Kontinent der Vernunft
Jürgen Habermas sieht in "Ach, Europa" die Bedeutung des Kontinents vor allem als globales Korrektiv zu den Hegemoniebestrebungen der USA und Chinas. Hier bleibt er der Überzeugung seines Lehrers Carl Friedrich von Weizsäcker treu, der nur in einer multipolaren Welt stabile internationale Ordnungen für möglich hielt.
"Ach, Europa", ein tiefer Seufzer steht über dem Dutzend von Aufsätzen aus den letzten sieben Jahren, die das politische Denken des einflussreichsten deutschen Philosophen einkreisen. Der Enthusiasmus für die weltpolitische Mission Europas und die nagenden Zweifel an ihrer Realisierbarkeit liegen hier dicht beieinander. Der rote Faden, der die Aufsätze hintergründig verbindet, ist das Verhältnis von politischer Vernunft und gesellschaftlicher Wirklichkeit.
So, wenn Habermas an das demokratische Erbe Richard Rortys und Jacques Derridas erinnert, wenn die Rolle des Intellektuellen im Kontext europäischer Debatten analysiert wird oder wenn es um die Entwicklung journalistischer Öffentlichkeit unter dem Druck digitaler Medien geht. Auch mit fast 80 Jahren lässt sich Habermas von der Frage anstacheln, wie demokratische Gesellschaften, deren Zusammenhalt auf die größtmögliche Zustimmung aller angewiesen ist, sich darüber verständigen können, nicht nur was ist, sondern auch was vernünftigerweise sein sollte.
Demgemäß kann ein Europa der migrationsregulierenden Außengrenzen und des liberalisierten Binnenmarktes nur die abstrakte Hohlform eines Gemeinwesens darstellen, dessen Mitgliedern bei Gleichheit schon etwas mehr einfallen sollte als der Wechselkurs der gemeinsamen Währung. Habermas beharrt demgegenüber auf politischer Vertiefung: auf der Idee einer gesamteuropäischen Verfassung ebenso wie auf einer gemeinsamen Außenpolitik, weil erst die Überwindung einzelstaatlichen Eigensinns, dem alten Kontinent eine machtvolle Stimme im dissonanten Chor der Weltmächte verleihen könnte.
In der Tradition seines Lehrers Carl Friedrich von Weizsäcker glaubt auch Habermas, dass die Utopie einer Weltinnenpolitik ohne Weltregierung nur realisierbar ist, wenn Europa die nötige Balance zwischen den hegemoniesüchtigen Weltmächten herstellt. Wo zu Zeiten des kalten Krieges Ideologien aufeinander prallten, gilt es heute, einen enthemmten Kapitalmarkt zu domestizieren und einen aufgeklärten Einspruch gegen den religiösen Fundamentalismus zu formulieren.
Das sind wichtige Ziele. Wenn aber Europa derart zum Imperativ der Vernunft stilisiert wird, stellt sich die Frage, wie die letzten Volksabstimmungen, sei es zur europäischen Verfassung oder nur zur "Verfassung light" von Lissabon, bei der Bevölkerung auf derart wenig Gegenliebe stoßen konnten. Waren die Franzosen, Niederländer und zuletzt die Iren einfach nicht bei klarem Verstand, als sie mit Nein stimmten?
Dem Problem, Vernunftansprüche und politisches Handeln nicht nur theoretisch sondern auch praktisch zu synchronisieren, sehen sich seit Immanuel Kant alle kategorischen Aufklärer ausgesetzt und auch Habermas macht da keine Ausnahme. Eine politische Vernunft, die nicht schon in der Alltagskultur der Menschen verwurzelt ist, benötigt dann nämlich wenigstens charismatische Sprachrohre, um sich allgemeines Gehör zu verschaffen. An dem Punkt kommen nun die Intellektuellen ins Spiel, aber das macht die Sache auch nicht leichter. Denn die Zersplitterung der Öffentlichkeit durch die neue Unübersichtlichkeit des Internets, raubt laut Habermas den Intellektuellen ihre klar umrissenen Einsatzgebiete.
Die großen Selbstverständigungsdebatten der Republik, an denen vom Historikerstreit bis zur Reproduktionsmedizin Habermas federführend beteiligt war, drohten heute von der großen Bühne der seriösen Presse in den unzähligen Kanälen der digitalen Medien zu versickern. Und an dieser Stelle endet eigentümlicherweise die aufklärerische Fantasie des Aufklärers. Denn eine Vernunft der Vielen, die sich im Netz dezentral verwirklicht, kann sich Habermas, der doch stets die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen betont, nicht vorstellen. Deshalb bekommt auch der Appell an das europäische Bewusstsein einen unangenehmen lehrmeisterlichen Tonfall, der den irrationalen Ausbrüchen der Bürger immer nur die übergeordnete Rationalität Europas vorbuchstabieren kann.
An diesem Punkt war der Ironiker Richard Rorty, dem Habermas im Buch zwei äußert lesenswerte Aufsätze widmet, entspannter und gleichzeitig realistischer. Der Amerikaner war nie der Ansicht, dass die Liebe zur Demokratie allein aus rationaler Einsicht entstehen könnte. Und solange die Europäer Europa nicht lieben können, so hätte es Rorty wohl gesehen, werden sie sich auch vom zwanglosen Zwang des besseren Arguments nicht überzeugen lassen.
Rezensiert von Ralf Müller-Schmid
Jürgen Habermas: Ach, Europa,
Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008,
192 Seiten, 9,00 Euro
So, wenn Habermas an das demokratische Erbe Richard Rortys und Jacques Derridas erinnert, wenn die Rolle des Intellektuellen im Kontext europäischer Debatten analysiert wird oder wenn es um die Entwicklung journalistischer Öffentlichkeit unter dem Druck digitaler Medien geht. Auch mit fast 80 Jahren lässt sich Habermas von der Frage anstacheln, wie demokratische Gesellschaften, deren Zusammenhalt auf die größtmögliche Zustimmung aller angewiesen ist, sich darüber verständigen können, nicht nur was ist, sondern auch was vernünftigerweise sein sollte.
Demgemäß kann ein Europa der migrationsregulierenden Außengrenzen und des liberalisierten Binnenmarktes nur die abstrakte Hohlform eines Gemeinwesens darstellen, dessen Mitgliedern bei Gleichheit schon etwas mehr einfallen sollte als der Wechselkurs der gemeinsamen Währung. Habermas beharrt demgegenüber auf politischer Vertiefung: auf der Idee einer gesamteuropäischen Verfassung ebenso wie auf einer gemeinsamen Außenpolitik, weil erst die Überwindung einzelstaatlichen Eigensinns, dem alten Kontinent eine machtvolle Stimme im dissonanten Chor der Weltmächte verleihen könnte.
In der Tradition seines Lehrers Carl Friedrich von Weizsäcker glaubt auch Habermas, dass die Utopie einer Weltinnenpolitik ohne Weltregierung nur realisierbar ist, wenn Europa die nötige Balance zwischen den hegemoniesüchtigen Weltmächten herstellt. Wo zu Zeiten des kalten Krieges Ideologien aufeinander prallten, gilt es heute, einen enthemmten Kapitalmarkt zu domestizieren und einen aufgeklärten Einspruch gegen den religiösen Fundamentalismus zu formulieren.
Das sind wichtige Ziele. Wenn aber Europa derart zum Imperativ der Vernunft stilisiert wird, stellt sich die Frage, wie die letzten Volksabstimmungen, sei es zur europäischen Verfassung oder nur zur "Verfassung light" von Lissabon, bei der Bevölkerung auf derart wenig Gegenliebe stoßen konnten. Waren die Franzosen, Niederländer und zuletzt die Iren einfach nicht bei klarem Verstand, als sie mit Nein stimmten?
Dem Problem, Vernunftansprüche und politisches Handeln nicht nur theoretisch sondern auch praktisch zu synchronisieren, sehen sich seit Immanuel Kant alle kategorischen Aufklärer ausgesetzt und auch Habermas macht da keine Ausnahme. Eine politische Vernunft, die nicht schon in der Alltagskultur der Menschen verwurzelt ist, benötigt dann nämlich wenigstens charismatische Sprachrohre, um sich allgemeines Gehör zu verschaffen. An dem Punkt kommen nun die Intellektuellen ins Spiel, aber das macht die Sache auch nicht leichter. Denn die Zersplitterung der Öffentlichkeit durch die neue Unübersichtlichkeit des Internets, raubt laut Habermas den Intellektuellen ihre klar umrissenen Einsatzgebiete.
Die großen Selbstverständigungsdebatten der Republik, an denen vom Historikerstreit bis zur Reproduktionsmedizin Habermas federführend beteiligt war, drohten heute von der großen Bühne der seriösen Presse in den unzähligen Kanälen der digitalen Medien zu versickern. Und an dieser Stelle endet eigentümlicherweise die aufklärerische Fantasie des Aufklärers. Denn eine Vernunft der Vielen, die sich im Netz dezentral verwirklicht, kann sich Habermas, der doch stets die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen betont, nicht vorstellen. Deshalb bekommt auch der Appell an das europäische Bewusstsein einen unangenehmen lehrmeisterlichen Tonfall, der den irrationalen Ausbrüchen der Bürger immer nur die übergeordnete Rationalität Europas vorbuchstabieren kann.
An diesem Punkt war der Ironiker Richard Rorty, dem Habermas im Buch zwei äußert lesenswerte Aufsätze widmet, entspannter und gleichzeitig realistischer. Der Amerikaner war nie der Ansicht, dass die Liebe zur Demokratie allein aus rationaler Einsicht entstehen könnte. Und solange die Europäer Europa nicht lieben können, so hätte es Rorty wohl gesehen, werden sie sich auch vom zwanglosen Zwang des besseren Arguments nicht überzeugen lassen.
Rezensiert von Ralf Müller-Schmid
Jürgen Habermas: Ach, Europa,
Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008,
192 Seiten, 9,00 Euro