Kontaktlos

Die Gesellschaft hat ein Nähe-Distanz-Problem

Fußballer des FSV Mainz 05 jubeln über ein Tor und bilden einen Menschenhaufen.
Aus irgendeinem Grund jubeln Sportsfreunde besonders gerne in Haufenform. © imago sportfotodienst / Jan Huebner
Ein Einwurf von Astrid von Friesen |
Einerseits sehnen wir uns nach menschlicher Nähe, andererseits gehen wir auf Distanz und es fällt uns immer schwerer, tiefe Beziehungen aufzubauen. Therapeutin Astrid von Friesen sieht die Ursachen dafür in dem Verhältnis zwischen Eltern und Kind.
In meinem Alltag, aber auch in meiner therapeutischen Arbeit beobachte ich in den letzten Jahren eine ganze Reihe von irritierenden Gegensätzen im Kontaktbereich, wenn es um Nähe und Distanz im zwischenmenschlichen Bereich geht.
Wenn einerseits Zweijährige im Buggy kontaktlos mit ihren meist telefonierenden Eltern im Trubel der Welt keinen beruhigenden, liebevollen Augenkontakt haben, weil sie mit dem Rücken zu ihren Eltern sitzen. Und andererseits Dauernähe: Wenn Kinder in den Ehebetten zwei, vier, sechs Jahre schlafen, ihre Väter derweil auf dem Sofa. Oder wenn Mütter ihre Kinder drei Jahre lang stillen.

Innige Nähe und Kontaktvermeidung

In Deutschland, so das „Freizeit-Monitoring 2019“, haben 52 Prozent aller Erwachsenen nur einmal im Monat Sex. Ein Grund: Der selbst fabrizierte „Freizeit-Stress“ durch die Smartphones, zu denen man sogar in den Schlafzimmern innigeren Kontakt als zur Partnerin und zum Partner pflegt. Am anderen Pol als reale Kompensation: „Kuschel-Cafés“ und der ins Unermessliche gesteigerte Konsum von Pornographie.
Oder: Auf der einen Seite immer innigere Köperberührungen, wie die extremen Körperüberwältigungen von aufeinander getürmten Haufen von Fußballspielern nach einem Siegestor. Andererseits wird zum Beispiel in der intimen Nähe eines Umkleideraumes im Fitnesscenter Augen- und Grußkontakt in der Regel peinlichst vermieden.
Und dann die quasi öffentlichen Inszenierungen von alltäglichen Begrüßungen unter Mädchen, als hätten sie gerade eine Ozeanüberquerung lebend überstanden. Sie sind derart schrill, weil zwei Ängste lautstark mitschwingen: Die existenzielle Angst vor Nähe-Verlust durch die eigene, vereinzelnde Dauerexistenz in den Medien sowie die Furcht vor dem Herausfallen aus den angesagten Insider-Gruppen, weil sich oftmals - wegen chronischer, emotionaler Verwöhnung - Selbstständigkeit nicht frühzeitig entwickeln konnte. Gruppenanalytisch betrachtet, symbolisieren Gruppen sowieso immer einen Mutterersatz.

Unfähig zu tiefen sozialen Bindungen

Was steckt hinter diesen Paradoxien? Psychologisch gedeutet: Der Wunsch nach Nähe bei gleichzeitiger Angst vor dem Risiko, das mit dieser Nähe verbunden ist. So führt die Unfähigkeit von vielen Müttern loszulassen dazu, dass viele Töchter ihre Mütter in der Pubertät auffallend stark hassen, magersüchtig werden oder sich ritzen. Bei den Jungen kann - wir wissen es seit Sigmund Freud - überlanger, überflutender Bett-Nähe-Kontakt mit ihren Müttern zu späterer Frauenfeindlichkeit führen. Auch fehlt diesen Männern später der Mut, ihren Ehefrauen zu helfen, die gemeinsamen Kinder entwicklungsadäquat loszulassen. Ein sich wiederholender Kreislauf.
Die nicht stattgefundene Muttertrennung hindert viele Menschen daran, tiefe soziale Bindungen einzugehen. Als klassischer Ersatz werden Drogen oder die virtuelle Welt der Computer gesucht. Dort fühlen sie sich zugehörig, doch sind faktisch getrennt, aber werden - wie im Elternbett - mit der Zeit emotional vereinnahmt und abhängig. All dies um ihre quälende Einsamkeit zu bewältigen, denn reale Nähe erscheint zu bedrohlich.
Wie wir sehen, ändert sich unsere Welt nicht nur im Äußeren, vielmehr auch in der Emotionalität. 

Astrid von Friesen,  Diplom-Pädagogin, Gestalt-, Paar- und Trauma-Therapeutin in Dresden und Freiberg, Supervisorin, Journalistin und Publizistin, unterrichtete 20 Jahre an der TU Bergakademie Freiberg. Ihre beiden letzten Bücher mit Gerhard Wilke: „Generationen als geheime Macht - Wechsel, Erbe und Last“ (2020) sowie „Die Macht der Wiederholungen: Von quälenden Zwängen zu heilenden Ritualen“ (2021). 

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