenko, den ukrainischen Durchschnittsbürger, wurden selbst Grundnahrungsmittel oft kaum noch erschwinglich.
In Deutschland dagegen konnte sich Max Mustermann wie auf einer Insel der Glückseeligen fühlen. Doch welche Insel? Europa ist nicht zuletzt durch eine gemeinsame Währung eng vernetzt. Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine tobte in direkter Nachbarschaft. Und so brauten sich auch um Deutschland die dunklen Wolken einer Rezession zusammen – zunächst unbemerkt von Mustermann. Aber der Reihe nach.
Das kleine deutsche Wirtschaftswunder
Zu Beginn des Jahres war das kleine deutsche Wirtschaftswunder in Ordnung. Wer nicht im Vorstand des skandalerschütterten ADAC saß, brauchte sich um seinen Job in der Regel wenig Sorgen zu machen. Der Winter war mild. Deutschland steuerte auf Beschäftigungsrekorde zu.
Max Mustermann musste umso stärker ranklotzen. 2014 bekam er das sogar schriftlich. Auch wenn die Gesamtzahl in den vergangenen Jahren kontinuierlich gesunken ist: Laut einer EU-Studie machen in keinem Land der Eurozone Arbeitnehmer mehr Überstunden als in Deutschland – im Schnitt knapp drei pro Woche. Und nicht mal jeder zweite bekommt seine Mehrarbeit auch bezahlt.
Manchmal schuftete Max Mustermann tatsächlich für zwei. Denn immer mehr Unternehmen klagten 2014 über fehlende Fachkräfte.
"Aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive haben wir keinen Fachkräftemangel, das muss man einfach so sagen. Sonst müsste man es ganz klassisch in der Lohnentwicklung sehen. Und da wird immer der Einwand gebracht, na ja, das sieht man nicht so kurzfristig. Aber wir sehen das jetzt schon seit mehreren Jahren nicht, dass wir da keinen Fachkräftemangeleffekt sehen, keine Dynamisierung bei den Löhnen. In einzelnen Branchen oder Regionen mag das ganz anders sein ..."
... sagt Alexander Herzog-Stein vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.
Stellbrink: "Die Halterung für die Schienen, die mein Kollege gleich zusammenflext oder auseinanderschneidet, zu befestigen, damit da dann ein sicherer Halt ist für das Außengerät. Das ist 40 Kilo schwer. Muss ja ein bisschen was halten. Und danach: weiß ich noch nicht."
Woher auch? Schließlich hat Philipp Stellbrink gerade erst seine Lehre beim Kältebauunternehmen Herber und Petzel begonnen. Noch tut er meist nur, was ihm der Monteur Klaus Stallmach sagt:
"So, jetzt hier eine Wasserwaage drauf, dass wir die Höhe rauskriegen. Und dann von da nach da."
Sorgfältig verschraubt Stellbrink anschließend die Eisenschiene auf Über-Kopf-Höhe in der Wand der engen Kellertreppe des Münsteraner Priesterseminars. Dann wuchten er und Kältebaumeister Stallmach die Klimaanlage mit einem Mini-Kran auf die Halterung. Mit seinen zwei Metern braucht der 22-Jährige die Leiter dabei kaum. Er ist einer von vier Auszubildenden bei Herber und Petzel. Jeden einzelnen von ihnen verbucht Katharina Schaffstein, die Juniorchefin des Familienunternehmens, als persönlichen Erfolg. Denn der Wettbewerb um den Nachwuchs wird in der Branche mit immer härteren Bandagen geführt:
"Wir haben auch schon erlebt, dass ein Wettbewerber einen Azubi noch während der Ausbildung abwerben wollte. Und hinterher, wenn die fertig sind, sowieso. Das ist schon ein großer Kampf."
Stellenangebote auf Zetteln stecken in einer Wandtafel mit der Überschrift "Ausbildungsangebote" am Donnerstag (12.04.2012) in Berlin im Berufsinformationszentrum (BIZ) der Agentur für Arbeit im Arbeitsamt Mitte in der Friedrichstraße. 
Azubis dringend gesucht: Es gibt einen regelrechten Wettbewerb um gute Schulabgänger.© picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Gute Wirtschaftsdaten, wenig Schulabgänger und eine hohe Studienquote: Wie so viele Unternehmen im Münsterland, spürte auch Herber und Petzel 2014 den Fachkräftemangel, sagt Katharina Schaffstein. Die Zeiten, in denen ihre Eltern die Bewerbungen körbeweise von der Post abgeholt haben, seien längst vorbei:
"Die Auswahl ist geringer. Und die jungen Leute bringen ihre eigenen Vorstellungen mit. Und da muss man sich sicherlich in der Mitte treffen und beide Vorstellungen zusammenbringen. Die wollen natürlich auch eine gute Ausbildung haben, wollen viel erleben und wollen einen abwechslungsreichen Job haben. Und das versuchen wir natürlich zu gewährleisten."
Händeringend gesucht und von vielen Seiten umworben: In zwei Jahren wird auch Philipp Stellbrink zur viel zu seltenen Spezies Facharbeiter gehören. Doch schon 2014 dürfte der Lehrlingsmangel die Suche nach einem Ausbildungsplatz so einfach wie noch nie gemacht haben.
Stellbrink: "Ja, eben nicht. Man will ja das Richtige finden. Und wenn es vieles gute gibt und vieles irgendwie nicht und dann erstmal das Richtige herauszufinden, was man auch kann selber, wo die Stärker liegen und wo der Spaß liegt. Das ist denke ich das schwierige, dann das perfekt richtige herauszufiltern."
Eigentlich ein Luxusproblem.
"Ja, das würde ich auch so sagen."
Noch im Frühjahr schien nichts die deutsche Wirtschaft bremsen zu können. Ob Ukraine- oder Euro-Krise: Deutschland schien all das auf unerklärliche Weise nicht zu betreffen. Von Zukunftsängsten keine Spur. Die Unternehmen erwarteten auch weiterhin kräftige Gewinne. Für Max Mustermann bedeutete das im Schnitt 2,3 Prozent mehr Lohn. Kräftige Lohnerhöhungen seien das aber nicht, meint Alexander Herzog-Stein:
"Die Nominallöhne wachsen, aber gegeben die starke Wirtschaftsentwicklung würde man sich als Wirtschaftsforscher eine stärkere Dynamik erwarten und wünschen. Da sehen wir einfach in den Zahlen, dass abnehmende Tarifbindung schon dämpfend auf die gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung in Deutschland wirkt."
Arbeitslose und Wohngeldempfänger spüren nichts vom Aufschwung
Die Schere ging 2014 weiter auseinander: Wer nach Tarif bezahlt wird, konnte sich 2014 über drei Prozent und mehr freuen. Ohne Tarifbindung stiegen die Löhne dagegen deutlich geringer. Wer wie Wohngeldempfänger oder Arbeitslose Geld vom Staat bekomme, habe überhaupt nicht vom wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands profitieren können, sagt Markus Grabka vom DIW, dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin:
"Wir haben weiterhin mehr als eine Millionen Arbeitslose, die länger als ein ganzes Jahr lang arbeitslos sind und eben leider nicht an diesem schönen Arbeitsmarktaufschwung entsprechend teilhaben können."
"Fortbildungsakademie der Wirtschaft, Seidler am Apparat."
Dominik Seidler sitzt heute am Empfang. Der 33-Jährige war jahrelang arbeitslos. Jetzt macht er in Berlin eine überbetriebliche Ausbildung zum Bürokaufmann. Bislang laufe alles ganz okay, sagt Seidler bescheiden. Richtig gut seien seine Noten bei der Zwischenprüfung gewesen, widerspricht seine Betreuerin Elfriede Lehmke von der Fortbildungsakademie und schüttelt fast ungläubig den Kopf. Ein hausinternes Praktikum war Seidlers große Chance:
"Und dann ist hier quasi so ein Klebeeffekt erfolgt. Er sollte eigentlich kurz aushelfen. Und dann haben die aber gesagt, macht er ja ganz toll und läuft super. Und der passt hier gut rein. Und seitdem absolviert Herr Seidler eigentlich seine betrieblichen Ausbildungsphasen in der FAW."
Der Klebeeffekt – für Elfriede Lehmke ist er Sinn und Ziel ihrer Arbeit. Tatsächlich fänden gerade jüngere Menschen in kaufmännischen und handwerklichen Berufen derzeit leichter einen Job, sagt sie:
"Andererseits gibt es Menschen mit Handicap. Für die bleibt es schwer. Dazu gehört eben Alter. Für Leute über 50 ist es ganz schwierig."
Übernahmeangebot hin oder her – auch für Dominik Seidler bleibt der Druck hoch. Er weiß: Wirklich geschafft wird er es erst haben, wenn er einen Arbeitsvertrag in der Tasche hat.
"Also ich bin zumindest nicht der Typ, der alles nur auf einer Karte setzt. Und der sagt, och, ich hab jetzt hier einen Fuß drin und das ist ja alles so bequem. Klar gucke ich auch auf dem Arbeitsmarkt, wie weit würde ich kommen."
Deutschland – ein Sommermärchen. Diesmal mit Happy End. Max Mustermann ist im WM-Fieber. Sein Geld gibt er verstärkt für Bier und Beamer oder zumindest Großbildfernseher aus – um perfekt genießen zu können, wie das Runde möglichst oft ins Eckige rollt. Spätestens beim 7:1 der deutschen Nationalmannschaft im Halbfinale gegen Brasilien, dürfte sich für die meisten jeder Zoll des neuen Bildschirms gelohnt haben. Doch dann platzen in die gute Stimmung in Deutschland doch noch die schlechten Nachrichten aus dem Rest der Welt.
Konsumenten lassen sich von Europas Rezession nicht beirren
Die Russland-Sanktionen und die schwache Konjunktur in der Eurozone erreichen mit Verspätung die deutschen Unternehmen. Die Geschäftserwartungen brechen ein. Das Wirtschaftswachstum stockt. Um ein Haar wäre die Wirtschaft geschrumpft. Max Mustermann zückt als Retter in der Not die Kreditkarte:
"Guten Tag, Deutschlandradio. Was haben Sie sich dieses Jahr geleistet?"
"Geleistet? Ich hab mir ein Auto geleistet dieses Jahr."
"Und wir haben uns einen Urlaub geleistet. Im Zillertal waren wir dieses Jahr im September."
"Viel zu viel Arbeit."
"Viel zu viel Arbeit, ja."
"Eigentlich gar nicht viel. Nur für die Kinder so ein bisschen was zu Weihnachten. Aber sonst: Irgendwie große Ausgaben haben wir nicht gemacht. Außerdem sind wir Rentiere und da ist es nicht mit dem Geld so groß."
"Ein Auto. Ein Skoda City Go."
"Wir haben uns eine neue Terrasse geleistet. Eine wunderschöne! Nicht für die Jahreszeit, aber wir freuen uns auf den Sommer."
Hohlfeld: "Dass es nicht schlimmer gekommen ist als diese Stagnation, ist den Konsumenten zu verdanken. Denn die haben über das Jahr hinweg deutlich vermehrt nachgefragt und konsumiert und das war praktisch die Stütze der Konjunktur."
Konsum.
"Hintergrund, warum diese Konsumfreudigkeit angehalten hat, ist, dass einmal der Arbeitsmarkt natürlich sehr gut intakt ist."
Arbeitsmarkt.
"Wir haben trotz des relativ geringen Wirtschaftswachstums gute Zahlen auf dem Arbeitsmarkt."
Wirtschaftswachstum.
"Das motiviert natürlich - flankiert durch höhere Einkommen dann natürlich auch die Konsumlust."
Konsum schafft Wirtschaftswachstum schafft Arbeitsplätze schafft neuen Konsum. Der Kauf-Dich-glücklich-Kreislauf der Wirtschaft – 2014 ist er rund gelaufen, sagt Peter Hohlfeld vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung in Düsseldorf. Jahrelang hatte Max Mustermann seine Kreditkarte nur auf Werbeprospekten zur Schau gestellt. 2014 kaufte er kräftig damit ein. Knapp zwei Prozent Wachstum erwartet der Einzelhandel – vor allem bei Elektronik und Autos schlugen die Deutschen zu.
Langsam schraubt sich die Plattform im Inneren des runden Glasturms hoch. In einer der oberen Etagen kommt sie zum Halt. Ein Greifarm zerrt einen schwarzen VW Polo auf den Lastaufzug. Fast lautlos gleitet er an 400 anderen Neuwagen vorbei. Keiner von ihnen wird länger als zwei Tage auf seinen Käufer warten. 160.000 Fahrzeuge finden so Jahr für Jahr den Weg zum Kunden. Die beiden Autotürme sind das Herz der sogenannten Autostadt in Wolfsburg, die die Werksabholung zum Erlebnis machen soll.
"Wenn man 400 Kilometer fährt, dann möchte man ja nicht nur das Auto abholen und wieder fahren. Dann möchte man schon noch einiges sehen hier."
... sagt Thomas Schmitt aus der Nähe von Bonn. Auf ihn wartet irgendwo in einem der Türme ein VW Tiguan – Farbe Peppergray Metallic.
Der Zusammenhang zwischen Konsumlaune, Wirtschaftswachstum und Arbeitsmarkt – in den beiden knapp 50 Meter hohen Glastürmen wird er plastisch. Über 800.000 Menschen leben in Deutschland vom Autobau. Knapp 400 Milliarden Euro setzt die Branche Jahr für Jahr um. Je öfter der führerlose Aufzug im Inneren der Türme auf- und abgleitet, desto besser für die deutsche Konjunktur. Unten angekommen schiebt der Greifarm den Polo auf einen Waggon. Dann verschwindet er über ein Förderband in den Tiefen der Autostadt – auf dem Weg zum ersten Straßenkontakt:
"Es passt bei uns einfach alles zusammen. Zum einen weil wir den Wagen eh wechseln wollten, umstellen auf einen Diesel. Dann die Niedrigzinsen. Für den Altwagen haben wir noch einen guten Preis erzielt. Von daher war das für uns einfach der richtige Zeitpunkt."
Ob der Zeitpunkt wirklich so gut gewählt war, dürfte Schmitt an diesem Morgen nochmals kritisch hinterfragt haben. Um Viertel vor Vier musste er sich mit Frau und Tochter aus dem Rheinland auf den Weg nach Wolfsburg machen. Doch generell liegt Schmitt voll im Trend. Während die Experten noch rätselten, ob Deutschland 2014 in die Rezession rutscht, machte er wie so viele beim Autohändler Nägel mit Köpfen. Über 2,8 Millionen Autos wurden in Deutschland allein bis November 2014 neu zugelassen. Ein Plus von 2,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Ein Mausklick. Dann beginnt Schmitts Tiguan seinen Weg durch die Tunnel unter der Parkanlage aus dem Autoturm zum Auslieferungszentrum. Bücher, Kleidung, Möbel, selbst Lebensmittel finden mittlerweile per Mausklick ihren Weg bis an die Haustür. Der neue Volkswagen bittet dagegen zur Abholung in die Autostadt. Oldtimer, Marken-Showrooms, Parklandschaft mit Schlittschuhbahn: Die Autostadt will eine Art Erlebnispark rund ums Thema Mobilität sein. Für Thomas Schmitts Partnerin Uschi Eigner ist es vor allem ein festlicher Rahmen für die Auto-Übergabe:
"Es wird so ein bisschen zelebriert und es ist ja auch was Besonderes, wenn man ein nagelneues Auto abholt."
Und so dreht sich das Kauf-Dich-Glücklich-Rad der deutschen Konjunktur ein weiteres Mal.
Nicht überall lief die Wirtschaft so rund
Doch längst nicht überall lief die Wirtschaft rund. In Bochum rollte im Dezember nach 52 Jahren der letzte Opel vom Band. 3.200 Mitarbeiter verloren ihre Arbeit. Bei Amazon streikte die Gewerkschaft Ver.di immer wieder für eine bessere Bezahlung. Lokführer und Piloten lieferten sich harte Arbeitskämpfe mit der Deutschen Bahn und Lufthansa. Und trotz aller Konsumfreude kämpfte die Kaufhauskette Karstadt weiter ums Überleben.
"Fleißig, billig, schutzlos. Das ist doch bisher die Realität für Millionen Arbeitnehmer in Deutschland und damit ist jetzt Schluss ..."
... sprach Arbeitsministerin Andrea Nahles am 3. Juli im Bundestag und meinte mit "jetzt" eigentlich den 1. Januar 2015. Oder aber 2016 oder 2017. Ab dann gilt je nach Branche der Mindestlohn von 8,50 Euro, festgeschrieben im Mindestlohngesetz. Lohnerhöhung per Gesetz für etwa 3,7 Millionen Menschen. Keine Branche werde ausgenommen:
"Keine einzige Branche, wer anderes behauptet: Kokolores."
Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) am Rednerpult im Bundestag
Hat sich durchgesetzt: Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) mit ihren Plänen zum Mindestlohn.© picture alliance / dpa/ Maurizio Gambarini
Wovor hatten Kritiker nicht alles gewarnt. Der Mindestlohn könnte Arbeitsplätze vernichten, Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit sei in Gefahr, die Konjunktur werde abgewürgt.
"Kokolores ..."
... würde der Konjunkturforscher Alexander Herzog-Stein frei nach Andrea Nahles sagen.
"Das ist eine völlig naive Vorstellung, was die Grundlagen unserer Wettbewerbsfähigkeit sind. Die meisten Güter, die in Deutschland exportiert werden, sind Industriegüter und keine Dienstleistungen. In der Industrie werden in der Regel Löhne gezahlt, die sehr weit von dem Mindestlohn weg sind. Das heißt, da wird auch ein Mindestlohn, wie er jetzt kommt, nicht an der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft kratzen. Das ist nein, das ist Angstmacherei."
Kokolores bleibt das Gesetz jedoch für Zeitungszusteller. Sie müssen unter Umständen noch bis 2018 warten, bis sie das Recht auf den vollen Mindestlohn haben. Andere wiederum sind ihrer Zeit voraus.
Krupa: "Also, ich möchte jetzt Strähnchen."
Dase: "Ich weiß, so wie immer?"
Krupa: "Ja."
Routiniert fasst Kerstin Dase einzelne Strähnen. Dann trägt sie mit einem breiten Pinsel die Blondierung auf. Ihre Kundin Steffi Krupa reicht ihr die Trennblätter zum Separieren der Strähnchen an.
Dase: "Also man hat 45 Minuten dafür Zeit, um die Strähnen zu legen. So viel Zeit hat jede Mitarbeiterin dafür."
Friseure in Ostdeutschland – jahrelang war das Frontgebiet in der Debatte um den Mindestlohn. Waschen, schneiden, legen für 3,50 Euro pro Stunde. Immer wieder musste die Branche als Paradebeispiel herhalten. Während Deutschland noch über Risiken für Wirtschaft und Arbeitsplätze stritt, machten die Friseure einfach: Seit November 2013 darf niemand mehr unter 6,50 Euro schneiden, waschen oder föhnen. Im August stieg die Untergrenze auf 7,50 Euro im Osten und 8 Euro im Westen. Mitte kommenden Jahres gelten dann einheitlich 8,50 Euro. Auch bei Friseurmeisterin Kerstin Dase blondiert keine Mitarbeiterin mehr unter Mindestlohn:
"Sicherlich hat jeder Bauchschmerzen gehabt von uns. Das gebe ich ehrlich zu. Wenn man sich richtig damit beschäftigt und die Kalkulation dementsprechend anpasst, dann ist es gar kein Problem, dieses im Endeffekt zu kalkulieren und auch zu zahlen und auch gerne zu zahlen. Weil die Mitarbeiter stehen hier sechs oder acht Stunden im Salon und man sollte auch diese Leistung bezahlen. Diese schwere Arbeit, diese körperlich schwere Arbeit sollte man auch entlohnen."
Friseurmeisterin Dase schneidet eben nicht für den Weltmarkt. Genauso wie Paketboten, Kassierer oder Kellner kann auch sie nur schwer in Billiglohnländer ausgelagert werden. Dase schneidet für Wittstock. Und das ist schon hart genug. Die Kleinstadt ist so etwas wie die Friseurhauptstadt Brandenburgs: 25 Salons konkurrieren um die Haare der 14.000 Einwohner – Kahlköpfe mitgerechnet. Vor Einführung des Mindestlohns musste sie als Innungsbetrieb als einzige nach Tarif zahlen.
"Sicherlich kommen viele Kunden rein und fragen, wie teuer. Und wenn’s zu teuer ist, gehen sie wieder zur Billigschiene."
Das ist jetzt vorbei. Der Mindestlohn hat das Spielfeld begradigt. Von jetzt an zählen Qualität, Sympathien und Service, so Dase. Bei Steffi Krupa strahlen die Strähnen mittlerweile wieder in frischem Blond. Mit jeder neuen Runde des Mindestlohns wurde der Friseurbesuch für sie teurer. Allein seit August zahlt sie zehn Euro mehr.
"Ich finde das äußerst wichtig, dass die Leute, die in Deutschland arbeiten gehen, von dem Geld auch leben können und alles andere ist für mich unter der Gürtellinie. Wenn die Leute arbeiten gehen, Geld verdienen und dieses Geld zum Leben noch nicht mal ausreicht. Dann ist hier irgendwas falsch."
Cort: "Also wir haben ein kleines Häuschen und durch die niedrigen Zinsen im Moment, bezahlen wir relativ wenig ab, und brauchen uns keine großen Gedanken zu machen."
Hagedorn: "Ja, ja. Negativzinsen. Man muss noch draufzahlen, damit sie Dein Geld nehmen."
Schlechte Zeiten für Sparer: Zinsen unterhalb der Inflation
2014 – das Jahr der Niedrigzinsen. Ein Glück für alle, die sich Geld leihen mussten. Wer dagegen Geld auf die hohe Kante legte, konnte seinem Guthaben zusehen, wie es bei Zinsen deutlich unterhalb der Inflation förmlich in der Sonne zerschmolz. Das Wort von der Enteignung der Sparer machte die Runde. Seit November verlangt die Deutsche Skatbank als erste Bank auch nominal negative Zinsen. Zwar vorerst nur für Tagesgeldkonten mit über 500.000 Euro – dennoch: Bei Zinsen unterhalb der Inflation machten Sparer 2014 im Poker um das Geld kaum einen Stich. Gerade Max Mustermann, dem Durchschnittsdeutschen mit relativ kleinem Vermögen, brachte sein Geld auf der Bank kaum noch was ein. Privat für das Alter vorzusorgen, könne in Zeiten von Niedrigzinsen gerade für die Mittelschicht zum Problem werden, warnt Markus Grabka vom DIW in Berlin:
"Weil die Mittelschicht gezwungen ist, ihre Altersvorsorge nicht nur über die gesetzliche Rentenversicherung vorzunehmen, sondern in der Regel auch über Kapitalgedeckte Produkte des Finanzmarkts und diese Finanzmarktprodukte sind darauf angewiesen, dass eine gewisse Rendite regelmäßig erzielt wird."
Eine Beratungsveranstaltung bei der Verbraucherzentrale in Berlin. Das Thema: Altersvorsorge für Frauen. 2014 war ein Jahr, um alt zu sein. Zwar stieg auch die Altersarmut leicht an. Das Gros der Rentner hatte jedoch mehr Rente im Portemonnaie. Die jungen Frauen bei der Verbraucherzentrale schauen dagegen deutlich skeptischer auf ihren Ruhestand. Anderthalb Stunden steht Volker Schmidtke Rede und Antwort: Riester-Rente, Bausparen, Aktienfonds – Marianna, die mit Mitte 20 in Berlin für eine Modefirma arbeitet, beschäftigt sich zum ersten Mal ernsthaft mit diesen Fragen:
"Da könnte ich nur über die Gefühlsebene gehen und dann denkt man ja sowieso immer, da kriegt man nichts mehr. Das liegt, glaube ich, an der Generation."
Ortrud Hagedorn ist längst in Rente. Werbeprospekte, Rundbriefe, Details zum Insolvenzverfahren – alles hat sie in einem dicken Ordner gesammelt. Ihr Mann und sie hatten große Teile ihrer Altersvorsorge in Genussrechten bei Prokon angelegt. Bis der Windparkbetreiber im Januar pleiteging:
"Erstmal dieser Schreck. Dann erzählst du das Bekannten. Was, wieviel habt ihr denn angelegt? Na, das ist ja riskant! Dann willst du ja auch mal gucken, wie konntest du dich geirrt haben."
Die Prokon-Insolvenz war für Kleinanleger die Pleite des Jahres. Über 70.000 Menschen hatten der Firma 1,4 Milliarden Euro anvertraut. Immer wieder hatten auch die Hagedorns Erspartes an Prokon überwiesen.
"Mein Mann ist ja selbstständig gewesen, der hat ja keine richtige Altersversorgung. Und so hat er gesagt, dann kann ich das auch allein anlegen. Da und da und da. Und dann habe ich später von den Zinsen auch eine Rente. Und wovon lebt er jetzt? Ich sag, von mir."
Und damit von ihrer Pension als Lehrerin. Dass es heute kaum noch Zinsen gebe, sei ärgerlich, sagt Ortrud Hagedorn. Sie habe aber auch bei Prokon investiert, um erneuerbare Energien zu fördern. Und die Windmühlen lieferten ja schließlich Strom.
"Das müssen ja nicht sechs Prozent Zins sein. Wenn wir nur fünf bekommen hätten. Entschieden mehr als bei der Bank ist ja auch schon viel."
Mindestens 60 Prozent ihrer Einlagen, so scheint es derzeit, werden die Hagedorns wohl zurückbekommen. Der Windparkbetreiber wird nun wahrscheinlich in eine Genossenschaft umgewandelt. Sollte die erfolgreich sein, könnte sich der Verlust für die Prokon-Anleger weiter minimieren.
"Ganz weg kann nicht sein."
"Das heißt, optimistisch geht’s ins nächste Jahr?"
"Ja, nicht euphorisch, aber ich denke mal: Es ist nicht so schlecht gelaufen."
Für alle anderen hilft ein Blick in die Geschichte:
Grabka: "Wenn man sich vor Augen führt, wie die Zinsen und vor allem was viel wichtiger ist, die reale Verzinsung sich in den letzten 30 Jahren dargestellt hat, so geht oftmals verloren, dass wir häufig in diesen Zeiträumen Phasen hatten, wo die Realzinsen negativ waren. Oder auch, wie es derzeit ist, ausgesprochen gering. Das heißt, es ist eigentlich gar kein neues Phänomen."
Wäre die deutsche Wirtschaft wirklich ein Zug, dann hätte er im Sommer sein Tempo gedrosselt. Pünktlich vor dem Jahreswechsel aber fährt er nach Fahrplan. Max Mustermann könnte sich an seinem Fensterplatz also einigermaßen ruhig zurücklehnen und die Aussicht genießen. Doch die Krisen um uns herum lassen einen Teil der Deutschen um den eigenen Wohlstand fürchten. Andere denken schon über die Fragen nach, die auch 2015 gelöst werden müssen. Kerstin Dase muss lernen, mit 8,50 Euro Mindestlohn zu kalkulieren. Katharina Schaffstein wird weiter nach Auszubildenden suchen. Ortrud Hagedorn hofft, endlich Prokon wieder in die schwarzen Zahlen zu bringen. Während Dominik Seidler mit 33 seinen ersten richtigen Job finden will.
Die Wirtschaftsprognosen stehen dafür nicht schlecht. Wenn, ja wenn der Ukraine-Konflikt und die Krisen im Nahen Osten nicht weiter eskalieren und die Unternehmen deshalb nicht vor Investitionen zurückschrecken. Und wenn es Mustermanns Verwandten in den anderen Ländern der Euro-Zone endlich wieder besser geht. Auch 2015 liegen viele Hindernisse auf den Schienen.
Hagedorn: "Wenn uns das gelingen würde, dass im Grunde die Investoren den Betrieb übernehmen und dadurch retten würden - das wäre ein Novum in der Geschichte. Und dann, fände ich, wäre das schon eine feine Sache."
Seidler: "Mein nächstes Ziel ist, erstmal die Prüfung zu schaffen, da hab ich schon Bammel vor."
Dase: "Man muss erstmal abwarten, was jetzt im Januar passiert. Man sollte jetzt nicht alles schwarz malen. Und wenn man die Schweiz sieht und andere Länder, wo mehr bezahlt wird an Stundenlohn, sind wir doch ziemlich weit hinten bei 8,50 Euro."
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