Befreiung von innen und außen
Vor 70 Jahren rückten amerikanische Soldaten in das KZ Buchenwald ein. Der Historiker Axel Doßmann erklärt, warum die Wissenschaft inzwischen von einer äußeren und inneren Befreiung spricht.
Am 11. April jährt sich ein weiterer historischer Tag: Vor 70 Jahren beendeten US-Soldaten die Herrschaft der SS über das Konzentrationslager Buchenwald. Massiver Widerstand gegen die Nazis fand aber auch innerhalb des Lagers statt. Die überwiegend politischen Häftlinge hätten schon Jahre zuvor begonnen, sich zu organisieren und den Widerstand aufzubauen, sagt der Historiker Axel Doßmann im Deutschlandradio Kultur. Er beschreibt ausführlich die Situation im Lager Anfang April 1945. Die Häftlinge stehen von der Frage, ob sie gegen die SS kämpfen sollen. Die Front ist schon zu hören, es naht die Befreiung. Doch was tun gegen 3000 SS-Männer? Die Insassen entscheiden sich gegen den Aufstand, gegen ein unkalkulierbares Blutvergießen, verstecken besonders gefährdete Inhaftierte, verzögern die Todesmärsche. Letztlich die wohl richtige Entscheidung. Ein paar Tage später übernehmen die Gefangenen dann die Kontrolle über das Lager, die SS flieht. Kurz darauf sind die Amerikaner da.
Das Gespräch im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Es war vor fast 70 Jahren, am 11. April 1945, als das KZ Buchenwald bei Weimar von amerikanischen Truppen befreit wurde. Aber schon vor dem Einmarsch gab es etliche Versuche von Häftlingen, sich gegen die Bewacher aufzulehnen.
Der Jenenser Historiker Axel Doßmann hat darüber geschrieben und sich in einem Buch auch zur Erinnerungskultur geäußert und damit befasst, wie das Gedenken an Buchenwald jetzt und in der Zukunft sein könnte. Als akademischer Rat am Lehrstuhl für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit thematisiert er also die Formen der Erinnerungskultur. Jetzt ist Axel Doßmann bei mir im Studio. Schönen guten Morgen!
Axel Doßmann: Schönen guten Morgen!
von Billerbeck: Häftlinge, die ihr Schicksal in der mörderischen Maschinerie in so einem KZ selbst in die Hand nehmen, die es sogar schaffen, sich zu bewaffnen – wie war so was möglich? Das kann man sich heute kaum noch vorstellen.
Den politischen Häftlingen war der Kampf für eine bessere Welt nicht fremd
Doßmann: Buchenwald ist 1937 gegründet worden, und die ersten Häftlinge in den ersten Jahren waren ganz überwiegend politisch Verfolgte, darunter sehr viele deutsche Kommunisten. Und die haben sehr früh begonnen, ihre Situation im Sinne dessen, mit dem sie groß geworden sind, nämlich als Kommunisten für eine bessere Welt, für eine andere Welt, für eine sozialistische, kommunistische Welt zu kämpfen. In diesem kämpferischen Bewusstsein sich selbst zu organisieren, sich zu disziplinieren und eben eine Widerstandsgruppe aufzubauen.
Das ist verstärkt worden durch die Deportation von vielen europäischen Widerstandskämpfern, die dann auch mit Beginn des Krieges nach Buchenwald deportiert worden sind, so dass sich hier eine zahlenmäßig nicht sehr große Gruppe im Vergleich zu dem, was das Lager insgesamt an Menschen fasste, aber doch eine Gruppe bilden konnte, die sich über die Jahre hinweg auch durch die Produktion von Waffen, die dort stattgefunden hat, zu kleinen Teilen bewaffnen konnte und insofern einen Versuch starten konnte für den Fall, dass es eine Situation gibt, in der sie mit der SS in den Kampf treten müssen, diese Waffen nehmen und Widerstand leisten können.
von Billerbeck: Wegen dieser Vorgeschichte, die Sie eben geschildert haben, dass es da Versuche gegeben hat, sich selbst zu befreien, ist es wahrscheinlich auch nicht so ganz zutreffend, von einem Tag der Befreiung am 11. April zu sprechen, denn an diesem Datum sind ja amerikanische Soldaten in das KZ Buchenwald eingerückt. Wie unterscheiden sich denn die Perspektiven auf diesen Tag der Befreiung aus der Sicht der Lagerinsassen und auch aus der Sicht der amerikanischen Soldaten?
Doßmann: Dafür noch mal einen kleinen Schritt zurück. Die Situation im Lager Anfang April ist – klar, man hört gewissermaßen schon die Front, es grollt im Hintergrund. Das muss man sich vorstellen: Die Häftlinge wissen, es naht die Befreiung, ein Moment, der kaum vorstellbar ist und doch sich sehr greifbar nahe darlegt. Und jetzt ist für das illegale Lagerkomitee, kommunistisch dominiert, was machen wir mit den versteckten Waffen? Wollen wir jetzt tatsächlich einen Aufstand riskieren?
von Billerbeck: Das war ja auch gefährlich, mit diesen vielen Todesmärschen und Morden, die gerade im letzten Moment noch passiert sind.
Anfang April 1945: Was tun gegen 3000 SS-Schergen?
Doßmann: Ja. Was tut man also? Was tun sie? Sie sagen, nein, wir wagen nicht den Aufstand jetzt, weil wir wären hoffnungslos unterlegen, 3.000 SS-Männer, das wird ein Riesen-Massaker. Das einzige, was wir tun können, sind die Todesmärsche, die Deportationen zu verzögern. Das versuchen sie.
von Billerbeck: Wie konnten die das machen?
Doßmann: Indem sie einerseits bestimmten Befehlen nicht mehr nachgekommen sind, die vonseiten der SS gekommen sind, oder sie schlichtweg wirklich verzögert haben, also nicht mehr die Disziplin aufbrachten, die sie in den Vorjahren geleistet haben. Andere versteckten. Es wurden Kommunisten, die sehr gefährdet waren, die drohten, noch in den letzten Tagen erschossen zu werden, versteckt, darunter auch Bruno Apitz zum Beispiel, der hat selber die letzten Tage des Lagers versteckt überlebt.
Diese Situation war enorm angespannt, und am 11. April war der Moment da, als nicht nur das Geräusch der Amerikaner zu hören war, sondern auch die Panzer selbst. Die ersten Panzer rollten am Lager vorbei, und das war der Moment, wo man sagen konnte, jetzt ist wohl auch offenbar die Gefahr, dass die SS noch ernsthaft zurückschlägt, gebannt. Und in der Tat, die meisten Wachen waren abgezogen, die SS war in den letzten Stunden geflohen. Und die dann bewaffneten Widerstandskämpfer im Lager konnten die noch verbleibenden Wachen meist kampflos schlichtweg in Haft nehmen. Und das war eine wichtige Situation, weil jetzt war es diese Lagerleitung, die auch die Kontrolle über das Lager übernehmen konnte und dann an die Amerikaner einen Tag später übergeben konnte.
von Billerbeck: Nun ist das so ein Datum, dieser 11. April 1945, die Erinnerung daran ist ja sehr verschieden. Es gibt also sehr pathetische Erinnerungen, es gibt den großen Schwur von Buchenwald, bei dem sich die Häftlinge in einem Gelöbnis geschworen haben, nie wieder solche Verbrechen zuzulassen.
Dieses Pathos ist gerade für die heutige junge Generation vermutlich nicht mehr die Form, wie man sich daran erinnert. Sie befassen sich ja mit der Erinnerungskultur und arbeiten auch mit jungen Leuten zusammen – wie versuchen die denn, sich an so ein Ereignis, das also Generationen zurückliegt, zu erinnern und das auch wach zu halten.
Es gab die Befreiung von innen und die von außen
Doßmann: Es gibt mindestens drei Perspektiven, denke ich. Zum einen habe ich immer wieder erfahren, sie wollen sehr genau wissen, was ist da passiert. Also ihre Frage, was ist denn jetzt mit der Befreiung, Selbstbefreiung – da möchten sie präzise Antworten, und sie sind erst dann zufrieden, wenn sie auch Dokumente auf dem Tisch haben. Das ist sehr erfreulich, weil so kann man präzise auch über die Grenzen der Interpretation reden.
Heute reden wir von einer Befreiung von innen und einer Befreiung von außen, weil beides ist richtig. Ohne die Amerikaner hätte es diese Form der Befreiung von innen nicht geben können. Das muss man festhalten. Und gleichzeitig war es auch die Leistung des kommunistischen Widerstandskomitees im Lager, noch an den letzten Tagen so viele Deportationen doch verzögern und zum Teil verhindern zu können. Oder auch zum Beispiel die vielen Kinder im Lager retten zu können.
Also solche Sachen, solche Geschichten präzise zu erzählen, ist wichtig. Die andere Frage ist, ja, Pathos – man will vielleicht auch den historischen Pathos verstehen. Man versteht sehr gut, warum es die Amerikaner waren, die gesagt haben, so, jetzt sollen hier Weimarer auf den Ettersberg, und wir werden sie mit diesen Verbrechen konfrontieren. Was schon schwieriger wird zu verstehen und zu vermitteln, ist die Tatsache, was die Häftlinge im Einverständnis mit den Amerikanern zum Teil gemacht haben, damit das Verbrechen noch vor die Augen der Weltöffentlichkeit treten kann.
Es wurden Journalisten aus den USA an den Ort des Verbrechens geholt, es wurden Parlamentarier geholt, und sie sahen – das sind Bilder, die wir alle kennen – Stapel von Leichen. Das sind aber die Toten, die am 16. April gezeigt worden sind, das waren die Toten, die auch noch nach der Befreiung des Lagers nicht mehr zu retten waren. Also die Häftlinge, die nicht mehr zu retten waren. Sie starben noch nach der Befreiung, man konnte sie nicht mehr retten. Und dieses sozusagen Feststellen, dieses Fixieren der Zeit im Moment der Befreiung, auch noch über die Tage hinaus, ist ein Phänomen, was nicht nur mich und meine Generation, Jahrgang '68 umtreibt, sondern meines Erachtens auch die Jüngeren.
Und dann, drittens, stellen sie ganz neue Fragen, nämlich, hey, was hat das mit uns zu tun? Studierende haben jetzt eine Initiative ergriffen und gesagt, wir machen eine Veranstaltung zur Frage der Fluchthilfe in unserer Gegenwart. Dass so viele in die Lage im NS gekommen sind, hatte auch etwas damit zu tun, dass Flucht für viele nicht mehr möglich war. Insofern werden da ganz neue Beziehungen aufgestellt, nicht sinnlos gleichgesetzt, aber doch Beziehungen zu unserer Gegenwart.
von Billerbeck: Vor fast 70 Jahren, am 11. April 1945 wurde das Konzentrationslager Buchenwald befreit. Darüber sprach ich, auch über die Erinnerungskultur, mit dem Jenenser Historiker Axel Doßmann. Danke Ihnen!
Doßmann: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.