Akustische Abschottung

Wer Ohren hat, der höre!

Illustration einer Frau, die mit Kopfhörern im Sessel sitzt, während ein Mann hinter ihr sie durch ein Megafon anschreit
Ach, wie schön ist Noise Cancelling! Doch die Umgebung besteht nicht nur aus Lärmbelästigung. © IMAGO / fStop Images / IMAGO
Von Lukas Gedziorowski |
Es soll Leute geben, die verlassen ohne Kopfhörer gar nicht mehr das Haus. Am liebsten mit Noise-Cancelling-Funktion. Man will zwar seine Zeit gut nutzen - etwas Interessantes hören. Doch man verpasst so das Beste. Und es kann auch gefährlich werden.
Neulich auf dem Tempelhofer Damm in Berlin. Eine vierspurige Straße voller Autos. Ein Rettungswagen mit Blaulicht will durch. Wegen des Verkehrs weicht er auf den breiten Gehweg aus, der weitgehend frei ist. Nur ein einzelner junger Mann läuft da lang. Seelenruhig, mit Kopfhörern in den Ohren. Der Rettungswagen fährt von hinten mit Martinshorn auf ihn zu. Der junge Mann reagiert nicht. Der Rettungswagen kommt näher, heult lauter, doch den jungen Mann scheint es nicht zu stören. Erst im letzten Moment dreht er sich um, entdeckt, dass er einem Rettungswagen im Weg steht, und weicht zur Seite.
Nein, der junge Mann war nicht schwerhörig. Jedenfalls nicht von Natur aus, sondern freiwillig. Noise Cancelling lautet das Zauberwort. Kopfhörer mit dieser Funktion sorgen dafür, dass man nur hört, was man hören will. Außengeräusche sind unerwünscht. Wozu auch? Man ist ja in der Regel keiner Gefahr ausgesetzt. Außer, wenn gerade ein Rettungswagen ordnungswidrig den Gehweg benutzt. Oder wenn einer klingelt oder hupt. Oder wenn man selbst auf die Fahrbahn tritt. Die Erfahrung des Radfahrers zeigt, dass viele Fußgänger sich eher nach den Ohren richten als nach den Augen.

Zeit will auch akustisch ausgereizt sein

Ohren, bei allem praktischen Nutzen, haben einen Nachteil: Sie lassen sich – anders als die Augen – nicht aus eigener Kraft verschließen. Dabei würde man das oft gern, vor allem, wenn man in der Stadt so großer Geräuschbelästigung ausgesetzt ist. Man braucht dazu schon ausgefeilte Hilfsmittel. Doch ganz taub sein will man trotzdem nicht, sondern stattdessen etwas Angenehmes oder Interessantes hören. Die Zeit des modernen Tatmenschen will ja effektiv ausgereizt werden.
Ende der 70er-Jahre hat man dafür den Walkman erfunden. Mit dem portablen Kassettenabspielgerät konnte man sich selbst mit Musik eigener Wahl beschallen, statt sich fremde Gespräche in der Bahn anzuhören. Oder die Bauarbeiten. Oder die Martinshörner, die einen nichts angingen, es sei denn, man war selbst das Opfer. Der Nachteil war: Man bedurfte zur effektiven Schallisolierung einer gewissen Lautstärke, die langfristig aufs Gehör schlug. Und perfekt war das System nicht.

Macht Abschottung asozial?

Schon damals gab es aber auch andere Bedenken: Wer Walkman hört, der schottet sich von der Außenwelt ab. Man wird asozial. Das läutete nun wirklich das Ende der Aufklärung ein! Ob dem wirklich so war, muss noch wissenschaftlich untersucht werden. Klar ist, dass dadurch der Mensch erst die Mündigkeit aufbrachte, auch im öffentlichen Raum seine Ohren für sich zu reklamieren. Beschallt werden durften sie nur von dem Lärm eigener Wahl. Das individualistische Pathos nennt es "Selbstermächtigung". Meine Ohren gehören mir!
Dann kam der iPod, der die Kassetten unnötig machte, dann das Smartphone mit einem unendlichen Nachschub an Klangmaterial. Und das Entscheidende war: Die Kopfhörer schrumpften auf Stöpselformat. Ohne Umweg ging der Schall direkt ins Ohr – zuerst mit, dann ohne Kabel. Doch so ausgefeilt die Technik war: Immer kam doch noch etwas unerwünschte Außenwelt durch.
Nun kann man aber auch die akustisch ausblenden. Man kann im Familienteil des Zuges sitzen und plärrende, tobsüchtige Kinder nur noch an aufgesperrten Mäulern erkennen, während es scheint, als würden sie Playback zu Rage Against the Machine machen. Oder man fährt U-Bahn mit grölenden Fußballfans und stellt sich vor, dass sie die Bach-Kantaten singen, die man im Ohr hat. Und das unaufhaltsame Plappermaul neben einem im Ruheabteil rappt wie Lizzo. Und die Bettelbands, die durch die S-Bahnen ziehen, spielen so auch immer die Lieblingssongs.

Noise Cancelling ist Cancel Culture

Herrlich, das ist Fortschritt! Man will mit dem Rest der Welt, der sich einem aufdrängt, möglichst wenig zu tun haben. Kopfhörer schützen nicht nur die Ohren, sie bilden auch eine Blase, einen Schutzpanzer um einen herum, der allen klarmacht: Lass mich in Ruhe! Als wäre es schon Zumutung genug, sich durch den öffentlichen Raum zu bewegen und mit visueller und olfaktorischer Überreizung bombardiert zu werden. Wenigstens die Ohren sollen die Komfortzone nicht verlassen. Im Noise Cancelling zeigt sich die Cancel Culture par excellence: das Blasendasein.
So nutzt man die angeblich sonst vertane Zeit der Fortbewegung mit dem Hören schöner Musik oder interessanter Podcasts oder spannender Bücher. Doch gerade wer Angst hat, was zu verpassen, sollte lieber auf die Klangkulisse achten, denn wie so oft kommt es auf die Zwischentöne wie Nebengeräusche an. Welch interessante Diskussionen man zuweilen versäumt! Welch Dramen sich am Telefon abspielen, auch wenn man nur die Hälfte eines Gesprächs mitbekommt! Welch unerwartete Pointen und Sprachblüten perlen aus den Schallöffnungen des unerschöpflichen Volksgeistes! Vielleicht lernt man sogar noch was. Oder man wird höflich gebeten, Platz zu machen, weil man ungeahnt im Weg steht. Wenn man nicht hört, muss man oft fühlen, von Fremden zur Seite geschoben zu werden. Und wer weiß: Vielleicht verhindert man durch die Abkapselung auch die Möglichkeit, von einem netten Menschen angesprochen zu werden, der sich sonst nur kurzen Augenkontakt zutraut. Unerhört in Deutschland? Mag sein. Aber es soll ja Länder geben, gar nicht mal so ferne, in denen sich Fremde miteinander unterhalten – einfach so.

Soundtrack des Lebens ohne Leben

Doch auch sonst gehören gewisse Geräusche einfach dazu. Den Urmenschen wäre es nie eingefallen, ihre Ohren zu verschließen. Und sei es, um dem Rauschen des Windes oder dem Gesang der Frühlingsvögel zu lauschen. Wer weiß, wie lange sie noch singen … Kurzum: Noise Cancelling – das ist, den „Soundtrack seines Lebens“ hören zu wollen, ohne einen Gutteil des wahren Lebens mitzukriegen. Und selbst der beste Laberpodcast kann nicht so interessant sein wie das, was die Menschen auf der Straße wirklich umtreibt.
Wie schon ein großer Prophet sagte: Wer Ohren hat, der höre! Nicht von ungefähr hat er Taube geheilt und abgeschnittene Ohrmuscheln wieder dranmontiert. Taub stellen kann man sich ja immer noch – so oder so.
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