Kontrollverlust über den eigenen Körper
Siri Hustvedt ist groß auf dem Cover abgebildet. Blond, schön, in halb liegender Position blickt sie dem Käufer in die Augen. "Die zitternde Frau" heißt ihr neues Buch, das im Untertitel "Eine Geschichte meiner Nerven" verspricht. Man könnte demnach etwas sehr Persönliches und vor allem Literarisches erwarten. Tatsächlich handelt es sich allenfalls um einen psychologischen "Fall". Es ist zwar der der Autorin selbst, aber nicht als "Geschichte", sondern als psychologisches Sachbuch.
Im Jahr 2003 starb ihr Vater. Als sie drei Jahre später eine Gedenkrede auf ihn hielt, fing sie plötzlich völlig unkontrolliert zu zittern an. Das hatte nichts mit Lampenfieber zu tun, mit Angst oder mit Trauer. Sie konnte dabei auch ganz normal weitersprechen. Doch "vom Hals an abwärts" schlotterte sie so, dass ihr der eigene Körper als etwas Fremdes erschien.
Wenig später wiederholten sich diese Symptome, und Siri Hustvedt begann damit, neurologische, psychiatrische und psychoanalytische Fachbücher zu studieren. Sie lese wie eine Besessene, meinte ihr Mann, der Schriftsteller Paul Auster. Ihre Lesegier habe Ähnlichkeit mit einer Sucht. Wie recht Auster hatte, ist nun leider auch dem fertigen Buch anzumerken.
Hustvedt breitet ihren ganzen Zettelkasten aus. Sie gräbt sich durch die Forschungsliteratur, auf der Spur von Hysterie, Trauma, Traumforschung, Migräne und Epilepsie. Dabei bewegt sie sich auf der schmalen Grenze zwischen Körper und Geist, psychischer und neurologischer Ebene. Und je länger sie darüber nachdenkt, ums0 schwieriger wird es, diese Grenze zu bestimmen.
Das Interessanteste an ihren Leseprotokollen sind die Fragen, die sie in diesem Zusammenhang aufwirft. Wie kann es sein, dass das bloße Reden einen Menschen von körperlichen Symptomen befreit? Wie verwandeln sich psychologische Prozesse in neurobiologische? Was ist Subjektivität? "Ist der Charakter nicht die Summe unserer Teile, und sind diese Teile nicht organisch?" Wer sind wir überhaupt? Und immer wieder die zentrale Frage: Was ist Körper, was ist Geist?
Vielleicht reicht es schon aus, sich auf all diese Fragen wirklich einzulassen, um zittern zu müssen. Denn haltbare Antworten hat auch die Wissenschaft nicht zu bieten. Zwar, schreibt Hustvedt, "sind die meisten Wissenschaftler darin einig, dass auch das Geistige in Wirklichkeit physisch ist, nur können sie nicht beschreiben, wie das funktioniert." Deshalb gibt es auch die Gegenposition derer, für die die Welt nichts als Geist ist, weil es unmöglich ist, "aus dem eigenen Kopf zu springen" und "objektiver Beobachter zu sein". Auch Wissenschaft ist nur eine Fiktion.
Hustvedt mutiert in diesem eigentümlichen Buch von einer Schriftstellerin zur Wissenschaftlerin. Das heißt: Sie findet keine literarische Sprache für ihre eigene Krankengeschichte, sondern versucht sie im Wissenschaftsjargon zu objektivieren und damit von sich wegzurücken. Sie folgt einem Autorenmodell, das seit Goethes – der ja noch ohne die Blamage zu fürchten, sich in naturwissenschaftlichen Erörterungen erging – aus der Mode geriet. Die Schriftstellerin als Forscherin und als Universalistin traut sich zu, in Diskurse wissenschaftlicher Spezialisten einzugreifen. Ihr Vorteil ist die Unbelastetheit, mit der sie die verschiedenen konkurrierenden Disziplinen zusammenbringt. Ihr Nachteil ist die fachliche Ahnungslosigkeit.
Statt Sicherheit zu gewinnen, verliert Hustvedt im Verlauf ihres Lektüremarathons die Gewissheiten. Auch die Hysterie-Diagnose ist schließlich nicht mehr haltbar. Die Geschichte der zitternden Frau lehrt sie jedoch, auf sich selbst aus immer neuen Perspektiven zu blicken. Für den Leser ist das mühsam: Man quält sich durch die gesammelte Exzerpte.
Ihre letzte Erkenntnis – dass "die zitternde Frau", die ihr doch wie eine Fremde erschien, ein Teil ihrer selbst ist, den sie annehmen und mit dem sie leben muss – ist auch nicht wirklich originell. Unterwegs aber stellt sie viele spannende Fragen. Was ist der Mensch? Darauf gibt es, auch wenn es um das eigene Ich geht, keine befriedigende Antwort. Sicher ist nur, dass wir viel mehr sind als bloß die Summe unserer Nervenzellen.
Besprochen von Jörg Magenau
Siri Hustvedt: Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven
Deutsch von Uli Aumüller und Grete Osterwald
Rowohlt, Reinbek 2010
236 Seiten, 18,90 Euro
Wenig später wiederholten sich diese Symptome, und Siri Hustvedt begann damit, neurologische, psychiatrische und psychoanalytische Fachbücher zu studieren. Sie lese wie eine Besessene, meinte ihr Mann, der Schriftsteller Paul Auster. Ihre Lesegier habe Ähnlichkeit mit einer Sucht. Wie recht Auster hatte, ist nun leider auch dem fertigen Buch anzumerken.
Hustvedt breitet ihren ganzen Zettelkasten aus. Sie gräbt sich durch die Forschungsliteratur, auf der Spur von Hysterie, Trauma, Traumforschung, Migräne und Epilepsie. Dabei bewegt sie sich auf der schmalen Grenze zwischen Körper und Geist, psychischer und neurologischer Ebene. Und je länger sie darüber nachdenkt, ums0 schwieriger wird es, diese Grenze zu bestimmen.
Das Interessanteste an ihren Leseprotokollen sind die Fragen, die sie in diesem Zusammenhang aufwirft. Wie kann es sein, dass das bloße Reden einen Menschen von körperlichen Symptomen befreit? Wie verwandeln sich psychologische Prozesse in neurobiologische? Was ist Subjektivität? "Ist der Charakter nicht die Summe unserer Teile, und sind diese Teile nicht organisch?" Wer sind wir überhaupt? Und immer wieder die zentrale Frage: Was ist Körper, was ist Geist?
Vielleicht reicht es schon aus, sich auf all diese Fragen wirklich einzulassen, um zittern zu müssen. Denn haltbare Antworten hat auch die Wissenschaft nicht zu bieten. Zwar, schreibt Hustvedt, "sind die meisten Wissenschaftler darin einig, dass auch das Geistige in Wirklichkeit physisch ist, nur können sie nicht beschreiben, wie das funktioniert." Deshalb gibt es auch die Gegenposition derer, für die die Welt nichts als Geist ist, weil es unmöglich ist, "aus dem eigenen Kopf zu springen" und "objektiver Beobachter zu sein". Auch Wissenschaft ist nur eine Fiktion.
Hustvedt mutiert in diesem eigentümlichen Buch von einer Schriftstellerin zur Wissenschaftlerin. Das heißt: Sie findet keine literarische Sprache für ihre eigene Krankengeschichte, sondern versucht sie im Wissenschaftsjargon zu objektivieren und damit von sich wegzurücken. Sie folgt einem Autorenmodell, das seit Goethes – der ja noch ohne die Blamage zu fürchten, sich in naturwissenschaftlichen Erörterungen erging – aus der Mode geriet. Die Schriftstellerin als Forscherin und als Universalistin traut sich zu, in Diskurse wissenschaftlicher Spezialisten einzugreifen. Ihr Vorteil ist die Unbelastetheit, mit der sie die verschiedenen konkurrierenden Disziplinen zusammenbringt. Ihr Nachteil ist die fachliche Ahnungslosigkeit.
Statt Sicherheit zu gewinnen, verliert Hustvedt im Verlauf ihres Lektüremarathons die Gewissheiten. Auch die Hysterie-Diagnose ist schließlich nicht mehr haltbar. Die Geschichte der zitternden Frau lehrt sie jedoch, auf sich selbst aus immer neuen Perspektiven zu blicken. Für den Leser ist das mühsam: Man quält sich durch die gesammelte Exzerpte.
Ihre letzte Erkenntnis – dass "die zitternde Frau", die ihr doch wie eine Fremde erschien, ein Teil ihrer selbst ist, den sie annehmen und mit dem sie leben muss – ist auch nicht wirklich originell. Unterwegs aber stellt sie viele spannende Fragen. Was ist der Mensch? Darauf gibt es, auch wenn es um das eigene Ich geht, keine befriedigende Antwort. Sicher ist nur, dass wir viel mehr sind als bloß die Summe unserer Nervenzellen.
Besprochen von Jörg Magenau
Siri Hustvedt: Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven
Deutsch von Uli Aumüller und Grete Osterwald
Rowohlt, Reinbek 2010
236 Seiten, 18,90 Euro