Michael Lösch ist Schriftsteller. Er lebt und arbeitet in München. 1973 siedelte er von Rumänien nach Deutschland aus und studierte Deutsch, Geschichte und Sozialkunde. Zuletzt veröffentlichte er das Buch: "Wäre Luther nicht gewesen. Das Verhängnis der Reformation."
Unsere blödsinnige Suche nach Sündenböcken
Wie gründlich einem die lieben Mitmenschen die Laune verderben können, die doch gerade eben noch bestens war, das hat der Münchner Schriftsteller Michael Lösch dieser Tage erlebt. Und hat in sich selbst den Drang zum erhobenen Mittelfinger entdeckt.
Heute ist ein schöner Sommer. Fast zum Gedichte schreiben, denn ich bin wieder mal verliebt. Mit dem Fahrrad fahre ich vom Münchner Stadtrand kommend die hässliche Landsberger Straße hoch. Ein korpulenter Typ um die 50 überholt mich. Ich missgönne ihm sein Tempo auf seinem alten Fahrrad.
Plötzlich hebt der Korpulente den Arm. Zunächst sehe ich nur die Tattoos, dann den hochgereckten Mittelfinger, und dann erst, wem dieser Stinkefinger gilt: einer Kopftuchträgerin.
Sie erkennt, was gemeint ist und antwortet sofort. So als hätte sie nur darauf gewartet. Was sie erwiderte, hab ich nicht verstanden. War es arabisch?
In einer Anwandlung von Erziehungshunger denke ich daran, meinen Vordermann zu überholen und ihm den Stinkefinger zu zeigen. Was bist Du für ein uncooler Großstädter! München hat halt Moslems, sie sind Teil dieser Stadt, mit und ohne Kopftuch – und das zu Recht.
Aber dann blitzt in mir der Gedanke auf, dass das jüngste Attentat einige Tage nur alt ist. Ist es nicht ignorant, jetzt bei dieser Wetterlage ein Kopftuch zu tragen?
Dass der Stinkefinger strafbar ist, ist mir egal. Ich zeige ihn rücksichtslosen Autofahrern auch.
Deutschland verändert sich zu seinem Nachteil
Dann denke ich: Diese Kopftuchträgerin – wer ist sie? Eine militante Muslimin oder eine, die von ihrem Mann zum Kopftuch gezwungen wurde? Wieso war sie mit ihrer fremdsprachigen Erwiderung so kämpferisch schnell zur Stelle? Vielleicht hat sie sich gerade wegen dieser sich polarisierenden Zeiten das Tuch übers Haar gebunden, als wolle sie sagen: Ja, ich bin einfach eine gläubige Muslimin – trotz allem.
Eigentlich finde ich sie wie ihn, also beide für sich okay. Nicht aber in diesem Zusammenhang. Das ist die Krux. Die Krux ist, dass sich dieses Land seit einigen Jahren zu seinem Nachteil verändert.
1973 kam ich von Rumänien nach Deutschland und studierte Germanistik. Einige Dozenten zeigten mir unverhohlen ihre Abneigung. Ich sprach zwar einwandfreies Deutsch, aber mit schwerem balkanischem Akzent. Nach 20 Jahren gefühlter Heimatlosigkeit begann ich mich irgendwie heimisch zu fühlen.
Jetzt verliert sich dieses Gefühl - und das tut weh. Was wird aus diesem Land, aus dieser Kultur, aus diesem, unserem Frieden? Von dem ich nicht glauben konnte, dass er seine Brüchigkeit bei einer sonnigen Fahrradtour offenbart.
Ich stelle mir vor, dass ich die beiden frage, was sie von folgendem Satz halten: "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt." Beide würden vermutlich blöd schauen und schweigen.
Es ist schwer geworden, ausgewogen zu bleiben
Aber darf dann ein ranghoher Politiker sagen, wir sind nicht Burka? Natürlich sind wir nicht Burka, aber darf er so daherreden? Wem redet solch plakatives Zeug das Wort? Ist nicht gerade das Plakative eines Innenministers schlimmer als tausend Stinkefinger?
Es ist schwer geworden, ausgewogen zu bleiben. Um ehrlich zu sein: fremd sind mir beide, der Stinkefinger als auch die schlagfertige Kopftuchträgerin. Und der Innenminister auch.
Denn was bedroht unsere Werte mehr, Werte, die nicht die schlechtesten sind? Sind wir noch ganz frei oder bedrohen wir uns mittlerweile selbst? Finden wir nicht auch in uns das blödsinnige Bedürfnis nach einem Sündenbock für jeden dagewesenen Anschlag und für alles, was noch kommen wird? Sind nachdenkliche Leute wie Sloterdijk, Strauss und Safranski nicht ebensolche Innenminister mit einem großen Stinkefinger im Kopf?
Wie schrieb der hellsichtige Musil mal:
"Man verzeihe das Gleichnis, aber der Zeitmagen ist verdorben. Es liegt in jedem Entweder-Oder eine gewisse Naivität, wie sie wohl dem wertenden Menschen ansteht, aber nicht dem Denkenden, dem sich die Gegensätze in Reihen von Übergängen auflösen. Es ist ein babylonisches Narrenhaus; aus tausend Fenstern schreien tausend verschiedene Stimmen auf den Wanderer ein."
So fühle ich mich. Als Wanderer mit verdorbenem Zeitmagen. Hoffen wir auf vernünftigere Zeiten. Und Zeichen.