"Die richtige Strategie ist eine Neuverschuldung"
Um die Flüchtlingsintegration zu finanzieren, sei eine Neuverschuldung des Bundes sinnvoll, findet der Volkswirtschaftler Christian R. Proano. Derzeit könne sich der deutsche Staat "quasi gratis das Geld holen". Zukünftige Generationen könnten davon profitieren.
Experten streiten darüber, wie Deutschland das Geld für die Versorgung der rund eine Million Flüchtlinge aufbringen soll. Braucht das Land eine neue Agenda, um die Milliardenrechnungen für die Integration zu begleichen? Der Bamberger Volkswirtschaftler Christian R. Proano hält eine Neuverschuldung des Bundes für die richtige Strategie im Umgang mit der Flüchtlingskrise:
"Bei Investitionen gilt grundsätzlich, dass es gerecht ist, nicht nur die gegenwärtigen Generationen mit den Finanzierungskosten zu belasten, sondern auch die zukünftigen Generationen, so dass sie auch von den Investitionen profitieren. Somit erscheint mir die Finanzierung primär durch Neuverschuldung angemessen."
Angesichts der niedrigen Zinsen könne sich der Staat das Geld derzeit quasi gratis holen, sagte Proano im Deutschlandradio Kultur:
"Die staatliche Schuldenbremse erlaubt sogar eine jährliche Nettokreditaufnahme des Bundes von maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Man könnte durchaus Schulden machen, ohne gegen die Schuldenbremse zu verstoßen."
Studien berechnen 12 bis 20 Milliarden Euro pro Jahr
Proano verwies auf diverse Studien zu der Finanzierungsproblematik: Nach deren Berechnung würden bei einer Zuwanderung von rund einer Million Flüchtlinge jährlich zwischen 12 und 20 Milliarden Euro an Kosten für den deutschen Staat entstehen. Die Ergebnisse dieser Studien seien allerdings mit "viel Vorsicht" zu betrachten:
"Sie (die Studien) basieren alle auf Annahmen, die sehr bestreitbar sind. Das ist unvermeidlich, weil wir uns in einer Situation befinden, die wirklich einmalig ist. Sodass wir uns nicht auf Erfahrungswerte berufen können."
Investitionen könnten das Wirtschaftswachstum erhöhen
Zuwanderung verursache jedoch nicht nur Kosten, sondern sie habe auch Vorteile, stellte Proano heraus. In dieser Situation sei der "Faktor Zeit" enorm wichtig. Asylsuchende müssten so schnell wie möglich in die deutsche Gesellschaft integriert werden und die nötigen Qualifikationen erhalten:
"Es ist extrem wichtig zu verstehen, dass diese Ausgaben nicht nur als Kosten zu betrachten sind, sondern sie sind auch als Investitionsausgaben zu verstehen. Diese Investitionen könnten tatsächlich das Wirtschaftswachstum in Deutschland in der Zukunft erhöhen und gleichzeitig die Sozialkassen entlasten."
Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Die Kanzlerin ist im Urlaub, es sei ihr vergönnt, das war ein hartes Jahr, eines mehr. Aber nichtsdestotrotz, ihr Optimismus ist geblieben. Kurz vor der Abreise hat sie es ja noch mal gesagt:
O-Ton Angela Merkel: Ich bin heute wie damals davon überzeugt, dass wir es schaffen, unserer historischen Aufgabe – und dies ist eine historische Bewährungsaufgabe in Zeiten der Globalisierung – gerecht zu werden.
Frenzel: Wir schaffen das. Aber wie? Was verlangt uns das ab, mal ganz konkret gefragt, mal ganz ökonomisch gefragt? Am Telefon ist der Volkswirt und Professor an der Uni Bamberg Christian Proano. Guten Morgen, ich grüße Sie!
Christian R. Proano: Guten Morgen, Herr Frenzel!
Die größte Herausforderung seit der Wiedervereinigung
Frenzel: Wir schaffen das! – Herr Proano, gilt dieser Satz finanziell, gilt der ökonomisch für die Bundesrepublik Deutschland?
Proano: Ja, also, ich denke schon. Tatsächlich ist es so, dass die Flüchtlingskrise eine enorme Herausforderung für die deutsche Gesellschaft darstellt, vielleicht sogar noch die größte seit der deutschen Wiedervereinigung. Aber zum Glück ist Deutschland auch in einer extrem guten wirtschaftlichen Lage. Das ist tatsächlich vielleicht noch die beste Konjunkturlage der letzten 15 Jahre. Unter diesem Gesichtspunkt ist Deutschland also das europäische Land, das in der besten wirtschaftlichen Verfassung ist, um diese Herausforderungen zu meistern.
Frenzel: Existieren denn Berechnungen, wie hoch diese Kosten sind, die da auf uns zukommen für Wohnungen, für Sozialleistungen, für Sprachkurse, für Schulen, ja, für ganz viele Dinge, unter anderem ja auch für die Sicherheit?
Proano: Ja, es gibt einige Studien vom DIW, vom IAB, auch vom ZEW in Mannheim und auch, ich glaube, sogar noch vom Institut der Wirtschaft in Köln. Aber im Vorfeld möchte ich darauf hinweisen, dass all die Ergebnisse von diesen Studien mit viel Vorsicht zu genießen sind, dass sie alle auf Annahmen basieren, die sehr bestreitbar sind. Das ist zwar unvermeidlich, weil wir uns in einer Situation befinden, die wirklich einmalig ist, sodass wir uns nicht auf Erfahrungswerte berufen können.
Die meisten Studien aber gehen davon aus, dass pro Flüchtling ungefähr zwischen 12.000 und 20.000 Euro pro Jahr benötigt werden. Wenn wir also von einer Zuwanderung von einer Million Flüchtlingen rechnen, dann werden die flüchtlingsbedingten Kosten für den deutschen Staat zwischen 12 und 20 Milliarden Euro pro Jahr belaufen.
Nicht nur Kosten, sondern auch Vorteile der Zuwanderung
Frenzel: Aber das sind natürlich ganz enorme Summen, 200 – nur mal zum Vergleich –, 200 Millionen pro Jahr in den nächsten vier Jahren, das ist das, was die Bundesregierung als Investitionsprogramm beschlossen hat, also insgesamt 800 Millionen. Das ist ja dann bestenfalls der berühmte Tropfen auf den heißen Stein!
Proano: Das stimmt, aber man muss nicht nur die Kosten analysieren, sondern man muss auch die möglichen Nutzen beziehungsweise die Vorteile von dieser Zuwanderung … Und die könnten tatsächlich hoch sein, wenn wir diese Aufgabe richtig anpacken.
Frenzel: Wie packen wir sie richtig an?
Proano: Wissen Sie, der Faktor Zeit ist extrem wichtig in dieser Situation. Wir müssen zusehen, dass die Asylsuchenden so schnell wie möglich integriert werden in der deutschen Gesellschaft. Aber auch, dass sie die benötigten Qualifikationen so schnell wie möglich bekommen. Es ist extrem wichtig zu verstehen, dass diese Aufgaben nicht nur als Kosten zu betrachten sind, sondern als Investitionsausgaben zu verstehen sind. Und diese Investitionen könnten tatsächlich das Wirtschaftswachstum in Deutschland erhöhen in der Zukunft und gleichzeitig die Sozialkassen entlasten. Ich habe den Eindruck, dass das so ein bisschen ein Rennen gegen die Zeit ist. Man soll diese Leute jetzt integrieren und nicht in fünf Jahren. Das heißt, man sollte vielleicht jetzt etwas mehr, zu viel Geld ausgeben, als dass man sich ärgert und in zehn oder 20 Jahren sagt, ja, hätten wir damals etwas mehr Geld ausgeben können!
Frenzel: Aber Herr Proano, Investitionen haben den kleinen Schönheitsfehler, dass man sie erst mal tätigen muss, bevor sie dann irgendwann wirken. Ich komme noch mal zurück auf diese Zahl, die Sie genannt haben aus den Studien, zwölf bis 20 Milliarden Euro. Die müssen ja irgendwo herkommen. Wollen wir mal ein paar Optionen durchgehen, die der Staat üblicherweise so hat bei solchen Summen. Die erste Option: Der Staat könnte natürlich an anderer Stelle sparen. Was sagen Sie dazu?
Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen sind nicht sinnvoll
Proano: Ich würde nicht dafür plädieren, an anderer Stelle zu sparen, weil, es ist tatsächlich so, dass die Konjunkturlage in Deutschland sehr gut ist, aber zum Beispiel der Zustand der Schulen durchaus viel zu wünschen lässt. Man kann auch nicht in der Verteidigung sparen, man sollte auf keinen Fall in Bildung sparen und das Straßenbahnnetz oder Autobahnnetz ist auch nicht irgendwie etwas, wo man unbedingt sparen sollte.
Frenzel: Dann kommen wir auf die zweite Option: Steuern erhöhen, und wenn ja, für wen?
Proano: Ich denke, dass die Option Steuererhöhung auch in diesem Kontext nicht unbedingt wünschenswert ist, weil man unbedingt vermeiden sollte, dass der Eindruck entsteht, dass die deutsche Gesellschaft unmittelbar für die Zuwanderung bezahlen muss, und zwar nämlich nur diese Generation. Es wäre von der Gerechtigkeitsperspektive nicht richtig, wenn nur diese Generation die Kosten allein tragen würde.
Man könnte durchaus denken, dass vielleicht eine höhere Besteuerung der Vermögenden durchführbar wäre, und ich bin definitiv dafür, aber ich glaube, dass man nicht die Flüchtlingsproblematik als Grund dafür benutzen sollte, sondern es ist einfach ein allgemeines Problem der deutschen Gesellschaft: Dass wir eine zu hohe Ungleichheit haben.
"Finanzierung durch Neuverschuldung ist angemessen"
Frenzel: Dann kommen wir zur dritten Option: Wir könnten Wolfgang Schäuble kurz die Augen zuhalten, die schwarze Null vergessen und wieder mal mehr Schulden machen.
Proano: Ja. Ja, also, ich denke, das ist die richtige Strategie in diesem Kontext. Bei Investitionen gilt grundsätzlich, dass es gerecht ist, nicht nur die gegenwärtigen Generationen mit den Finanzierungskosten zu belasten, sondern auch die zukünftigen Generationen, dass sie auch von den Investitionen profitieren. Somit scheint mir die Finanzierung primär durch Neuverschuldung angemessen.
Frenzel: Nun ist es aber so, Herr Proano, Schulden machen ist natürlich eine Sache, die den ganzen Süden Europas ganz schön in die Krise getrieben hat. Wirklich eine gute Idee?
Proano: Ja, und zwar, der deutsche Staat kann sich quasi gratis das Geld holen. Wir haben ja historisch extrem niedrige Zinsen. Und wir haben vor ein paar Tagen sogar noch negative Renditen an Staatsanleihen beobachtet, sodass das nicht unbedingt irgendwie ein großes Argument ist. Die staatliche Schuldenbremse erlaubt sogar eine jährliche Nettokreditaufnahme des Bundes von maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Man könnte durchaus Schulden machen, ohne gegen die Schuldenbremse zu verstoßen. Und auch von der europäischen Seite, der europäische Fiskalpakt erlaubt in Ausnahmesituationen – und diese hier ist definitiv eine Ausnahmesituation –, von den mittelfristigen Zielen abzuweichen.
Frenzel: Wir schaffen das, aber wie? Christian Proano sagt, mit mäßigem Schuldenmachen könnte es klappen. Christian Proano, Volkswirtschaftsprofessor an der Uni Bamberg, ich danke Ihnen für das Interview!
Proano: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.