Simon Ilse, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Belgrad, zuständig für Serbien, Montenegro und Kosovo sagt im "Weltzeit"-Interview:
„Es ist aus europäischer Perspektive so, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer gerade unsere Werte Freiheit, Selbstbestimmung, Leben in Würde verteidigen – und dieses starke Eintreten dafür haben wir in der Westbalkan-Region schon seit einigen Jahren nicht mehr gesehen. Aber das liegt eben auch daran, dass dieser Beitrittsprozess immer stärker als glaubwürdige Perspektive verblasst ist. Und diese jetzt – Kanzler Scholz hat gestern gesagt: real werden zu lassen – das ist jetzt die Aufgabe. Es ist spät, aber nicht zu spät dafür.“
Albaner und Serben im Kosovo
Die Kafanas in Kamenica, der serbischen Version eines Kaffeehauses, werden von Serben und Albanern gemeinsam besucht. (Symbolbild) © Getty Images / Chris McGrath
Lichtblicke jenseits großer Politik
23:36 Minuten
In der großen Politik herrscht zwischen Serben und Albanern im Kosovo nur Streit, Missgunst und Misstrauen. Doch die Menschen sehnen sich nach Frieden. Manche erinnern sich an das Miteinander vor den Jugoslawien-Kriegen und knüpfen daran an.
Es ist schon einiges los in der Kafana "Zuka" an diesem Vormittag. Fast an jedem Tisch sitzen Männerrunden, spielen Karten, prosten sich zu mit Bier und Schnaps. Zigarettenqualm zieht durch den kleinen, etwas düsteren Kneipenraum.
Kafana – so heißen die rustikalen Wirtschaften in Serbien, eine Mischung aus Kaffeehaus und Taverne. Die Kafana "Zuka" allerdings befindet sich an einer geschäftigen Straße im Zentrum von Kamenica, einer Kleinstadt im Kosovo, eine Autostunde östlich der Hauptstadt Pristina.
Bojan Stamenkovic hat sich heute mit seinem Patensohn Stevan Denic im "Zuka" verabredet. Beide Männer sind Serben, und Kafanas sind im Kosovo keine Seltenheit. Das Besondere hier: Kamenica ist keine serbische Enklave. 90 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner sind Albaner, der Rest Serben und Roma. Die Kneipe liegt auch nicht in einem rein serbischen Stadtviertel von Kamenica. Stevan deutet in die Runde: An jedem dritten Tisch sitzen ein, zwei Albaner – gemeinsam mit ihren serbischen Freunden oder Nachbarn.
"Das spielt alles keine Rolle hier, in unserer Kafana sitzen auch Trinker mit Leuten, die studiert haben, an einem Tisch. Hier treffen sich einfach alle, egal ob Albaner oder Serben, egal ob du Arbeiter bist oder einen Doktortitel hast. Das hat schon etwas von einem englischen Pub hier."
Firm in der Sprache des jeweils anderen
Die beiden schlagen vor, noch einen Espresso zu trinken in einem Café mit Ausblick auf die Stadt – fünf Minuten Fahrt mit dem Taxi, der albanische Fahrer spricht fließend Serbisch, Bojan genauso gut Albanisch: Auch das sei irgendwie normal hier in Kamenica. Und diese Normalität sei auch kein "Fake", nichts, was man Besuchern präsentiere, um einen guten Eindruck zu machen, betont der Serbe Bojan Stamenkovic.
"Aber klar: Kamenica ist in dieser Hinsicht schon außergewöhnlich. Wir leben hier einfach gut zusammen: Albaner, Serben und Roma. Das war schon immer so, und sofort nach dem Ende des Kosovo-Krieges 1999 hat hier der Basar wieder aufgemacht, weil die Verbundenheit der Leute einfach größer war als der ganze Hass. Wir helfen einander, wir Serben gehen in albanische Restaurants, und die Albaner kommen zu unseren Hochzeiten. Wir haben das so von unseren Eltern und Großeltern gelernt, und die jungen Leute hier führen das fort."
Bizarrer Streit um Autokennzeichen
2008 erklärte der Kosovo seine Unabhängigkeit von Serbien. Belgrad erkennt aber bis heute die Souveränität des Nachbarn nicht an – genauso wie Russland, China und sogar fünf EU-Staaten. Seitdem kocht der alte Konflikt zwischen Serbien und Kosovo immer wieder hoch.
Jüngster Höhepunkt: ein Streit über Autokennzeichen im Herbst 2021. Serbien hat die kosovarischen Schilder noch nie anerkannt, als Reaktion darauf verfügte Kosovos Premier Albin Kurti, dass von nun an umgekehrt auch Fahrzeuge mit serbischen Kennzeichen nicht mehr die Grenze passieren dürfen. Serbische LKW-Fahrer blockierten daraufhin einen Grenzübergang im Norden des Kosovo.
Plötzlich standen sich an der Grenze Spezialkräfte der kosovarischen Polizei und serbisches Militär mit Panzern gegenüber – eine explosive Lage, die sich erst entspannte, als die internationalen KFOR-Truppen die kosovarische Polizei ablösten und die EU vermittelnd eingriff.
Nur etwa 30 Kilometer südlich des Grenzpostens liegt Mitrovica. Die Stadt ist so etwas wie der Gegenentwurf zum entspannten Miteinander, wie es Serben und Albaner in Kamenica pflegen.
Luan Shatri ist Albaner und hat schon immer in Mitrovica gelebt. Vor dem Krieg hatte er viele serbische Bekannte und Freunde. An diesem grauen Vormittag steht der Mittvierziger am Südufer des Flusses Ibar, einen Steinwurf entfernt führt eine moderne Brücke über den Fluss in den Nordteil der 80.000-Einwohner-Stadt. Doch der Ibar teile Mitrovica bis heute in zwei fast völlig getrennte Welten, erzählt Luan: in den von Albanern bewohnten Südteil der Stadt und den Norden, wo fast ausschließlich Serben leben.
"Diese Teilung betrifft alles hier, das gesamte Leben. Seit dem Ende des Kosovo-Krieges erzählt man uns, dass die Brücke wieder für den Autoverkehr geöffnet wird, und immer wieder wird das verschoben. Schauen Sie doch hin, es geht auch fast niemand über diese Brücke. Und ich bin skeptisch, dass sich daran jemals etwas ändert."
Dabei gibt es auch in Mitrovica zarte Lichtblicke, Versuche, echte Brücken zu bauen zwischen den Menschen im Norden und Süden der Stadt: Junge Albaner und Serben machen gemeinsam Musik in der Mitrovica Rock School, die deutsche Diakonie betreibt ein multiethnisches Jugendzentrum direkt unterhalb der Ibar-Brücke, und im serbischen Teil Mitrovicas organisiert eine NGO IT-Kurse, an denen auch junge Albanerinnen und Albaner teilnehmen.
Beispiel Kamenica als Vorbild?
Ein serbischer Jurist hat dieses Angebot mitinitiiert. Der 30-Jährige hat vor einigen Monaten seine Heimatstadt Mitrovica verlassen, lebt jetzt in Serbien und arbeitet dort für eine internationale Organisation. Interviews dürfe er eigentlich nicht geben, darum will er unerkannt bleiben und nennt sich Mladen Soric. Er kennt auch Bojan Stamenkovic aus Kamenica persönlich.
"Das Beispiel Kamenica könnte durchaus ein Vorbild dafür sein, wie sich die Dinge insgesamt im Kosovo irgendwann einmal entwickeln. In Mitrovica ist es aber nach wie vor so, dass auch die jungen Leute viel zu wenig voneinander wissen, die werden vergiftet durch den Hass, die Vorurteile ihrer Eltern und Nachbarn. Wir haben in unseren Kursen immer gesagt: keine politischen Symbole oder Statements. Das hat gut funktioniert, da sind sogar Freundschaften entstanden. All das ist aber ganz schnell vergessen, sobald die offizielle Politik ins Spiel kommt, dieses ganze nationalistische Getöse – auf beiden Seiten. Und das zerstört dann das, was wir mühsam aufgebaut haben mit unserer Arbeit."
Dabei wäre es doch eigentlich Aufgabe der Politik, solche Brücken zu bauen, Versöhnungsarbeit zu leisten, findet Mladen Soric. Auch deshalb hat der junge Serbe seine Heimat Kosovo verlassen, schweren Herzens, wie er sagt. Doch es gibt auch Serbinnen und Serben, die genau den umgekehrten Weg beschreiten: deren Heimat früher Kosovo war und die jetzt dorthin zurückkehren. Auch das gehört heute zur Lebenswelt von Albanern und Serben im Kosovo.
Eine Serbin kehrt zurück
Es ist Wochenende, und Marija Novakovic sitzt am Wohnzimmertisch ihrer Freundin Gordana Djoric in Laplje Selo, einer kleinen serbischen Enklave einige Kilometer südlich von Pristina. Die beiden Frauen knacken Walnüsse aus Gordanas Garten hinterm Haus und haben sich viel zu erzählen. Gordanas Mann Zlatko hat den Fernseher laufen: eine Nachrichtensendung mit Bildern vom Krieg in der Ukraine.
Marija ist 47 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in Pristina. Von dort floh sie vor 23 Jahren quasi über Nacht, so wie viele andere Serbinnen und Serben auch – aus Angst vor albanischen Repressalien nach dem Ende des Kosovo-Krieges. All die Jahre hat Marija in Serbien gelebt, aber nie ihre Wohnung in Pristina verkauft. Vor einigen Wochen nun ist sie zurückgekehrt in die alte Heimat: Und sie will bleiben.
"Für mich war immer klar, dass ich nach Pristina zurückkehren würde. Mein erster Sohn ist hier geboren, hier habe ich meinen Mann damals getroffen. Ich war aber nach dem Krieg nur ein einziges Mal hier, für einen Tag, vor 15 Jahren ungefähr. Ich hatte ganz einfach Angst, dass mir etwas passieren könnte. Damals hieß es immer: Es ist gefährlich für uns Serben hierher zu kommen."
Freundliche Aufnahme durch albanische Nachbarn
Nach einigem Hickhack mit den Behörden war ab 2015 klar, dass Marija tatsächlich ein Anrecht auf ihre alte Wohnung im Stadtzentrum von Pristina hat. Bis zur Übergabe der Schlüssel dauerte es dann aber noch weitere sechs Jahre. Noch ist das Appartement nicht eingerichtet, solange kommt sie bei Gordana und ihrem Mann unter. Marijas beiden Söhne wohnen noch in Belgrad, werden aber nachkommen, sobald die Wohnung möbliert ist. Und was sagen die Albaner in ihrem Viertel dazu, dass sie bald wieder eine serbische Nachbarin haben?
"Ich bin da sehr freundlich aufgenommen worden, einige Leute kenne ich auch noch von früher. Wir haben als Kinder zusammen auf der Straße gespielt, und das Wiedersehen war so, als wäre nie etwas geschehen. Wir haben uns in den Arm genommen und geweint. Das alles war sehr emotional für mich."
Marija Novakovic ist kein Einzelfall: Laut dem UNO-Flüchtlingshilfswerk sind in den vergangenen fünf Jahren knapp 1800 Kosovo-Serben in ihre alte Heimat zurückgekehrt. In der Regel zieht es diese Menschen allerdings in serbische Enklaven vor allem im Nordkosovo, die Gegend um die Stadt Mitrovica herum. In der Hauptstadt Pristina aber leben so gut wie gar keine Serben mehr, und offiziell ist Marija der erste serbische Kriegsflüchtling, der nach 1999 dorthin zurückkehrt.
Das liegt laut Marijas Freundin Gordana Djoric auch daran, dass viele Rückkehrer zwar rein rechtlich einen Anspruch auf Rückgabe ihrer alten Immobilien haben – die Behörden im Kosovo sich aber in vielen Fällen querstellen und die Übergabe hinauszögern.
Ähnlich formuliert es auch die OSZE-Mission im Kosovo in einem Bericht aus dem Jahr 2019. Auch Marijas Fall sei ein hartes Stück Arbeit gewesen, berichtet Gordana, die mit ihrer lokalen NGO serbische Frauen rechtlich unterstützt. Den Ausschlag habe am Ende wohl gegeben, dass über diesen Fall in den Medien berichtet wurde.
Sprache als Voraussetzung für das Miteinander
Ihr Albanisch habe sie so gut wie vergessen, erzählt Marija noch, und tatsächlich sind die Sprachbarrieren im Kosovo heute ein viel größeres Problem als früher, zu jugoslawischen Zeiten. Diese Erfahrung macht auch der Albaner Veton Mujaj immer wieder.
Veton leitet eine NGO in Peja, einer im Westen des Landes gelegenen Stadt nahe der Grenze zu Montenegro. Seine Organisation heißt "Syri i Vizionit", "Auge mit Vision": Sie bringt Serben und Albaner aus der Region zusammen, die dann eine gemeinsame Geschäftsidee verfolgen. So sind zum Beispiel Partnerschaften von Obstbauern entstanden, die bis heute anhalten.
"Aber die Verständigung ist da oft schwierig, weil vor allem die Jüngeren die jeweils andere Sprache nicht mehr sprechen. Die lernen heute lieber Englisch als Albanisch oder Serbisch."
Auch Veton Mujaj erlebt das Zusammenleben der Ethnien viel entspannter als noch vor 10, 15 Jahren etwa. So weit wie in Kamenica sei man in Peja zwar noch nicht, aber:
"Es ist heute, anders als früher, überhaupt kein Problem für junge Serben, sich hier in Peja völlig unbehelligt im Stadtzentrum zu bewegen – und dabei ganz offen Serbisch zu sprechen. Wir haben hier Serben in der Verwaltung, bei der Polizei und Post. Was noch fehlt, ist diese Offenheit in der privaten Wirtschaft. Wenn ich hier in einen Supermarkt gehe, dann kaufen da auch Serben ein, aber es arbeiten keine Serben dort."
Albanischer Bürgermeister, serbischer Vize
Sprachbarrieren abbauen – das ist auch für den Serben Bojan Stamenkovic aus Kamenica eine Herzensangelegenheit. Der 39-Jährige spricht fließend Albanisch – und unterrichtet die Sprache sogar, neben seinem eigentlichen Job als Zollbeamter an der serbischen Grenze.
Über 300 serbische Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Region hatte er schon in seinen Kursen, darunter auch Mila Mihajlovic. Die 17-Jährige hat nicht bei Null angefangen mit der Sprache, ihr serbischer Großvater, erinnert sie sich, habe fließend Albanisch gesprochen und viele albanische Freunde gehabt.
"Unser Zusammenleben funktioniert nun mal nicht, wenn wir die Grundlagen hierfür nicht beherrschen. Und das Wichtigste dabei ist doch die Sprache. Ohne Sprache können wir unsere Gefühle und Bedürfnisse eben nicht ausdrücken. Mir wurde irgendwann einfach klar: Du lebst im Kosovo, und wenn du einmal Kinder haben wirst – willst du, dass sie in einem Umfeld leben, das sie nicht verstehen und in dem sie missverstanden werden können? Willst du das deinen Kindern wirklich antun?"
Umgekehrt, erzählt Bojan Stamenkovic, lernen auch Albaner Serbisch in Kamenica.
"Am Anfang, vor ein paar Jahren, war das nicht einfach mit den Sprachkursen. Es gab Vorurteile und Widerstände: Der albanische Bürgermeister Kastrati hat das stark unterstützt, wurde aber von einigen Leuten angefeindet: Warum sollen wir Albaner jetzt Serbisch lernen? Und die Serben fragten mich: Wofür brauchen wir Albanisch? Aber die Sprache bringt uns doch zusammen, die Menschen verstehen ihre Nachbarn, und nur so kann der Frieden hier gefestigt werden."
Das Miteinander von Serben und Albanern spielt sich in Kamanica nicht nur im Alltag ab, sondern auch auf politischer Ebene: Der langjährige Erste Bürgermeister, Qëndron Kastrati, ist Albaner – und mit Bojan Stamenkovic befreundet. Außerdem war der Serbe auch schon einige Jahre lang Kastratis Stellvertreter als Zweiter Bürgermeister. Und in diesem Jahr will sich Bojan erneut zur Wahl stellen für das Amt.