Kontingenzbewusstsein
Der Witz ist gut und leicht obszön. Er kann in verschiedenen Dialekten erzählt werden. Wir wählen die norddeutsche Version: Du, Heiner - sagt einer - , deine Frau soll ja eine Granate im Bett sein. Na ja - antwortet Heiner - , die einen sagen so, die anderen sagen so.
Wer den Witz intus hat, wird sich bald dabei ertappen, dass er seine Pointe bei höchst unterschiedlichen Gelegenheiten wiederholt. Die allgemeine Sittenlockerung nach 1968 ist doch eine feine Sache. - Na ja, die einen sagen so, die anderen sagen so. Der Untergang des Sowjetkommunismus hat auch Russland selbst nur Vorteile gebracht. Na ja, die einen sagen so, die anderen sagen so. Es beweist die politische Klugheit der Briten, dass sie so entschlossen an ihrer Monarchie festhalten. Na ja, die einen sagen so, die anderen sagen so.
Und so weiter. Die Witzformel teilt die Wahrheit mit, dass man von so gut wie allen starken Aussagen auch das Gegenteil behaupten kann. Die britische Monarchie ist sklerotisch und lähmt die politischen Energien der Nation; seit dem Untergang der Sowjetunion herrscht in Russland Tohuwabohu; seit '68 breitet sich in Deutschland ein Werte- und Sittenverfall aus, der längst bedrohliche Ausmaße angenommen hat.
All das kann man ebenfalls sagen. Ein jeder kennt Leute, die der einen oder anderen Meinung sind. Die einen sagen so, die anderen sagen so. Und jeder weiß es. Das nennt man, um ein bisschen vornehm zu tun, Kontingenzbewusstsein. Die moderne Welt wird davon geprägt. Das macht es immer wieder schwierig, dogmatische Wahrheiten zu behaupten. So gab es im England der Fünfziger eine Philosophin namens Elizabeth Anscombe, die sich um eine Liste absoluter Verbote bemühte.
Zu ihnen sollte beispielsweise der Geschlechtsverkehr ohne Prokreationsabsicht gehören; einzig zur Vermehrung der Menschen hat Gott ihre Sexualwerkzeuge erfunden. Tja, wandte ein witziger Schriftsteller ein, dann müsse man auch alle Rückspiegel an Autos und Lastwagen entfernen, denn Gott habe dem Menschen die Augen zum Nachvornesehen geschenkt. Hinten haben wir bekanntlich keine, und so ist der Rückspiegel wider den Schöpfungsplan.
Wahrheiten, die dogmatisch und autoritativ verstanden sein wollen, haben in der modernen Welt Anschlussprobleme. Aktive Sterbehilfe ist ebenso Mord wie Abtreibung und verbrauchende Embryonenforschung. Die katholische Lehre steckt voll von solchen Aussagen, auf die keiner soll reagieren können mit: Naja, die einen sagen so, die anderen sagen so. Dogmatismus und Autoritarismus üben immer wieder einen starken Reiz aus, wie die neokatholische Schwärmerei, die zuweilen ausbricht, zeigt - einen ästhetischen Reiz gewissermaßen. Denn wirklich einer Autorität unterwerfen mag sich niemand in der modernen Welt.
Das Kontingenzbewusstsein bleibt stets erhalten. Bekanntlich hält eine beachtliche demoskopische Mehrheit aktive Sterbehilfe ebenso wie Gentechnologie für eine gute Sache; Katholiken machen fleißig von den legalen Abtreibungsmöglichkeiten Gebrauch und kümmern sich nicht um die Urteile ihrer Kirchenherrn. Die garantierte Glaubens- und Meinungsfreiheit sorgt dafür, dass zu fast jeder Meinung die Gegenmeinung fortexistiert. Die einen sagen so, die anderen sagen so.
Freilich mag man nicht jederzeit mit der Gegenmeinung konfrontiert sein. Man sucht für sich persönlich das Meinungsmilieu, das mit den eigenen Einschätzungen einigermaßen übereinstimmt. In einem von Woody Allens Filmen entwickelt der Sohn der liberalen New Yorker Familie plötzlich rechtskonservative Ansichten - er leidet, wie sich dann herausstellt, an einer Durchblutungsstörung des Gehirns, die leicht zu beseitigen ist. Vater strahlt. Was in jeder Hinsicht eine hundsgemeine Pointe ist. Wer die Todesstrafe für gerechtfertigt hält und für niedrige Steuern plädiert, dessen Kopf funktioniert falsch. So etwas darf eigentlich nicht denken, wer das Kontingenzbewusstsein als Fundament der modernen Welt anerkennt.
Die Demokratie ist eine äußerst praktische Erfindung, um das Verhältnis von Meinung und Gegenmeinung zu stabilisieren. Die einen sagen so - das ist die Regierung. Die anderen sagen so - das ist die Opposition. Und nach den Wahlen können sie die Plätze tauschen, und plötzlich sagt die Regierung, was zuvor die Opposition gesagt hat. Oder es stellt sich heraus, dass beide die ganze Zeit ungefähr dasselbe gesagt und bloß bei den Unterscheidungen viel zu dick aufgetragen haben.
So brauchen wir uns keine Sorgen wegen der großen Koalition zu machen. Zwar schaut es auf den ersten Blick so aus, als wäre der Unterschied zwischen Regierung und Opposition verschwunden, und beide reden von nun an unisono. Aber es wird nicht lange dauern, da ist wieder jede Menge Gegenmeinung in der Luft. Mal sehen, woher sie kommt.
Michael Rutschky, geboren 1943 in Berlin, ist Schriftsteller und freier Publizist. Er arbeitet für Presse und Rundfunk. Buchveröffentlichungen u. a. "Die Meinungsfreude", "Unterwegs im Beitrittsgebiet", "Mit Dr. Siebert in Amerika" und "Berlin – die Stadt als Roman".
Und so weiter. Die Witzformel teilt die Wahrheit mit, dass man von so gut wie allen starken Aussagen auch das Gegenteil behaupten kann. Die britische Monarchie ist sklerotisch und lähmt die politischen Energien der Nation; seit dem Untergang der Sowjetunion herrscht in Russland Tohuwabohu; seit '68 breitet sich in Deutschland ein Werte- und Sittenverfall aus, der längst bedrohliche Ausmaße angenommen hat.
All das kann man ebenfalls sagen. Ein jeder kennt Leute, die der einen oder anderen Meinung sind. Die einen sagen so, die anderen sagen so. Und jeder weiß es. Das nennt man, um ein bisschen vornehm zu tun, Kontingenzbewusstsein. Die moderne Welt wird davon geprägt. Das macht es immer wieder schwierig, dogmatische Wahrheiten zu behaupten. So gab es im England der Fünfziger eine Philosophin namens Elizabeth Anscombe, die sich um eine Liste absoluter Verbote bemühte.
Zu ihnen sollte beispielsweise der Geschlechtsverkehr ohne Prokreationsabsicht gehören; einzig zur Vermehrung der Menschen hat Gott ihre Sexualwerkzeuge erfunden. Tja, wandte ein witziger Schriftsteller ein, dann müsse man auch alle Rückspiegel an Autos und Lastwagen entfernen, denn Gott habe dem Menschen die Augen zum Nachvornesehen geschenkt. Hinten haben wir bekanntlich keine, und so ist der Rückspiegel wider den Schöpfungsplan.
Wahrheiten, die dogmatisch und autoritativ verstanden sein wollen, haben in der modernen Welt Anschlussprobleme. Aktive Sterbehilfe ist ebenso Mord wie Abtreibung und verbrauchende Embryonenforschung. Die katholische Lehre steckt voll von solchen Aussagen, auf die keiner soll reagieren können mit: Naja, die einen sagen so, die anderen sagen so. Dogmatismus und Autoritarismus üben immer wieder einen starken Reiz aus, wie die neokatholische Schwärmerei, die zuweilen ausbricht, zeigt - einen ästhetischen Reiz gewissermaßen. Denn wirklich einer Autorität unterwerfen mag sich niemand in der modernen Welt.
Das Kontingenzbewusstsein bleibt stets erhalten. Bekanntlich hält eine beachtliche demoskopische Mehrheit aktive Sterbehilfe ebenso wie Gentechnologie für eine gute Sache; Katholiken machen fleißig von den legalen Abtreibungsmöglichkeiten Gebrauch und kümmern sich nicht um die Urteile ihrer Kirchenherrn. Die garantierte Glaubens- und Meinungsfreiheit sorgt dafür, dass zu fast jeder Meinung die Gegenmeinung fortexistiert. Die einen sagen so, die anderen sagen so.
Freilich mag man nicht jederzeit mit der Gegenmeinung konfrontiert sein. Man sucht für sich persönlich das Meinungsmilieu, das mit den eigenen Einschätzungen einigermaßen übereinstimmt. In einem von Woody Allens Filmen entwickelt der Sohn der liberalen New Yorker Familie plötzlich rechtskonservative Ansichten - er leidet, wie sich dann herausstellt, an einer Durchblutungsstörung des Gehirns, die leicht zu beseitigen ist. Vater strahlt. Was in jeder Hinsicht eine hundsgemeine Pointe ist. Wer die Todesstrafe für gerechtfertigt hält und für niedrige Steuern plädiert, dessen Kopf funktioniert falsch. So etwas darf eigentlich nicht denken, wer das Kontingenzbewusstsein als Fundament der modernen Welt anerkennt.
Die Demokratie ist eine äußerst praktische Erfindung, um das Verhältnis von Meinung und Gegenmeinung zu stabilisieren. Die einen sagen so - das ist die Regierung. Die anderen sagen so - das ist die Opposition. Und nach den Wahlen können sie die Plätze tauschen, und plötzlich sagt die Regierung, was zuvor die Opposition gesagt hat. Oder es stellt sich heraus, dass beide die ganze Zeit ungefähr dasselbe gesagt und bloß bei den Unterscheidungen viel zu dick aufgetragen haben.
So brauchen wir uns keine Sorgen wegen der großen Koalition zu machen. Zwar schaut es auf den ersten Blick so aus, als wäre der Unterschied zwischen Regierung und Opposition verschwunden, und beide reden von nun an unisono. Aber es wird nicht lange dauern, da ist wieder jede Menge Gegenmeinung in der Luft. Mal sehen, woher sie kommt.
Michael Rutschky, geboren 1943 in Berlin, ist Schriftsteller und freier Publizist. Er arbeitet für Presse und Rundfunk. Buchveröffentlichungen u. a. "Die Meinungsfreude", "Unterwegs im Beitrittsgebiet", "Mit Dr. Siebert in Amerika" und "Berlin – die Stadt als Roman".