Koscher in Sao Paulo

Von Klaus Hart |
Lateinamerikas größte jüdische Gemeinde befindet sich in Brasilien. Über die Hälfte der mehr als 200.000 Mitglieder leben in der Megacity Sao Paulo. Ihr jüdischer Klub "Hebraica", in dem jeder Mitglied werden kann, macht dort in der Kulturszene Furore.
"Wir sind in der ganzen Welt das größte jüdische Gemeindezentrum außerhalb Israels … "

… sagt der 60-Jährige Hebraica-Präsident Peter Weiss über seinen Klub, eine immense grüne Oase von 54.000 Quadratmetern im Betonmeer Sao Paulos, mit Restaurants, Cafes, Schwimmbädern, Tennisplätzen. "Hebraica" liegt nur einen Steinwurf vom Pinheiros-Klub entfernt, der einst Sportklub Germania hieß, von einem Hamburger gegründet wurde und in dem man zur Nazizeit alle gängigen SA-und SS-Lieder sang. "Ich kenne viele Juden, die heute gleichzeitig auch Mitglieder nebenan im Pinheiros-Klub sind – aber ich kenne keinen einzigen Deutschen, der bei uns hier mitmacht."

Peter Weiss wiegelt zwar bescheiden ab – aber sein "Hebraica" genießt unter den tausenden Sport-, Kultur- oder Nationalitätenklubs von Brasilien eine Sonderstellung. Nicht zufällig hat die brasilianische Klub-Föderation ihren begehrten Kulturpreis die letzten beiden Jahre hintereinander an "Hebraica" verliehen. Natürlich gibt es auch eine Synagoge, werden hier alle jüdischen Feste gefeiert, in den drei Theatern namens Marc Chagall, Arthur Rubinstein und Anne Frank jüdischer Jazz, jüdischer Rock und Kultur aller Art aus Israel geboten. Doch darüber hinaus ist im "Hebraica" die Weltkultur zuhause, mit jährlichen internationalen Tanz-und Filmfestivals, Kunstausstellungen, Gastspielen. Präsident Peter Weiss nahm in seiner mehrjährigen Amtszeit noch mehr Konzerte in-und ausländischer Sinfonieorchester ins Programm.

"Die Liebe zur Klassik habe ich von meinem Vater geerbt, der noch lebt und jedes Musikstück schon nach fünf, sechs Noten erkennt, sogar das Entstehungsjahr weiß. Nicht mal Neschling kennt sich in der Musik so gut aus wie mein Vater!"

Der kleine, spaßige Seitenhieb geht gegen den Juden John Neschling, der in Sao Paulo das beste Sinfonieorchester Lateinamerikas leitet, bereits mehrfach in Europa, natürlich auch in Deutschland, Konzerte gab. Und im Hebraica.

Neschlings Eltern konnten aus Wien vor den Nazis rechtzeitig nach Brasilien fliehen. Der in London wohnende Vater von Peter Weiss lud damals unter einem Vorwand sämtliche Angehörigen aus Hitlerdeutschland an die Themse ein, nahm ihnen die Pässe weg, zwang sie, dazubleiben, rettete dadurch allen das Leben.

"Nach der Reichskristallnacht gelang meiner Mutter aus Eisenach noch die Flucht nach England – doch alle ihre Familienangehörigen wurden Opfer des Holocaust – alle, alle, alle."

Kein brasilianischer Klub trifft so scharfe Sicherheitsvorkehrungen wie "Hebraica" in Sao Paulo. Hohe Gitterstäbe, scharfe Einlasskontrollen, Überwachungskameras. 1992 und 1994 hatten islamische Extremisten im benachbarten Argentinien Anschläge auf jüdische Institutionen verübt, über einhundert Menschen getötet.

"Mit den arabischen Gemeinden und ihren Klubs in Sao Paulo verstehen wir uns gut – hier gibt es nicht diese Probleme wie im Rest der Welt. Doch es könnten ja bestimmte Leute über die Grenze kommen. Und deshalb müssen wir eben auf der Hut sein, aufpassen. Sicherlich gibt es radikal eingestellte Juden, die meinen, man müsse sich abschotten, wie in einem Ghetto. Doch in der Welt von heute kann man solche Ansichten nicht tolerieren. Wir müssen uns öffnen – und es muss auch gemischte Ehen geben."

Dass in den brasilianischen Telefonbüchern Ungezählte den amtlichen Vornamen Hitler tragen, dass da beispielsweise ein Hitler Abdala, ein Adolf Hitler Lacerda oder ein Adolfo Hitler Santos verzeichnet sind, scheint den Hebraica-Präsidenten nicht zu beunruhigen. Früher habe er sich allerdings unangenehme Dinge anhören müssen:

"Als ich hier zur Schule ging, studierte, sagten sie häufig: Du wirkst gar nicht wie ein Jude. Dann bist du also ein g u t e r Jude."

Auffällig, wie viele jüdische Jugendliche eine jüdische Privatschule besuchen und sofort nach dem Unterricht in den "Hebraica"-Klub wechseln. Beatriz Algrande, Ana Langmann und Maria Nivás treiben hier Sport, führen als Laienschauspieler Theaterstücke auf. Und genießen es, von gängigem Antisemitismus verschont zu sein.

"Wir spüren ihn viel im Alltag. In Brasilien spricht man abfällig über Juden, erzählt man sich bösartige Judenwitze – wir sind immer bedrückt, wenn das in unserer Gegenwart geschieht. So viele unserer Vorfahren sind doch in den KZs ermordet worden. Und deshalb fühlen wir uns gegenüber denen, die nicht unsere Religion haben, einfach nicht so wohl, nicht so frei und offen. Und das ist eben das Tolle an diesem Klub. Unter all den Juden fühlen wir uns gut, weil man eben die selbe Kultur hat."