Rundumerlebnis mit der virtuellen Konzertbrille
Mitten im Orchester sitzen, die Mimik des Dirigenten sehen – was bisher Musikern vorbehalten war, könnte für jedermann Realität werden: Mit der Hochschule für Technik und Wirtschaft hat das Konzerthaus Berlin eine Virtual-Reality-Brille entwickelt, die ein klassisches Musikerlebnis der völlig neuen Perspektiven verspricht.
"Geht's jetzt los?"
"Ja!"
"Gut!"
"Ja!"
"Gut!"
"Nehmen Sie Platz im Konzerthaus.Hören Sie die Jupiter-Sinfonie von Mozart an. Schauen Sie links, rechts, in alle Himmelsrichtungen – Sie werden einzelne Musiker sehen, und auch die Themen in der Luft. Viel Spaß!"
Iván Fischer, Chefdirigent des Konzerthausorchesters Berlin, spricht die einleitenden Worte für ein virtuelles Hightech-Erlebnis, das man so eigentlich eher aus der Welt der Computerspiele kennt: Die Realität verlassen, ein Konzert von zu Hause auf dem Sofa oder unterwegs im Zug miterleben, als ob man selbst dabei wäre – und dabei durch Drehen des Kopfes die Blickrichtung und die Perspektive selbst bestimmen. Möglich machen soll all das die Virtual-Reality-Brille, auch wenn die noch nicht ganz frei von Kinderkrankheiten ist.
Eine Kooperation mit der Hochschule für Technik und Wirtschaft
Tatkräftige Hilfe gibt es bei der Anprobe vom Konzerthaus-Intendanten Sebastian Nordmann. Durch die Kooperation mit der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft wurde die Virtual-Reality-Brille auch zu seinem Projekt; zur Saisoneröffnung 2015/2016 wurde es erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt.
Sebastian Nordmann: "Wir sind die Einzigen, die mit dem Los Angeles Philharmonic Orchestra bis jetzt diese Entwicklung mitgemacht haben. Ich glaube, dass das sehr schnell auch flächendeckend genutzt wird."
Bislang allerdings steckt die virtuelle Konzertbrille noch in der Testphase – auch, weil das Material (nicht zuletzt aus Kostengründen) noch nicht massentauglich ist. Die eigens für diesen Zweck aufgezeichnete Aufführung von Mozarts Jupiter-Sinfonie kann man derzeit als ersten Eindruck im Foyer des Konzerthauses probehören und -sehen: ein 360-Grad-Konzerterlebnis, wenige Meter über dem Orchester. Die Reaktionen darauf sind gemischt.
Unsicherheit bei älteren Besuchern
Sebastian Nordmann: "Es ist so, dass viele noch nicht länger als drei Minuten die Brille aufbehalten wollen, weil das noch ungewohnt ist für das Auge – es ist noch ungewohnt für den Körper. Also, die eher älteren Besucher fühlten sich sehr unsicher beim Stehen – sie hatten das Gefühl, sie haben Schwindel und wanken. Und die Jüngeren, für die war es völlig normal; die fühlten sich sehr schnell wohl damit und konnten auch die Technik sehr schnell intuitiv bedienen."
Technikaffine oder Computerspiel erfahrene Menschen sollten also beim Umgang mit der virtuellen Konzertbrille keine größeren Probleme haben; für alle anderen ist es zumindest gewöhnungsbedürftig. Die Technik selbst gehört allerdings noch nicht zur Standardausstattung eines jeden Haushalts.
Sebastian Nordmann: "Die Brille selbst sieht aus wie eine Ski-Brille; ich finde, sie sieht immer so ein bisschen aus wie ein Helm bei 'Star Wars' oder so. Dann wird vorne einfach das Smartphone draufgeklickt – das heißt, das Smartphone dient als Computer, aber auch als Bildschirm. Und in der Brille drin ist ein Okular, das dieses 360-Grad-Runderlebnis ermöglicht. Und sobald man das aufzieht, auch mit den Kopfhörern, taucht man in diesen virtuellen Konzertsaal ein."
Die junge Zielgruppe im Blick
Ein virtuelles Konzerterlebnis also, mit dem Sebastian Nordmann vor allem das Interesse der jungen Generation wecken will. Zum Beispiel, wenn man sie vor Ort an den Schulen auf ihren meist ersten Konzertbesuch vorbereitet:
"Beim ersten Mal ist es immer noch so: klassische Musik – schlechtes Image und langweilig. Und wenn man natürlich so eine Technik mitbringt, und den Kindern eine Brille aufsetzt, mit der sie wirklich direkt in diesen Konzertsaal eintauchen und die Nähe zur klassischen Musik erleben, kriegen die sofort eine Gänsehaut, weil das einfach beeindruckend ist, wie toll – und dann natürlich auch über gute Kopfhörer – das Klangerlebnis wirken kann. Und das ist unsere Idee: Wir wollen eigentlich frühzeitig Menschen an die Hand nehmen und über einen virtuellen Klangraum nachher ins echte Konzerthaus holen."
Wolfgang Amadeus Mozarts Jupiter-Sinfonie als virtuelles Konzerterlebnis auf dem heimischen Sofa: bequem, billig und trotzdem ganz nah dran – eine Zukunftsvision, die nicht jeden Klassik-Liebhaber sofort in Jubelstürme ausbrechen lässt. Denn besteht nicht durch diese einfache Alternative letztendlich doch die Gefahr, potenziell interessierte Menschen von einem Konzertbesuch abzubringen?
Sebastian Nordmann: "Also das ist ja sehr viel diskutiert worden damals bei Karajan und der CD – dass alle gesagt haben: 'Mensch, wenn die CD so toll ist und sich so schön anhört, warum soll man dann in den Konzertsaal gehen?' Ich behaupte es ganz andersherum: Heutzutage müssen wir eigentlich versuchen, Zugänge zu schaffen zu einem, nennen wir es mal 'Produkt'. Wie auch immer – es gibt so viel heute im Angebot im Unterhaltungsmarkt und so weiter; jemand muss überhaupt erstmal den Konzertsaal kennenlernen."
Keine Konkurrenz sondern Appetitmacher
Denn das Interesse an klassischer Musik sei ungebrochen, ja vielleicht sogar größer denn je, sagt Konzerthaus-Intendant Sebastian Nordmann. Schwierig sei es nur, die verhältnismäßig kleine Anzahl der regelmäßigen Konzertgänger zu erhöhen, den potenziellen Kunden zu erreichen. Und genau da kommt die Virtual-Reality-Brille ins Spiel: keine hausgemachte Konkurrenz also, sondern ein Appetitmacher!
Sebastian Nordmann: "Letztendlich soll das Konzerterlebnis im Konzertsaal live immer noch eins besser sein als alle anderen vermittelnden Mittel zum Zweck sozusagen. Aber ich finde schon, im Moment übertrifft es die CD, übertrifft es das Erlebnis am Fernsehbildschirm – es ist im Moment die beste Möglichkeit, jemanden vermittelnd abzuholen."
Per Smartphone und Spezial-Brille zum ultimativen 360-Grad-Konzerterlebnis – das ist bislang noch ein im wahrsten Sinne des Wortes "visionäres" Projekt in der Entwicklungsphase. Doch wo schon jetzt die Berliner Philharmoniker ihre Konzerte in der Digital Concert Hall weltweit verfügbar machen, kann man in nicht allzu ferner Zukunft vielleicht auch in die virtuelle Welt des Konzerthausorchesters eintauchen – nicht in der ersten Reihe vor dem Bildschirm, sondern in diesem Fall mittendrin.
Iván Fischer: "Schauen Sie links, rechts, in alle Himmelsrichtungen – viel Spaß!"