Aussichtsloser Kampf gegen den Verfall
Berge von Haarbüscheln, tausende Koffer, ungezählte Paare Schuhe: Die Hinterlassenschaften der Opfer von Auschwitz helfen mit, die Geschichte des Lagers zu erzählen. Doch 70 Jahre nach dem Ende des Krieges verfallen sie zunehmend. Und die Restauratoren kommen kaum hinterher.
"Ein kleines Federmäppchen, da ist die Restauratoren-Ausstattung drin, eine Pinzette zum Beispiel habe ich mit dabei, Pinselchen..."
Margrit Bormann packt die Tasche für ihren nächsten Einsatz. Mit dem weißen Labor-Kittel und der eckigen Brille sieht sie aus wie eine Ärztin. Nur heilt die 34-jährige Deutsche keine Wunden, sondern Erinnerungsstücke - rettet Habseligkeiten der Auschwitz-Opfer vor Staub, Rost und Schimmel. Bormann ist Konservatorin. Ihre wichtigste Regel: Erhalten, nicht reparieren.
"Zum Beispiel unsere Koffer, die wir im Museum haben: ein Großteil von denen ist zerknautscht, oder es fehlt der Deckel oder die Schließe funktioniert nicht mehr - das sind aber Sachen, die wir nicht reparieren, weil das originale Schäden sind - und so erhalten wir sie auch."
Bormann und ihre Kollegen reinigen die Koffer, überziehen Metallteile mit Schutzlack. Lederschuhe werden desinfiziert und eingefettet. Ein paar davon schaffen die Konservatoren am Tag - mehr als 100.000 gibt es insgesamt. Und das sind nur die Schuhe. Was die Wissenschaftler aufwendig konservieren, das schauen sich Besucher im Museum Auschwitz an.
Zwei Tonnen Haare hinter Glas - den Todgeweihten von den Köpfen geschoren
In Block 5 des Stammlagers zum Beispiel. Hinter Glaswänden türmen sich tausende Koffer. Der Name Franz Engel, weiß auf dunklem Leder; Schuhe: eine rote Mädchensandale, vielleicht Größe 25; Kochtöpfe und Pfannen: ein Milchkännchen, die blaue Emaille abgeplatzt.
Im Gebäude nebenan deutet Krystyna Oleksy auf eine Glaswand - dahinter: Berge von Haarbüscheln.
"Man hat sie so gefunden, wie sie auf dem Foto an der Wand sehen: Die waren in die Papiersäcke zusammenverpackt..."
Die zierliche Polin arbeitet seit fast 40 Jahren für die Gedenkstätte. Man erkennt kaum, ob die Haare hinter dem Glas mal braun waren, blond, oder schwarz. Gut zwei Tonnen sind es, den Todgeweihten von den Köpfen geschoren. Oleksy nennt sie "Lebenszeichen".
"Ob man - nicht wie man - sondern ob man die Haare konservieren soll, haben wir mit den Überlebenden diskutiert und viele haben gesagt: Das könnte das Haar meiner Mutter, meiner Frau, meiner Schwester sein und all das sind doch Menschenteile, man soll eigentlich die Haare vergraben. Das machen wir nicht, die sind mit dem Ort verbunden. Aber die Haare werden konservatorisch nicht behandelt."
Das heißt: Sie bleiben liegen, bis sie irgendwann zerfallen.
Auschwitz-Birkenau - die Mordfabrik der Nazis, gut drei Kilometer vom Museum entfernt. Krystyna Oleksy führt die Besucher entlang der dunklen Bahngleise - damals für Hunderttausende der Weg in den Tod. Einer, der das mit ansehen musste und heute als Zeitzeuge darüber spricht, ist Jacek Zieliniewicz. Er zeigt auf ein dunkles Backsteingebäude.
Was, wenn kein Zeitzeuge mehr sprechen kann?
"Und diese Baracke das ist Blockführerstube für Frauenlager und da hinten stand das Orchester... Und die Juden sind zum Krematorium 4 und 5 gegangen durch diese Straße."
Zieliniewicz war politischer Häftling in Auschwitz. Heute ist er 87 Jahre alt, hört schwer, geht leicht gebückt. Er sagt, er will der Gruppe auch das zentrale Aufnahmegebäude zeigen. Hier haben die Nazis neue Häftlinge registriert. Menschen wurden zu Nummern degradiert. Zieliniewicz erzählt, wie er helfen musste, das Gebäude zu bauen - da war er noch keine 18 Jahre alt.
"Hier liegen doch ehemalige Häftlinge, hier sind auch meine Freunde, die Asche meiner Freunde - das ist ein Grab für mich, eine Erinnerung."
Aber was, wenn Zieliniewicz nicht mehr über Auschwitz sprechen kann? Was, wenn kein Zeitzeuge mehr da ist? Pawel Sawicki soll darauf eine Antwort finden. Der 33-Jährige mit dem dunklen Vollbart ist Pressesprecher der Gedenkstätte.
"Wenn es die Überlebenden und ihre Erinnerungen nicht mehr gibt, dann wird sich dieser Ort verändern. Also müssen wir etwas tun. Soziale Netzwerke sind da eine Möglichkeit und auch eine interessante Form des Gedenkens."
2009 hat er die Gedenkstätte bei Facebook angemeldet. Inzwischen hat die Seite mehr als 100.000 "Likes" - so makaber das auch klingt.
"Ich habe sozusagen ein Klassenzimmer mit 100.000 Schülern - was auch immer ich poste, das sehen sie. Aber wir betonen immer wieder: Der Besuch hier zählt. Nichts kann den Besuch in Auschwitz ersetzen."
Denn dieser Ort des Todes erzählt doch auch vom Leben: Die Koffer, Haare, Schuhe - sie brennen sich ein ins Gedächtnis. Erinnerungen, die auch in der Generation Facebook nicht mit dem nächsten Klick verschwinden.