"Wir brauchen neue repräsentative Formen"
Als Konsequenz aus dem Brexit-Votum muss die Europäische Union aus Sicht des Soziologen Helmut Willke umfassende Reformen einleiten. Dazu gehöre eine neue Verfassung sowie mehr Dezentralisierung.
Im Deutschlandradio Kultur sagte Willke, die EU sei über Jahrzehnte nur als "Schönwetterkonstruktion" erfolgreich gewesen. In Krisenzeiten seien die Mitgliedsländer aber überfordert.
"Das Durchwurschteln, sozusagen 'weiter so wie bisher', das reicht nicht aus", so der Professor für Global Governance an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. "Es braucht grundlegende Reformen, es braucht eine neue Verfassung, und es braucht ein neues Überdenken, welche Länder bereit sind, welche Komponenten von Souveränität sie abgeben und ob das ihren Bevölkerungen zumutbar ist."
Mehr Dezentralisierung
Notwendig sei mehr Dezentralisierung. So sei eine "Überregulierung durch die Europäische Union nicht notwendig und eben auch nicht sinnvoll". Vor allem müsse die "alte Idee der Subsidiarität und des Föderalismus" verstärkt werden - statt von einer direkten Einflussnahme der Bürger auf Europa zu träumen:
"Ich halte das selbst auf nationaler Ebene nicht für besonders sinnvoll - eher im Gegenteil. Wir brauchen neue repräsentative Formen - und dafür muss der Einfluss der Bürger gestärkt werden."
Es müsse "klare Politikfelder" geben, für die die EU selbst verantwortlich sei - und genauso klare Bereiche, für die die Länder, Regionen oder Kommunen zuständig seien.
"Die Verteilung der Kontrolle - um die geht es, nicht um ein 'take back control' insgesamt. Das wäre eine Auflösung der EU."
Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel?: Der freie Fall der Briten nach ihrem historischen Votum gegen die EU, das ist keine ganz so angenehme Erfahrung, weder dort auf der Insel noch bei uns auf dem Kontinent. Keiner weiß so richtig, wie umgehen mit dem Ergebnis, was sind jetzt kluge politische Schritte? Den Ball flach halten, keine großen Operationen? Ausgerechnet an diesem Punkt beginnen, das war die Reaktion des Direktors des Brüsseler Thinktanks Carnegie Europe, Jan Techau hier im Deutschlandradio Kultur gestern Morgen:
Jan Techau: "Ich halte die Idee von Herrn Schulz und auch von anderen – Herr Steinmeier hat sich ähnlich geäußert, Herr Juncker ist in dieser Position, auch Herr Renzi –, ich halte die für völlig unrealistisch, jetzt zu sagen, in einer Situation, wo die Leute ganz deutlich im Grunde gezeigt haben – nicht nur in Großbritannien, sondern ja auch anderswo –, dass ihnen zu viel Europa, dieses blinde Voranschreiten, dass ihnen das zu viel ist … Jetzt zu sagen, ja, jetzt erst recht, jetzt legen wir noch einen oben drauf …"
Frenzel: Eine Möglichkeit, die Dinge zu sehen, aber es gibt auch andere. Die Krise nutzen, um Europa zu verändern? In "Studio 9" begrüße ich jetzt Helmut Willke, er ist Professor für Global Governance an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen, guten Morgen!
Helmut Willke: Guten Morgen!
Krise für Änderungen in EU nutzen
Frenzel: Matteo Renzi, Italiens Premier hat gestern in Berlin gesagt: Diese Krise ist ein günstiger Zeitpunkt, um für Europa ein paar neue Seiten zu beschreiben. Hat er recht?
Willke: Ja, ich denke, er hat recht. Wir haben die Situation, dass wir tatsächlich in Europa eine Krise brauchen, um die notwendigen Veränderungen in Gang zu setzen. Es hat sich gezeigt, dass sich Europa tatsächlich in eine Falle hineinmanövriert hat, aus der es ohne Krise keinen Ausweg gibt. Also, insofern denke ich, dass Renzi recht hat und dass wir diese Krise sehr geschickt und sehr intelligent nutzen müssen, um ein paar Änderungen in der EU in Gang zu setzen.
Frenzel: Was ist denn dieser Ausweg, was müssen denn diese Änderungen sein?
Willke: Ja, es hat sich herausgestellt, dass die Europäische Union eben doch im Prinzip über lange Jahrzehnte sehr erfolgreich war, aber als Schönwetterkonstruktion. Sie kam in Schwierigkeiten, sobald eine oder mehrere Krisen sogar zusammengekommen sind, nämlich einerseits die europäische Krise, dann die Krise der Staatsfinanzen. Das sind Folgen der globalen Finanzkrise. Dann kam die Griechenland-Krise und die Migrationskrise dazu. Es hat sich gezeigt, dass das Krisenmanagement die Mitgliedsländer überfordert und dass die gemeinsame Strategie für Europa nicht wirklich funktioniert.
Frenzel: Wenn Sie sagen, das Krisenmanagement ist überfordert, wir haben da alle diese vielen Krisengipfel vor Augen, wo die 28 Staats- und Regierungschefs ja mitunter in die Morgenstunden zusammensaßen: Ist das ein Problem des Politikmodus, also diese Art und Weisen, immer quasi im Konsens Politik machen zu müssen?
Willke: Ja, das hat die EU ja zum Teil sogar überwunden. Es gilt nicht mehr für alle Fragen die Konsensverpflichtung. Aber selbst das, was noch übrig ist an Konsensbildung, ist bei Weitem überladen und bei Weitem zu voraussetzungsvoll, um zu einer brauchbaren, einigermaßen schlagkräftigen Politik zu führen. Es zeigt sich wiederum, dass sozusagen in Zeiten, in denen alles gut läuft, das durchaus funktionieren kann; aber mit Krisen ist diese Art von Verfassungskonstruktion überfordert.
Frenzel: Das heißt, die Konsequenz müsste sein eigentlich mehr Staatsbindung in Europa, also das Klassische, was wir aus unserem Nationalstaat kennen?
"Mehr Dezentralisierung, mehr verteilte Kompetenzen"
Willke: Also, einerseits scheint es so, als ob die Nationalstaaten und ihre Bevölkerungen tatsächlich noch nicht bereit wären, wirklich massive Aspekte ihrer Souveränität aufzugeben. Anscheinend geht das zu schnell. Wir müssen also einfach zur Kenntnis nehmen, dass die nationalstaatlichen Egoismen und Besonderheiten noch eine große Rolle spielen, und wir sollten die Konstruktion, die Verfassung von Europa darauf einstellen.
Das heißt also weniger Zentralisierung, mehr Dezentralisierung, mehr verteilte Kompetenzen. Wir müssen wahrscheinlich sogar die alte Idee eines Europas der unterschiedlichen Geschwindigkeiten wieder aktivieren, weil es offensichtlich ist, dass 28 Länder, die sehr, sehr unterschiedlich sind, nicht alle unter einen Hut gebracht werden können.
Frenzel: Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle hat sich zu Wort gemeldet, das ist selten, dass er das tut zu politischen Fragen. Er hat gesagt, die Bürger müssen das Gefühl haben, sie könnten Einfluss nehmen. Ist das das Problem der Europäischen Union, dass die Art und Weise, wie da Politik gemacht wird, trotz Europäischem Parlament, dass die einfach zu abstrakt ist?
Willke: Nein, das glaube ich nicht. Ich denke, dass der Einfluss der Bürger nur indirekt sein kann, weil die Volksabstimmung und die direkte politische Einflussnahme auf eine Institution, die so weit weg ist vom täglichen Leben, nicht zu sinnvollen Ergebnissen führt. Das heißt, wir müssen die alten Ideen der Subsidiarität und auch des Föderalismus eher verstärken, als auf eine direkte Einflussnahme der Bürger auf Europa … davon zu träumen. Davon sind wir noch viel zu weit weg und ich halte das selbst für die nationale Ebene nicht besonders sinnvoll.
Eher im Gegenteil: Wir brauchen neue repräsentative Formen. Und dafür, für diese verschiedenen, unterschiedlichen repräsentativen Institution allerdings, da muss der Einfluss der Bürger gestärkt werden.
Frenzel: Aber immerhin, wenn Sie das sagen, Subsidiarität, da könnte man schnell zu dem Ergebnis kommen, zu dem die Briten gekommen sind: Take back control! Dann holen wir es uns eben zurück, solange die EU das nicht in dem Sinne macht, wie wir es machen wollen!
Klarere Aufgabenverteilung
Willke: Nein, das kommt immer darauf an, in welcher Richtung die Kontrolle gemeint ist. Es muss einfach klare Politikfelder geben, Bereiche, Probleme geben, für die die EU selbst verantwortlich ist, also die Kommission und das Parlament, und es muss genauso klare Bereiche geben, in denen die Länder oder die Regionen oder sogar die Kommunen zuständig sind.
Also, diese Verteilung der Control, der Kontrolle, um die geht es. Nicht um ein Take-back-the-control insgesamt, das wäre eine Auflösung der EU, sondern eine bessere, sinnvollere, auch zum Teil eine dezentralere Verteilung der Kompetenzen, die zum Beispiel damit beginnt, dass die Überregulierung durch die Europäische Union nicht notwendig und eben auch nicht sinnvoll ist.
Frenzel: Wie kriegen wir das denn jetzt hin? Müssten wir eigentlich so etwas wie einen Verfassungskonvent einberufen und sagen, wir sortieren das alles mal neu?
Willke: Ja, ich denke, das ist erforderlich und das ist auch eine der Schwierigkeiten. Wir haben 28 Mitglieder immer noch, die sehr unterschiedlich sind, sehr unterschiedliche Interessen haben und die sich – so wie das jetzt aussieht – ganz, ganz schwerlich nur auf eine neue Verfassung verständigen können. Aber wir brauchen diese neue Verfassung, mit neuen Regeln, mit neuen Strukturen, und das eigentlich ist der Anstoß, den der Brexit gegeben hat.
Frenzel: Es gibt ja Leute, die sagen, lasst uns da keine Zeit verschwenden, wir haben das ja bei der europäischen Verfassung auch gesehen, das hat uns Jahre blockiert, am Ende nichts gebracht, lasst uns lieber ganz praktische Ergebnisse liefern. Also, ein Stichwort sind immer die Roaming-Gebühren, jetzt werden andere politische Felder genannt, die Arbeitslosigkeit beispielsweise. Ist das nicht vielleicht etwas, worin wir eher die Energie stecken sollten, Ergebnisse?
Durchwurschteln reicht nicht aus
Willke: Also, zum einen ist das nicht ein Entweder-Oder, natürlich muss die EU an Ergebnissen arbeiten und eben solche ganz pragmatischen und praktischen Dinge machen, damit ihr Ansehen bei den Bürgern steigt und damit sie sich wieder sozusagen eine Reputation verschafft. Aber das reicht definitiv nicht aus. Das Durchwurschteln sozusagen, weiter so wie bisher, das reicht nicht aus. Es braucht grundlegende Reformen, es braucht eine neue Verfassung und es braucht ein neues Überdenken, welche Länder bereit sind, welche Komponenten von Souveränität sie abgeben und ob das ihren Bevölkerungen zumutbar ist.
Frenzel: Das werde sie heute diskutieren können beim EU-Gipfel, dazu und zu anderen Fragen im Interview Professor für Global Governance an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch!
Willke: Sehr gerne, danke, tschüs!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.