„Konzertierte Aktion“ und Demokratie
Bundeskanzler Olaf Scholz beschwor Anfang Juli 2022 mit DGB-Chefin und Arbeitgeberpräsident den gemeinsamen Kampf gegen die Inflation: Die Politiktheoretikerin Chantal Mouffe nennt das "Postpolitik". © picture alliance/dpa / Kay Nietfeld
Trügerische Harmonie statt Arbeitskampf
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Mit der „konzertierten Aktion“ will Kanzler Olaf Scholz auf den gemeinsamen Kampf gegen die Inflation einschwören – per Schulterschluss zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Verdeckt die symbolische Einmütigkeit reale Interessenkonflikte?
„Wir stehen vor einer historischen Herausforderung. Unsere Gesellschaft ist stark, viel stärker, als manchmal unterstellt wird. Der faire Austausch zwischen den Interessen in einem Geist der Gemeinsamkeit prägt unser Land. Und diesen Geist gilt es zu erhalten und auch zu stärken.“
Das sagt Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Pressekonferenz im Garten des Bundeskanzleramtes. Er präsentiert sein neuestes Vorhaben, die „Konzertierte Aktion“. Im „Geist der Gemeinsamkeit“, alle in einem Boot?
Hier werden falsche Tatsachen vorgegaukelt, würde die Politik-Theoretikerin Chantal Mouffe sagen. Wer sich ohne Tariflohn abrackert, unter knappem Pflegeschlüssel ächzt oder schon mal erleben musste, wie die Gründung eines Betriebsrats verhindert wurde, wird wie Mouffe der Auffassung sein: Unternehmer und Beschäftigte sind politische Gegner.
Chantal Mouffe: Politik lebt vom Streit
Für Mouffe ist Politik immer Differenz, Konflikt, Streit. Konsens und Harmonie sind für sie dagegen Postpolitik. Darin habe sich in den vergangenen Jahrzehnten vor allem die Sozialdemokratie verrannt, so ihr Vorwurf.
Indem sie die klassische Links-Rechts-Opposition für obsolet erklärt habe, sei sie für eine technokratische Spielart von Politik eingetreten, der zufolge unter Politik nicht die konfrontative Auseinandersetzung zwischen Parteien, sondern das neutrale Management der öffentlichen Angelegenheiten zu verstehen sei.
Auch der französische Soziologe Didier Eribon wirft der Sozialdemokratie in seinem Bestseller „Rückkehr nach Reims“ vor, die Klassenerzählung fallen gelassen zu haben: „Die Idee der Unterdrückung, einer strukturierenden Polarität zwischen Herrschenden und Beherrschten, verschwand aus dem Diskurs der offiziellen Linken und wurde durch die neutralisierende Vorstellung des „Gesellschaftsvertrags“ ersetzt. […] Nicht mehr von Ausbeutung und Widerstand war die Rede, sondern von ‚notwendigen Reformen‘ und einer ‚Umgestaltung‘ der Gesellschaft. Nicht mehr von Klassenverhältnissen oder sozialem Schicksal, sondern von ‚Zusammenleben‘ und ‚Eigenverantwortung‘“.
Die Harmonierhetorik verdeckt soziale Konflikte
Zusammenleben, Unterhaken, Gemeinsamkeit: Auch Sozialdemokrat Scholz ist Meister dieser Rhetorik. Nach außen hin herrschen Geschlossenheit, Harmonie, Management. Nach innen findet aber durchaus politische Überzeugungsarbeit statt, meint der Soziologe Wolfgang Streeck: „Das ist der Versuch, die Gewerkschaften davon abzuhalten, die Kaufkraftverluste, die sie durch die Inflation erleiden, sozusagen in der Lohnpolitik auszugleichen.“
Streeck beforscht das Verhältnis von Staat und Verbänden schon seit Jahrzehnten. Scholz sei aktuell eingeklemmt zwischen steigenden Energiepreisen, stockenden Lieferketten, Gewerkschaften, die angesichts steigender Preise höhere Löhne fordern, und Unternehmen, die gestiegene Kosten an den Verbraucher weitergeben.
„Dann wird verzweifelt überlegt“, sagt Streeck: „Haben wir auf dem Niveau der Staatsverschuldung, auf dem wir uns mittlerweile befinden, immer noch irgendwo irgendwelche Mittel, um irgendwelche Ausgleichspakete zu streuen, damit wir über den Winter kommen und gucken, dass dann wieder Ruhe ist? Sie müssen sich das so vorstellen, dass das Ganze vor dem Hintergrund einer tiefen Panik stattfindet!“
Vorbild 1967: Kann auch schief gehen
Panisch war die Situation bei der ersten sogenannten „Konzertierten Aktion“ nicht, aber krisenhaft. 1967 sank die Wirtschaftsleistung in der Bundesrepublik um fast ein Prozent. SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller rief die Tarifparteien wie üblich zur „gütlichen Einigung“ auf. Korporatismus nennt man diese Politik, bei der Arbeitgeber und Gewerkschaften als "Sozialpartner“ gemeinsame Kompromisse erzielen sollen. Technokratische Postpolitik, würde Mouffe sagen.
Heraus kam, die Gewerkschaften hielten sich mit Lohnforderungen zurück, für den Erhalt von Arbeitsplätzen. Man versprach ihnen Ausgleich. Doch als die Unternehmen sich im Jahr darauf erholten, kam von den nun hohen Gewinnen wenig bei den Beschäftigten an. Das Ergebnis waren wilde Streiks, Krisenstimmung in den Gewerkschaften.
Trotzdem blieb man bei der Zusammenarbeit. Erst als die Arbeitgeberverbände gegen das neue Mitbestimmungsgesetz klagten, kündigten die Gewerkschaften 1978 die Konzertierte Aktion auf. Andrea Rehling, Historikerin der Uni Augsburg, hat zu den damaligen Geschehnissen geforscht. Sie wendet ein: „Das haben die nicht so sehr gemacht, weil sie sich im Bereich der Lohnpolitik oder Ähnliches übervorteilt gesehen hätten. Das war aus deren Wahrnehmung tatsächlich nicht so, sondern die haben diese korporative Zusammenarbeit insgesamt eher positiv bewertet.“
Politik als öffentliches Management?
Und so besteht der deutsche Korporatismus bis heute fort. Wie nun also Scholz‘ Neuauflage der Konzertierten Aktion bewerten? Als Versuch, Politik als öffentliches Management zu betreiben? Andrea Rehling meint, abwarten.
„Wenn am Ende Entscheidungen stehen, auf die sich die Gewerkschaften und die Unternehmervertreter festlegen müssen, dann würde ich schon sagen, dass da Managementvorstellungen eingezogen werden“, so Rehling. „Wenn es tatsächlich nur dem Meinungsaustausch dient und eben verschiedene Sichtweisen eingespeist werden, die dann im Idealfall im Parlament diskutiert werden können und da auch einfließen können, würde ich das nicht so sehen.“
Ein Fazit der Aktion steht also noch aus. Das nächste Treffen zum Unterhaken soll erst wieder im September stattfinden.