Kopfhörer-Boom

Warum wir uns von der Welt abschotten

Illustration eines blaugrünen Kopfhörers auf rosafarbenem Hintergrund.
2021 wurden in Deutschland allein mehr als zehn Millionen Funkkopfhörer verkauft. © Getty Images / iStockphoto / Deidre Blackman
Ein Standpunkt von Anne Backhaus |
Stöpsel rein und die Welt bleibt draußen. Das Bedürfnis nach Abschottung scheint groß zu sein. Vielleicht muss man manchmal aber auch erst einmal abschalten, um wieder miteinander ins Gespräch zu kommen, meint die Journalistin Anne Backhaus.
Neulich im Zug: Die Sitznachbarin steht abrupt auf. Ihr Mund öffnet sich weit. Verzweiflung zieht sich durch ihr Gesicht. Sie ruft etwas. Ihre Worte erreichen mich, als ich den Kopfhörerstöpsel aus meinem rechten Ohr nehme. „Warum bucht man einen Platz in der Ruhezone, wenn man so laut ist?“ Wütend winkt sie mehreren Menschen zu. Nach und nach nehmen auch sie ihre Kopfhörer ab. Was ist los? Wie bitte? „Wahnsinn, ihr bekommt echt nichts mehr mit“, sagt die Sitznachbarin. „Ich höre euch aber – und zwar alle.“
Betretene Stille löst nun die Geräusche ab, die keiner der Verursacher unter den eigenen Kopfhörern wahrgenommen hat. Das Pärchen, dessen Hund ausdauernd unter dem Sitz fiepte. Der Mann, der mit seinen Fingern unablässig einen Takt auf einer Armlehne schlug. Die Frau, die gedankenverloren Kekse aus einer Plastiktüte nahm, umständlich und immer wieder. Extremknistern. Ihretwegen hatte ich meine Kopfhörer überhaupt erst aufgesetzt.
Mit kaum etwas können wir so offensichtlich unsere Autonomie wahren wie mit dem Abblocken vom Sound unserer Außenwelt. Wir ermächtigen uns selbst, wenn wir die beliebigen akustischen Reize unserer Umgebung nicht hinnehmen. So grenzen wir uns unablässig ab von der unvorhersehbaren Welt. Von anderen, lärmenden Menschen. In der Bahn wie im Park, im Büro wie im Homeoffice.

Verkauf von Kopfhörern boomt

Der Bedarf nach Audioautonomie ist immens: Die Verkaufszahlen aller Arten von Kopfhörern steigen seit Jahren. Sie gehörten zu den am meisten gefragten Technikprodukten in den Lockdown-Monaten – vermutlich auch, um Familienmitglieder und Haustiere während der Videokonferenzen besser ausblenden zu können. 2021 wurden in Deutschland außerdem erstmals mehr als zehn Millionen Funkkopfhörer verkauft. Mit den kabellosen Hörstöpseln irren Menschen inzwischen überall umher.
Erzählen in der Schlange im Supermarkt viel zu laut von ihrem nässenden Hautausschlag oder im Bus von der bescheuerten Frisur der Kollegin. Geben sich der Illusion eines intimen Gesprächs in einer ruhigen Welt hin – und sind dabei selbst eine personifizierte Lärmbelästigung.
Sind Menschen mit Kopfhörern also nur ein weiterer Beweis für den sozialen Niedergang? Rücksichtslose und ungesellige Wesen der westlichen Welt, in der sich viele nach Nähe sehnen, sie aber in der Realität gar nicht mehr ertragen können? Und stattdessen lieber riskieren, allen andern auf die Nerven zu gehen.

Großes Bedürfnis nach Abschottung

Bereits 1981, kurz nachdem der Walkman in den USA auf den Markt kam, widmete sich eine Autorin der New York Times der „Kopfhörer Bewegung“ und schrieb: „Es war unheimlich. Plötzlich liefen immer mehr Menschen mit kleinen Schaumgummikreisen auf den Ohren und einem Ausdruck der Verzückung auf den Gesichtern umher.“ Für sie eine „nahezu orwellsche Szenerie“, also potenziell destruktiv für das Wohlergehen der Gesellschaft.
Jahrzehnte später wissen wir: Kopfhörer sind es nicht, die uns gesellschaftlich schwer zusetzen. Vielleicht tragen sie häufig sogar zu einem besseren Miteinander bei. Denn wir sind ja auch rücksichtsvoll, wenn wir uns gegen eine Boom-Box und für die Kopfhörer entscheiden.
Wir sind freundlich, wenn wir lieber eine neue Podcast-Folge hören als knisternde Frauen anzumaulen. Wir konsumieren nicht einfach, wir pflegen unsere Privatsphäre, vielleicht sogar unsere Seele, wenn wir in lärmreduzierende Kopfhörer investieren und den Weltton vorübergehend abschalten.

Alle wollen irgendwann mal Ruhe

Den Geräuschen der anderen entgehen: Darauf hat die Sitznachbarin im Zug vermutlich ebenfalls gehofft, als sie den Platz im Ruheabteil buchte. Ihre Empörung war verständlich. Doch all die anderen meinten es ja nicht böse. Sie hatten halt nicht nur die Umgebungssounds, sondern auch ihre eigenen vergessen. Vielleicht liegt genau da die Chance: Sich zwischendurch immer mal wieder zu erinnern, dass da noch andere Menschen sind. Solche wie wir, die gern mal ihre Ruhe haben.

Anne Backhaus, 1982, ist freie Autorin und Reporterin aus Hamburg. Ihr Schwerpunkt sind Reportagen und Interviews mit gesellschaftspolitischen und kulturellen Themen, die sie für u.a. Die Zeit, Süddeutsche Zeitung und Spiegel schreibt. Außerdem unterrichtet sie an Journalistenschulen und der Akademie für Publizistik. Backhaus wurde für diverse Medienpreise nominiert und von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung für den besten Tageszeitungstext des Jahres 2017 ausgezeichnet.

Anne Backhasu posiert vor einem blauen Hintergrund für ein Foto.
© Anne Backhaus
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