Literaturkritiker Stefan Mesch zu den Offenbarungen von Christian Kracht bei seiner Frankfurter Poetikdozentur:
"Christian Kracht war bisher nie jemand, der sich eingemischt hat, oder der Position bezogen hat, und dass so jemand, nachdem wir 20 Jahre lang diese Bücher oft sehr einseitig, in Schwarz und Weiß gelesen haben, ausgerechnet bei der Poetikdozentur, also dem Ort, wo literaturkritisch noch mal alles in ein neues Licht gerückt werden kann, sagt, 'Leute, ich möchte euch etwas sagen und ich sage das auch, damit ihr meine Romane anders lest, damit ihr die in einem anderen Licht seht', ich finde schon, dass das die ganze Rezeption verändert, und ich bin ein bisschen froh drum, weil wir jetzt 20 Jahre lang doch eher auf der Stelle traten."
"Das verändert die ganze Rezeption"
Offenbar missbraucht von einem Geistlichen an seiner Schule: Der Schweizer Autor Christian Kracht hat mit der Schilderung seiner Kindheitserinnerung für Aufsehen gesorgt. Wie sich die Rezeption seiner Bücher nun verändern kann, darüber spricht Literaturkritiker Stefan Mesch.
Der Schweizer Autor Christian Kracht ist nach eigenen Angaben während seiner Schulzeit von einem Kaplan sexuell missbraucht worden. Das erzählte er während seiner Poetikvorlesung in Frankfurt. Er habe die Erinnerung lange verdrängt, weil selbst seine Eltern ihm nicht glauben wollten. Seinen Angaben nach hat ein Kaplan in einem Internat in Kanada ihn gezwungen, sich vor ihm auszuziehen. Der Mann habe ihn dann mit einem Gürtel auf Rücken und Hintern geschlagen. Anschließend habe der Mann sich vermutlich selbst befriedigt. Erst nachdem andere ehemalige Schüler im vergangenen Jahr mit Missbrauchsvorwürfen an die Öffentlichkeit gegangen seien, habe er angefangen, seinen Erinnerungen zu trauen. Dann untersuchte Kracht Figuren seiner bisherigen Werke auf Analogien zu seinem Peiniger.
Warum fehlt in Krachts Werken das Thema Liebe?
"Ich finde das bewundernswert, dass er den Mut aufbringt, das öffentlich so preiszugeben", sagt Guido Graf, Journalist und Dozent für Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Sicherlich bestehe nun die Gefahr einer Psychologisierung seines Werkes durch die Leser. "Die Gefahr einer Trivialisierung durch kurzschlüssiges Lesen ist da mit Sicherheit ganz groß." Aber das, was Christian Kracht in der Frankfurter Vorlesung gezeigt habe, sei eine Selbsterforschung. "Das literarische Schreiben hat offensichtlich bewusster, präsenter durch künstlerische Mittel gearbeitet als das Bewusstsein des Autors selbst", sagt Graf. Dieser Aufarbeitung des Autors sollten seine Leser mit Respekt behandeln.
Für die zweite Vorlesung Krachts am kommenden Samstag erhofft sich Graf auch Aussagen Krachts über Themen, die er in seinen Büchern bisher nicht behandelt hat. "Insbesondere in den letzten Büchern wie 'Die Toten' und 'Imperium' ist Sexualität zwar vorgekommen, aber so etwas wie Liebe eigentlich nie." Nun sei er gespannt, ob Kracht dies anspreche. "Ich könnte mir vorstellen, dass das gerade vor dem Hintergrund dieser Missbrauchserfahrung eine besondere Bedeutung haben kann."