Frank Trentmann, geb. 1965 in Hamburg, lebt seit 30 Jahren in England und lehrt als Professor Geschichte am Birkbeck College der Universität London. Zuletzt erschien "Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute" (DVA).
Nicht weniger, sondern besser konsumieren!
29:37 Minuten
Weniger Flüge, mehr Online-Shopping: Corona verändert Konsumgewohnheiten. Aber wie lange? Der Historiker Frank Trentmann sagt, die Regierungen könnten jetzt dafür sorgen, dass wir alle nach der Pandemie dauerhaft umweltverträglich konsumieren.
"Eine Krise ist kein Bruch", sagt Frank Trentmann, der an der Universität London Geschichte lehrt, in ihr werden "neue Gewohnheiten praktiziert, die dann zur Routine werden". Daher glaube er auch nicht, dass die Menschen nach der Corona-Pandemie wieder nahtlos an ihr Verhalten von zuvor anknüpfen werden. Teile der "Airbnb-Marktkultur" – wie Flüge zu Shopping-Wochenenden in andere Metropolen – werden wegbrechen.
Die Menschen verbringen ihren Urlaub jetzt anders. Zum Beispiel ist der Absatz von Campervans stark gestiegen, andere Menschen haben sich Ferienwohnungen gekauft. Es gebe keinen Grund, warum sie nach der Pandemie plötzlich damit aufhören sollten.
Gewohnheit Rad- oder Autofahren?
Vor wenigen Jahren wurde Frank Trentmanns Untersuchung von 500 Jahren Konsum unter dem Titel "Herrschaft der Dinge" auch auf Deutsch veröffentlicht. Die Geschichte zeigt, sagt er, dass staatliche Interventionen großen Einfluss auf unser Konsum-Verhalten haben. So führte beispielsweise der Ausbau der Highways in den USA in den 1930er Jahren zum "pleasure driving", zu den Vergnügungsfahrten in die Nationalparks.
Angewendet auf unsere heutige Zeit ist es also entscheidend, welche der sich neu entwickelnden Gewohnheiten von den Regierungen unterstützt und gefördert werden. Werden in großem Stil Radwege ausgebaut? Wer erst einmal gewohnt ist, mit dem Rad zu fahren wird es nicht so schnell wieder aufgeben. Oder setzt man auf den Autoverkehr? Dann, meint Trentmann, könnte der Autoverkehr nach der Pandemie so dicht geworden sein, wie man es sich vorher nicht hat vorstellen können.
Schwierige Zeiten für gemeinschaftliches Wohnen
Wichtig sei die Zusammenarbeit von Staat und Zivilgesellschaft, dann könne man etwas dauerhaft verändern.
Wirklich kritisch sei die Corona-Pandemie für alle Projekte gemeinschaftlichen Wohnens. "Wer will im Moment, bei diesen Infektionszahlen, mit drei, vier Leuten gemeinsam eine Küche teilen, gemeinsam andere Geräte teilen? Das ist eine riesige Herausforderung für Städteplaner, im nächsten Jahr Wohnsituationen interessant zu machen und darzulegen, die nicht auf einem totalen privaten Rückzug beruhen." Die vielen Single-Haushalte aber verbrauchen sehr viele Ressourcen.
Der gute Konsum
Letzten Endes ginge es nicht darum, zugunsten des Klimaschutzes weniger, sondern anders zu konsumieren. Der Konsum "kann verschoben werden von umweltschädlichen zu weniger umweltschädlichen oder umweltfreundlichen Bereichen". Wer bei einer Trainerin eine Stunde Pilates im Park macht, konsumiert schließlich auch und bezahlt für die Dienstleistung.
"Ich glaube, die große Herausforderung ist, dass wir versuchen müssen, insbesondere in den Städten Alltagspraktiken zu fördern, die weniger umweltschädlich sind, aber trotzdem gut für die Wirtschaft und für den Konsum sind." (sf)
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Das Interview in ganzer Länge:
Deutschlandfunk Kultur: Die Flughäfen werden in diesem Jahr wahrscheinlich zwei Drittel weniger Umsatz machen als im letzten. Der Onlinehandel hingegen, also das Shoppen im Netz, hat sehr stark zugelegt. Das sind zwei Beispiele dafür, wie die Corona-Pandemie unser Konsumverhalten verändert. Stellt sich die Frage, wie dauerhaft diese Veränderung sein wird. Und nicht erst seit Corona wird darüber diskutiert, wie wir unseren Konsum insgesamt senken können, wenn wir unseren Planeten erhalten wollen. - Wie hat denn Corona Ihren privaten Konsum verändert, Herr Trentmann?
Frank Trentmann: Auf der einen Seite radikal, auf der anderen Seite eher konservativ. Radikal in der Hinsicht, dass in England die Situation noch viel schärfer ist als in Deutschland. Wie Ihren Zuhörern wahrscheinlich bekannt ist, hat England wie Spanien und auch Frankreich vieles falsch gemacht. Das hat zur Folge gehabt, dass wir eigentlich nie aus dem Lockdown wirklich richtig herausgekommen sind.
Um ein Beispiel zu nehmen: Im letzten halben Jahr konnte ich einmal ins Museum gehen. Die Theater sind geschlossen geblieben, die Konzertsäle sind geschlossen geblieben. Nur die Pubs blieben geöffnet. Das war natürlich keine schlaue Idee der Regierung. Das heißt also, insbesondere kulturelle Aktivitäten und Freizeitaktivitäten, die mit Mobilität verbunden sind, sind eigentlich ganz verschwunden. – Das ist die radikale Veränderung.
Ich würde auf der anderen Seite darauf hinweisen, dass es natürlich viele Sachen gibt, die einfach nur intensiviert worden sind. Also, keine große Revolution, sondern man hat bestimmte Tätigkeiten noch mehr verfolgt, die auch schon vor der Pandemie am Ansteigen waren. Denken Sie ans digitale Film- und Fernsehen. Das begann ja nicht erst im März, April, sondern man hat schon vor mehreren Jahren aufgehört, die Tagesschau zu sehen und sich auf digitale Kanäle verlagert.
Menschenrecht auf Restaurantbesuch?
Deutschlandfunk Kultur: Man befürchtet ja von einigen Branchen, dass sie Corona nicht überleben werden, in Deutschland zum Beispiel die Kinos. Sicher werden auch viele Restaurants und Hotels schließen. Man könnte argumentieren, weder Kinos noch Restaurants sind systemrelevant, zum Überleben des Menschen sind sie auch nicht notwendig – im Grunde schierer Luxus, nice to have. Also ist es nicht so schlimm, wenn sie verschwinden. Was meinen Sie?
Trentmann: Das hängt davon ab, wen Sie als Opfer in den Blick nehmen – die Besitzer, Mitarbeiter oder die Kunden. Historisch ist natürlich höchst interessant, wie in den letzten Monaten und insbesondere in Deutschland die Frage, ob die Restaurants und Hotels aufbleiben dürfen, die zentrale Frage neben dem Sommerurlaub war. Hier sind im frühen 21. Jahrhundert…
Deutschlandfunk Kultur: Da würde ich widersprechen, Herr Trentmann. Meiner Meinung nach wurde viel mehr über die Schulen diskutiert.
Trentmann: Ja gut, aber Schulen sind kein zentraler Teil der Konsumgesellschaft. Ich meine jetzt spezifisch den Bereich, wo es um den Konsum geht und um Konsumgüter. Da haben die Restaurants mehr Schlagzeilen gemacht als – sagen wir einmal – die industrielle Produktion von Haushaltsgeräten oder andere Bereiche.
Wenn Sie fünfzig Jahre zurückschauen, wäre das undenkbar. Die Grundannahme, dass es fast ein Menschenrecht sei, ins Restaurant gehen zu können je nach Laune jeden Tag in der Woche, wäre in den 60er Jahren noch undenkbar gewesen.
Es wird nicht weniger, sondern anderes gekauft
Deutschlandfunk Kultur: Im Gegenzug kann man ja jetzt immer mal wieder lesen, dass die Menschen aufgefordert werden, diese Krise zu nutzen, um sich über die wirklich wichtigen Dinge – nein, gerade nicht über die Dinge, sondern die wichtigen Werte in ihrem Leben klarzuwerden, statt immerzu shoppen zu gehen und zu reisen usw. – Klingt doch eigentlich ganz gut.
Trentmann: Ja, es ist interessant, wie moralistisch aufgeladen die Debatte über unser Konsumverhalten in der Krise ist. Sie haben da Ihren Finger auf einen wichtigen Punkt gelegt, dass diese moralistischen Anweisungen bei vielen Mitbürgern überhaupt nicht gut ankommen. Das ist auch sehr verständlich. Denn der Konsumverzicht oder die Konsumeinschränkung ist ja nicht freiwilliger Natur.
Viele Mitbürger erleben die Pandemie als extrem stressig. Wenn Sie kleine Kinder haben oder alleinerziehende Mutter sind, dann haben Sie zuhause im Alltag so viele Turbulenzen, dass die Empfehlung, jetzt müßig in den Tag hinein zu leben und sich nur Gedanken zu machen über die wichtigen Erfahrungen des Lebens, wie von einem Moralapostel ankommt, und meiner Ansicht nach auch zu Recht zurückgewiesen wird.
Wenn man ein bisschen zurücktritt und sich anschaut, wie sich der Konsum verlagert hat, sollte man schon darauf hinweisen, dass diese Idee, dass wir jetzt mehr Zeit nur mit Erfahrungen verbringen sollen, nur teils richtig ist. Es ist wohl richtig im häuslichen Freizeitkonsum, aber es ist ja nicht so, dass die Leute aufgehört haben, Sachen zu kaufen. Es sind nur andere Sachen, das heißt, mehr Laptops, mehr elektronische Geräte, auch mehr Haushaltsgeräte. Die vielen Brotmaschinen, die gekauft wurden im April und Mai, sind eben andere Dinge. Es ist nicht so, dass wir uns verlagert haben von den Dingen zu Erfahrungen.
Online-Handel steigt weiter an
Deutschlandfunk Kultur: … und die ganzen Filme, die gekauft werden. – Ich habe eingangs zwei Beispiele genannt, Flugverkehr und Onlinehandel. Klimaschützer freuen sich wahrscheinlich sehr über weniger Flugverkehr, aber nicht so sehr über die vielen Pakete, in denen auch Brotmaschinen sind, die jetzt durch die Lande transportiert werden. – Was meinen Sie, wie dauerhaft werden diese Veränderungen sein?
Trentmann: Beim Onlinehandel würde ich schon sagen, dass das langfristige Trends sind. Der Onlinehandel hat schon in den letzten zehn Jahren angefangen sich international auszudehnen. Was wir seit dem Frühjahr gesehen haben, ist ein weiterer Anstieg, indem Gruppen vom Onlinehandel rekrutiert wurden, die bisher den Onlinehandel nicht genutzt hatten. Und wenn sie erstmal auf den Onlinehandel eingestellt sind und in ihrem Computer den Warenkorb haben, dann ist es einfach, auch damit weiterzumachen.
Ich nehme an, dass wir im Einzelhandel eine grundsätzliche Umstrukturierung sehen, so eine Art Amazon auf der einen Seite und den Tante-Emma-Laden auf der anderen Seite. Das darf man nicht vergessen. Nicht nur der Onlinehandel hat gewonnen, sondern lokale, kleine, extrem flexible Läden haben auch gewonnen. Die großen Verlierer sind die großen Warenhäuser und die Shopping-Malls.
Reisen ja, aber anders
Deutschlandfunk Kultur: Das sind sie aber auch schon länger.
Trentmann: Ja. - Weil sie zu den Klimaauswirkungen des Onlinehandels etwas sagten: Es ist nicht unbedingt notwendig, dass mehr Onlinehandel zu mehr CO2-Ausschüssen beiträgt. Sie müssen ja immer bedenken, dass das Paket, was jetzt von einem zentralen Lieferservice gebracht wird, zuvor nur in Ihre Hände gelangt wäre, indem Sie selbst – im deutschen Fall meist mit dem Auto - zu einem Warenhaus gefahren wären.
Das Reisen wird nicht verschwinden. Reisen und Urlaubverbringen werden weiterhin Teil der menschlichen Kultur sein, aber es wird sich qualitativ verändern. Die ganze Kurzurlauberei - drei Tage mal nach Barcelona und dann nochmal kurz zur Schnäppchenjagd nach New York jetten für ein paar Tage und dann mal wieder zu einer Vernissage nach Venedig fliegen -, das wird zurückgehen.
Deutschlandfunk Kultur: Warum?
Trentmann: Warum? Weil die zeitlichen Kosten und Mühen, die damit verbunden sind, jetzt viel größer geworden sind. Sie können nicht einfach ein Appartement mieten für 24 Stunden, weil das gereinigt werden muss usw. usf.
Deutschlandfunk Kultur: Ja, jetzt, aber es wird irgendwann eine Zeit nach Corona geben. Da stellt sich die Frage: Wie nachhaltig wird diese Veränderung sein?
Trentmann: Ja, es wird eine Zeit danach geben. Aber Teile der ganzen Airbnb-Marktkultur werden wegbrechen. Im Moment investieren viele Menschen, die es können, in Zweitwohnungen, zu denen sie leicht Zugang haben, in Urlaubswohnungen. Und sehen Sie sich die Zunahme von Campervans an. Das hatte ich im April schon prophezeit, dass man sich eigentlich einen Campervan zulegen muss. Die können Sie gar nicht bezahlen im Moment, die Preise sind so extrem angestiegen. Das heißt, dass die Leute, die erst einmal angefangen haben, andere Arten von Urlaub zu genießen, indem sie jetzt mehr Zeit in der Ferienwohnung verbringen oder mit dem Campervan hin und herfahren, die hören ja nicht auf einmal damit auf, wenn die Pandemie aufhört.
So eine Krise ist ja kein Bruch, sondern in der Krise werden neue Gewohnheiten praktiziert, die dann zur Routine werden.
Neue Gewohnheiten durch die Krise
Deutschlandfunk Kultur: Da schließt jetzt genau meine Frage an, Herr Trentmann. Denn eins ist ja sicher: Es wird, es gibt sie ja schon infolge der Corona-Pandemie, eine Wirtschaftskrise geben. Viele Menschen haben schon ihren Arbeitsplatz verloren, viele weitere werden ihn wahrscheinlich noch verlieren. Das heißt, viele Menschen werden ärmer werden. Schon allein daher wird der Konsum abnehmen. Das sogenannte Konsumklima in Deutschland ist gerade wieder im Minus.
Sie haben 500 Jahre Konsumgeschichte erforscht, in der es ja auch immer wieder Krisen gab – Epidemien, Wirtschaftskrisen, Kriege. Haben diese Krisen eigentlich jemals dafür gesorgt, dass sich das Konsumverhalten grundlegend geändert hat? Oder geht es nur um ein Weniger und danach zieht es wieder an und wird mehr?
Trentmann: Es gibt beides. Wenn wir uns zum Beispiel die Weltwirtschaftskrise der späten 1920er und frühen 1930er Jahre anschauen, kann man auf der einen Seite sehen, dass sich Gewohnheiten nur langsam verändern. Zum Beispiel in den USA: Die Leute haben nicht aufgehört in der Krise, essen zu gehen, sondern sie haben umgeschaltet von etwas teureren Restaurants zu etwas billigeren Diners. Mode: Sie haben weiterhin modisch gekauft, nur billiger gekauft. Und bei Autos wurde das Auto dann eben ein gebrauchtes Auto und es wurde nicht so früh wie sonst durch einen Neuwagen substituiert. Man kann also eine Verlangsamung erkennen.
Auf der anderen Seite, und das ist eben auch in der damaligen Wirtschaftsdepression passiert, gab es staatliche Interventionen in den 30er Jahren, die zu einem Ausbau des gesamten Verkehrsnetzes und insbesondere der Highways in Amerika geführt und dadurch eine neue Gewohnheit geschaffen haben, nämlich das pleasure driving, also das Autofahren zum Spaß, einfach zum Vergnügen so ein bisschen herumkutschieren, insbesondere zu den Nationalparks. Das kostet nicht viel Geld, im Sinne von Eintritt zu den Nationalparks. Und man kann dort billig übernachten, nämlich campen. Also, die Kultur des Campens und des Autofahrens wurde dadurch beschleunigt.
Wenn wir das auf unsere Zeit heute anwenden, ist eine ganz entscheidende Frage, wie die Gewohnheiten, die jetzt in der Pandemie miteinander im Wettbewerb stehen, von den Regierungen, von den Gemeinden und Städten unterstützt werden.
Ein gutes Beispiel ist der Reiseverkehr. Die Mobilität ist von der Pandemie radikal betroffen worden, aber es ist völlig unklar, in welche Richtung es geht. Wird die Mobilität abnehmen, wie beim Flugverkehr, den Sie erwähnten? Oder wird es eine Zunahme von privater Automobilität geben, weil mehr Leute jetzt aufs Auto umgestiegen sind? Da muss man abwarten, was die Regierungen unternehmen.
Auf den Staat kommt es an
Deutschlandfunk Kultur: Es ist zum Beispiel in den großen Städten zu beobachten, dass die Menschen aus Sorge vor Corona weniger mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Und nicht alle steigen aufs Fahrrad um, sondern diejenigen, die können, aufs Auto.
Trentmann: Richtig. Wie gesagt, es gibt überhaupt keine Gesetzmäßigkeit, was am Ende passiert. Es hängt davon ab, mit welchen Interventionen und infrastrukturellen Maßnahmen die öffentlichen Institutionen darauf eingehen. In einigen Städten werden extrem Radfahrwege ausgebaut. Wenn die erstmal ausgebaut sind und Leute angefangen haben, sich ans Fahrrad zu gewöhnen in großen Städten, die zuvor fahrradfeindlich waren, dann wird das auch weiterlaufen.
Auf der anderen Seite, wenn Regierungen einfach aufs Auto setzen, dann würde ich durchaus annehmen, dass wir einen Anstieg des Autoverkehrs erleben werden, den wir vor der Pandemie nicht erwartet hätten.
Dinge gehören zum Menschsein
Deutschlandfunk Kultur: Wir verbrauchen, wir konsumieren viel zu viel. Das wissen wir nicht erst seit gestern. Die Ressourcen sind endlich, das Klima erwärmt sich immer stärker. Trotzdem können wir ganz offenkundig nicht von unseren Lebensstilen lassen. Daran ändern auch ein paar Fahrradfahrer oder Veganer mehr grundlegend nichts.
Sie haben dieses Streben des Menschen nach den Dingen und nach Komfort erforscht. Gab es das eigentlich schon immer? Ist es etwas Anthropologisches, gehört es zum Menschsein dazu? Oder ist es vielleicht auch etwas kulturell Geformtes? Wahrscheinlich ist es beides.
Sie haben dieses Streben des Menschen nach den Dingen und nach Komfort erforscht. Gab es das eigentlich schon immer? Ist es etwas Anthropologisches, gehört es zum Menschsein dazu? Oder ist es vielleicht auch etwas kulturell Geformtes? Wahrscheinlich ist es beides.
Trentmann: Menschen hatten natürlich schon immer Dinge. Und Menschen haben auch schon immer eine warme Höhle einer kalten Höhle vorgezogen. Aber in den letzten 500 Jahren haben sich sowohl kulturelle wie auch wirtschaftliche und soziale Entwicklungen miteinander verschränkt, um den zunehmenden Konsum ganz neu zu legitimieren.
Während in der Antike und im Mittelalter Konsum verpönt war und als ein schlimmes und auch sündhaftes Ablenkungsmanöver von der eigenen geistlichen Autonomie und Selbstverwirklichung gesehen wurde, gibt es seit dem 16. Jahrhundert Faktoren und Interessen und auch Ideen, die darauf hinweisen, dass die Dinge Teil unserer eigenen Persönlichkeit sind.
Also, statt sie schlechtzumachen, sollten wir unsere Arme öffnen und Dinge benutzen, um uns selbst zu verwirklichen. Das ist der große turning point, dass es jetzt eine kulturelle Legitimation gibt, die Konsum als etwas potenziell Positives sieht. Sie können ihn wirtschaftlich rechtfertigen, dass er gut für Wirtschaftswachstum und Fortschritt ist. Sie können ihn politisch rechtfertigen: Die Verbraucher sollen selbst wählen, wie sie leben wollen. Das heißt, wie bei einer demokratischen Wahl ist der Weg im Supermarkt mit Wahlentscheidung verbunden.
In der letzten Generation aber haben wir gesehen, dass er von der Umweltperspektive her überhaupt nicht zu rechtfertigen ist. Und das ist der große Zielkonflikt, dass wir letzten Endes mit einem Rucksack von moralischen, politischen und wirtschaftlichen Ideen herumwandern in dieser Welt, der in unserer Umwelt-Situation überhaupt keinen Sinn mehr ergibt.
Vintage für den Klimaschutz?
Deutschlandfunk Kultur: In Ihrem Buch habe ich auch gelernt, dass in China im 15. Jahrhundert noch nicht das Neue als wertvoll galt, sondern das Alte. Ich kann mir allerdings schwer vorstellen, dass wir in unserer digitalisierten Gesellschaft dahin jemals wieder zurückkommen könnten.
Weitere Erkenntnis: Es gab Gesetze gegen Luxus. Man durfte nur soundso viel Besteck besitzen zum Beispiel oder den Angehörigen niederer Stände war es verboten, sich in Seide zu kleiden oder in Gold. – Können wir davon etwas abgucken? Sie haben ja vorhin von der Macht der Regierungen gesprochen.
Trentmann: Die Antiquitäten würde ich nicht von vornherein ausschließen aus unserer heutigen digitalen Konsumkultur. Sie können das auch in verschiedenen Bereichen schon sehen: der Kult um Vintage-Konsumgüter, ob das nun alte Luxus-Handtaschen sind oder alte Schallplatten oder alte Autos. Die Suche nach dem Neuen hat auch immer die Auswirkung, dass das Alte neu bewertet wird.
Deutschlandfunk Kultur: Aber im Allgemeinen ersetzt ein altes Auto nicht das neue, sondern kommt zu dem neuen hinzu. Das ist ja das Problem.
Trentmann: Sie sprechen mit jemandem, der in London seit zwanzig Jahren gar kein Auto hat.
Deutschlandfunk Kultur: Ich habe in Berlin auch keins, Herr Trentmann. Aber wir sind wirklich nicht beispielgebend.
Trentmann: Ja. Das ist wohl richtig. Aber Sie sehen es zum Beispiel bei der Kleidung. Es gibt seit einer Generation eine Ausweitung von Kleidergeschäften, die sich auf gut erhaltene Qualitätsware von gebrauchten Kleidern, Anzügen, Schuhen usw. spezialisieren.
Deutschlandfunk Kultur: Ja, das gibt es alles. Es gibt auch die Minimalismus-Bewegung usw. Aber dass H & M deswegen Umsatzeinbußen erlitten hätte, wäre mir neu.
Trentmann: Das ist eine interessante Frage im Hinblick auf die Pandemie. Einer der wirklich riesengroßen Verlierer in der Pandemie ist die Kleiderbranche, weil Menschen ihren Kleiderkauf zurückgeschraubt haben. Das hat teilweise mit praktischen Gründen zu tun. Es ist natürlich schöner, ein Kleid oder ein Hemd anzuprobieren im Kleidergeschäft, als sich das zu Hause zu überlegen. Und wenn Sie, wie wir beide jetzt, vor einem Computer sitzen, ist es ja letztendlich egal, was Sie unterhalb der Gürtellinie tragen. Es gibt eine ganze Reihe von Geschäften und Herstellern in der Kleiderbranche, die bankrottgegangen sind.
Im Gegenzug gibt es einen zunehmenden - ich sage nicht, dass er groß ist, aber durchaus signifikant - Teil der Branche, der sich auf Recycling von alten Materialien, auf ökologisch bewusste Mode umstellt usw. Das würde ich nicht von vornherein ausschließen. Wenn jemand vor einem Jahr aufgehört hat, ständig neue Schuhe zu kaufen zum Beispiel oder ständig neue Gürtelschnallen, dann ist es überhaupt nicht klar, dass sie dann nach einem Jahr zu dem Konsumverhalten zurückkehren, was sie davor hatten.
Volle Kleiderschränke, volle Küchenschränke
Deutschlandfunk Kultur: Das wollte ich damit auch nicht sagen, dass die Menschen immer weiterhin dasselbe konsumieren werden. Nur alle Zahlen zeigen bisher, dass alle Recyclingquoten, jede Mode um Vintage usw. nicht dazu geführt hat, dass insgesamt der Verbrauch gesunken ist. Der verlagert sich dann möglicherweise. Darum geht es mir.
Trentmann: Das ist richtig. Vor der Pandemie sind die Kleiderschränke immer voller geworden. Das ist richtig.
Deutschlandfunk Kultur: Die Waschmaschine, die ich heute habe, verbraucht sicherlich wesentlich weniger als die, die es früher mal in der kommunalen Waschküche meiner Genossenschaftswohnung gab. Aber ich habe jetzt eine eigene. Und ich habe noch viele andere Geräte, die ich damals vor dreißig Jahre nicht besessen habe. Und damit bin ich nicht alleine.
Trentmann: Ich gebe Ihnen natürlich Recht, dass der Einzug der Maschinen in den Haushalt in den letzten hundert Jahren stetig angestiegen ist, ebenso wie die Kleiderschränke voller geworden sind, insbesondere in den letzten zwanzig Jahren.
Aber ich würde trotzdem darauf hinweisen, dass es eine offene Frage ist, ob wir diese Linie, die wir bis ins Frühjahr 2020 zeichnen können, ob die dann im Sommer 2021 einfach weiterlaufen wird wo sie aufgehört hat.
Bei den Haushaltsgeräten wird die Linie noch steiler ansteigen, weil durch den Rückzug in den privaten Haushalt der Kauf von Haushaltsgeräten und insbesondere elektronischen oder digitalen Geräten extrem zugenommen hat.
"Die moderne Wohnung ist eine einzige große Steckdose"
Deutschlandfunk Kultur: "Die moderne Wohnung ist eine einzige große Steckdose" schreibt ein gewisser Frank Trentmann in seinem Buch "Herrschaft der Dinge".
Wenn wir auf die beiden großen Gebiete gucken, die in Sachen Ressourcen und Klima entscheidend sind, die Sie in Ihrem Buch und in Ihren Interviews benannt haben, so ist das zum einen das Wohnen und zum anderen die Mobilität. Über die Mobilität haben wir zumindest in Teilen gesprochen –aber was ist mit den Wohnungen? Mal abgesehen von den vielen elektronischen und elektrischen Geräten, die alle sehr viel Strom verbrauchen, ist ja auch ein weiterer Fakt, dass die Wohnfläche pro Person immer weiter gestiegen ist. Das können wir beide, wir sind in den 60er Jahren geboren, wahrscheinlich an unseren eigenen Erfahrungen festmachen. Welche Wege gäbe es da? Kann man sich denn vorstellen, dass – jetzt sind wir wieder beim staatlichen Eingreifen – Regierungen die Wohnfläche pro Person begrenzen? Das kann ich mir für Deutschland sehr schwer vorstellen.
Trentmann: Das ist eine sehr wichtige Frage, auf die Sie hinweisen. Denn viele Leute denken beim Konsum immer ans Kaufen im Laden. Aber die Ressourcen, die wir konsumieren, liegen hauptsächlich im Haushalt. Das ist vor allen Dingen Wärme, nicht nur die Heizung, sondern auch warmes Wasser für die Dusche und das Bad usw.
Die Wohnflächenexpansion in Deutschland ist radikal gewesen. In England ist die Entwicklung ganz anders. England hat ein eher minimalistisches Quadratmeter-Verhältnis pro Person, verglichen mit deutschen Wohnungen. Also, es geht auch anders. Das ist die erste Antwort.
Gemeinschaftliches Wohnen in der Krise
Deutschlandfunk Kultur: Auch außerhalb Londons?
Trentmann: Ja. Das hat viel mit "planning permissions" (Baugenehmigungen, die Red.) zu tun, mit verschiedener Wohnungsbaupolitik usw. Auf Deutschland bezogen ist nicht unbedingt die Wohnfläche das Problem. Bei der Isolierung, die sehr wichtig ist, haben Deutschland und die nordischen Länder riesige Fortschritte gemacht. Die großen Energie-Einsparungen in den letzten Jahrzehnten sind in Deutschland im Hausbau und in der ökologischen Sanierung und Ausrüstung passiert, nicht in der Mobilität.
Vor der Pandemie gab es schon eine ganze Reihe von schlauen Lösungen, sich neue Wohnformen und Lebensweise vorzustellen, zum Beispiel Gemeinschaftshäuser. Das ist der Versuch diesem Trend, dass jeder alleine für sich eine große Wohnung hat, also dem "single living" - was in Deutschland in den hohen dreißig Prozent liegt, in Skandinavien es noch höher - entgegenzuwirken und gemeinschaftliches Wohnen wieder attraktiv zu machen, also eine Art von Kommune ohne die Bananenkisten, die früher rumstanden, und auch zwischen den Generationen Austausch zu schaffen.
Dann kam die Pandemie. Das ist ein Riesenproblem, weil die Pandemie natürlich das Bestreben gefördert hat, seinen eigenen sicheren Rückzugsort zu haben. Wer will im Moment, bei diesen Infektionszahlen, mit drei, vier Leuten gemeinsam eine Küche teilen, gemeinsam andere Geräte teilen? Das ist eine riesige Herausforderung für Städteplaner, im nächsten Jahr Wohnsituationen interessant zu machen und darzulegen, die nicht auf einem totalen privaten Rückzug beruhen.
Die ganzen Modelle und Investitionen, die in solche neuen Wohnformen geflossen sind, standen in Großbritannien und in Amerika schon im Sommer vor einer riesengroßen finanziellen Krise.
Die mächtige Tradition des Konsums
Deutschlandfunk Kultur: In Deutschland gibt es diese Wohnformen auch, aber im Vergleich zum "normalen" Wohnungsbau noch sehr minimal.
Was man auch von Ihnen lernen kann, ist, dass eigentlich alle Regierungen der jüngeren Zeit ihren Bürgerinnen und Bürgern neben der Sicherheit auch Wohlstand versprochen haben. Das gilt nicht nur für die Staaten im Kapitalismus, sondern auch für die sozialistischen Staaten, wie der DDR zum Beispiel.
Das heißt, wir leben in einer langen Tradition des Konsums, in einer langen Tradition, dass es komfortabel sein soll, dass es besser werden wird, dass wir mehr bekommen werden. So lange Traditionen haben immer eine große Macht. Kann man die überhaupt brechen? Wenn wir jetzt wieder an die Klimagegebenheiten, die Ressourcen usw. denken, wäre das ja notwendig.
Trentmann: "Brechen" ist vielleicht zu stark, man kann aber das Steuerrad drehen und man kann Richtungsveränderungen vornehmen. Da ist Geschichte und auch geschichtliches Verständnis sehr wichtig. Denn die Vergangenheit ist nicht immer Vergangenheit gewesen, sondern irgendwann war Gestern und Heute auch die Zukunft. Es gab in den letzten hundert Jahren fundamentale, auch häufig aggressive Intervention von Regierungen, aber auch der Zivilgesellschaft und von Konsumenten in die Lebensweise, Versuche, die Lebensweise neu zu definieren und die Alltagspraxis zu verändern.
Eines meiner Lieblingsbeispiele ist die Lebensreformbewegung aus Japan, die in der Zwischenkriegszeit sehr stark war, sie ging auf den Ersten Weltkrieg zurück. Dort wurde versucht, traditionelle Alltagspraktiken zu beeinflussen: Wie man sich anzieht in Japan, wie gekocht wird, dass man nicht auf dem Fußboden sitzend kocht, sondern stehend mit hohen Küchenzeilen, dass Gas und Elektrik statt rauchender Kohle eingeführt wird, dass die Eltern anders mit den Kindern spielen sollen und die Geschlechtertrennung nicht so strikt erfolgen soll.
Es gab also eine riesengroße Kampagne. Die wurde vom japanischen Innenministerium gefördert, da arbeiteten Architekten mit, Hausfrauenorganisationen, Lehrer. Zwei Jahrzehnte haben sie in den Nachbarschaften riesige Kampagnen veranstaltet, die betrafen auch den Wohnungsbau usw. Das heißt natürlich nicht, dass alle diese Initiativen hundertprozentig Erfolg hatten. Aber letzten Endes, wenn Sie sich japanische Wohnungen der 50er, 60er, 70er Jahre angucken als Vergleich mit dem Wohnen um 1900, dann hat eine große Veränderung stattgefunden.
Das heißt also, es ist schon möglich, etwas zu ändern, aber um erfolgreich zu sein, benötigt man letzten Endes eine Zusammenarbeit zwischen den Verbrauchern und den Städten und Gemeinden, den Regierungen und anderen Experten wie Architekten. Es ist durchaus möglich.
Konsum für Klima und Konjunktur
Deutschlandfunk Kultur: Im Grunde genommen handelt es sich um ein gigantisches Umerziehungsprogramm, was aber dann immer wieder demokratisch alle vier Jahre – in Deutschland zumindest – legitimiert werden müsste.
Zum Schluss erwähne ich noch einen Konflikt, dem wir nicht entgehen können: Wir sind beide keine Ökonomen, ich frage Sie aber trotzdem. Unsere Wirtschaft, unser Wohlstand beruht auf Wachstum. Die Klimaerwärmung erfordert eine Umkehr, aber mit ein bisschen weniger Fleisch und Fliegen ist es ja nicht getan. Und Corona zeigt uns, was passiert, wenn das Wachstum gestört ist. Selbst im reichen Deutschland steigt die Zahl der Arbeitslosen, der Armen, der Pleiten. Das hat dann wiederum politische Folgen. – Wie kommt man aus dieser Zwickmühle heraus? Konsum senken, ohne dass viele in die Armut abgleiten?
Trentmann: Der Konsum muss ja nicht unbedingt abgesenkt werden. Er kann ja verschoben werden von umweltschädlichen zu weniger umweltschädlichen oder umweltfreundlichen Bereichen. Es gibt eine ganze Reihe von Konsumaktivitäten, die nicht so schädlich sind. Denken Sie an viele Freizeitaktivitäten, für die Leute ja auch Geld bezahlen.
Die Menschen, die im Moment jetzt 1:1 Pilates oder Yoga oder andere Aktivitäten im Park mit einer Trainerin durchführen, die konsumieren ja auch. Die bezahlen für die Dienstleistung. Es ist nicht so, dass jeglicher Konsum gleich umweltschädlich ist.
Ich glaube, die große Herausforderung ist, dass wir versuchen müssen, insbesondere in den Städten Alltagspraktiken zu fördern, die weniger umweltschädlich sind, aber trotzdem gut für die Wirtschaft und für den Konsum sind.