Alles Merkel – oder was?
Kritik, Attacken und Gemeinheiten - all das scheint Angela Merkel nichts auszumachen. Vor der Wahl im September zieht bislang keine Angriffstaktik der anderen Parteien. Der Politikwissenschaftler Thorsten Faas spricht über das "Phänomen Merkel".
Deutschlandfunk Kultur: Es ist Sommer, der Bundestag in der parlamentarischen Sommerpause, die Regierung samt Kanzlerin sind im Urlaub. Aber die Briefe an die ehrenamtlichen Wahlhelfer sind schon lange raus, denn in zwei Monaten wird ein neuer Bundestag gewählt, eine neue Regierung und eine neue, alte Kanzlerin. Höchstwahrscheinlich.
Noch nicht im Urlaub ist zum Glück der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Thorsten Faas von der Universität Mainz, jetzt zu Gast in Tacheles. – Guten Tag, Herr Faas.
Thorsten Faas: Schönen guten Tag, Frau Führer.
Deutschlandfunk Kultur: Angela Merkel wird wieder Kanzlerin, sage ich. Wetten Sie dagegen?
Thorsten Faas: Ich bin ja eher Wissenschaftler und nicht so im Wettbusiness tätig, aber sagen wir es mal so: Die Zeichen stehen natürlich sehr günstig für sie gerade. In der Physik würde man sagen: "Das Momentum war Anfang des Jahres vielleicht mal bei Martin Schulz für eine Weile, aber es hat sich zurück bewegt.F" Im Moment läuft es für die CDU sicherlich sehr, sehr gut. Das kann man nicht bestreiten.
Auf der anderen Seite sollte man auch den Wahltag als solchen, die Wählerinnen und Wähler durchaus ernst nehmen. Wir wissen, sie entscheiden sich immer später. Sie berücksichtigen durchaus auch kurzfristige Faktoren. Insofern sollten wir noch nicht ganz so tun, als würde es um nichts mehr gehen bei dieser Bundestagswahl. Dafür haben wir auch schon zu viele Wahlen erlebt, wo wir dann am Wahlabend dastanden und dachten: 'Oh, okay, damit hatten wir jetzt eigentlich nicht gerechnet.' – Also, ich glaube schon, dass uns noch ein bisschen Spannung bevorsteht.
Deutschlandfunk Kultur: Die Umfragen sehen alle mehr oder weniger die Union bei 40 Prozent, die SPD bei 24, 25. Das scheint doch wirklich uneinholbar.
Thorsten Faas: Dieser Abstand ist sehr, sehr groß. Ich glaube, Martin Schulz spricht ja auch bewusst nicht davon, dass er die SPD zur stärksten Partei in Deutschland machen möchte. Er spricht eigentlich immer davon, dass er der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland werden möchte. Und er spricht damit natürlich eigentlich schon den spannendsten Punkt rund um diese Bundestagswahl an.
Wir wissen eigentlich heute nicht, welche Koalition uns ab September regieren wird. Wir wissen aber zugleich, dass solche Überlegungen, welche Koalitionen denn nach einer Wahl dann tatsächlich die Regierung übernehmen, dass solche Überlegungen etwas sind, was Menschen durchaus in ihrer Wahlentscheidung auch berücksichtigen. So dass gerade aus diesem Element heraus - Wer regiert uns zukünftig? - durchaus nochmal auch Reaktionen der Wählerinnen und Wähler resultieren können.
Wenn wir mal zurückschauen an den Beginn dieses Jahres, hatten wir eine Landtagswahl im kleinen Saarland. Da waren es genau solche Überlegungen: Wollen wir eigentlich vielleicht ein rot-rotes Bündnis auf der einen Seite? Wollen wir ein Bündnis unter der sehr beliebten Ministerpräsidentin Annegret Kamp-Karrenbauer auf der anderen Seite? Genau diese Überlegung hat ja viele Menschen damals im Saarland bewegt. Und das zeigt schon, gerade auf der Zielgeraden, wenn es um solche strategischen Fragen geht, wer uns zukünftig regiert: Da kann noch was passieren.
Aber das ist eben zugleich die Frage, die wirklich sehr offen ist: Reicht es für Schwarz-Gelb vielleicht? Gibt es vielleicht doch nochmal so eine rot-rot-grüne Option, auch wenn Martin Schulz sich da bedeckt hält? Oder bleibt dann am Ende doch wieder nur die große Koalition? – Das ist spannend. Daraus kann durchaus noch was erwachsen.
Noch ist eben nicht alles schon gelaufen
Deutschlandfunk Kultur: Herr Faas, Sie haben angesprochen, dass sich bisweilen die Wahlergebnisse dann doch etwas anders lesen als vorher die Umfragen. Wir haben, glaube ich, so einen großen Unterschied zwischen Umfragen und Ergebnis das letzte Mal 2005 erlebt, als Kanzler Schröder Neuwahlen angesetzt hatte, und die Werte sahen wirklich sehr bescheiden aus. Und die SPD schnitt dann ja viel besser ab, als zuvor erwartet – allerdings nicht gut genug, um Schröder im Amt zu halten. Damals wurde dann Angela Merkel zum ersten Mal Bundeskanzlerin und zum ersten Mal auch Kanzlerin einer großen Koalition.
Was war denn damals passiert, um das noch – zwar nicht komplett – zu drehen, aber doch fast?
Thorsten Faas: Erstmal war das natürlich ein sehr besonderes Wahljahr. Sie haben es angesprochen. Das war keine reguläre Bundestagswahl, sondern es war eine vorgezogene Bundestagswahl. Schröder, die SPD unter Schröder sollte man sagen, hatte damals ja mit Nordrhein-Westfalen ihre traditionell so als Herzkammer bezeichnete Hochburg verloren. Schröder und auch Müntefering hatten damals für sich keinen anderen Ausweg gesehen, als zu sagen: "Hey, wir können so nicht weitermachen, also führen wir diese vorgezogene Bundestagswahl herbei im Weg der Vertrauensfrage."
Danach aber ist Gerhard Schröder in einen ganz spannenden Modus gefallen. Er hat eigentlich so eine Art Oppositionswahlkampf gemacht gegen die schon gefühlte Kanzlerin Angela Merkel, die sich damals – sehr anders als man es heute bei ihr häufig sieht – auch an vielen Stellen sehr, sehr klar positioniert hatte. Sie wollte die Mehrwertsteuer erhöhen, sie wollte auch die Sozialversicherungssysteme auf durchaus weitreichende, manche würden sagen, radikale Art und Weise umbauen. Und das hat zugleich für die SPD unter Schröder, der natürlich auch ein brillanter Wahlkämpfer gewesen ist, Türen und Möglichkeiten geöffnet, die er dann ganz massiv genutzt hat.
Er hat gegen diese Mehrwertsteuer ganz massiv Politik gemacht. Das sei eine "Merkel-Steuer". Was ihm gelungen ist, ist sozusagen, wirklich so eine Politisierung, eine Polarisierung auf der Zielgeraden herbeizuführen. Das ist das eine. Und auf der anderen Seite gab's dann damals tatsächlich auf der unmittelbaren Zielgeraden nochmal Verschiebungen zwischen CDU und FDP. Die CDU, vor allem die CDU, aber in der Summe dann auch CDU und CSU haben auf der Zielgeraden nochmal verloren. Die FDP hat deutlich profitiert. Also es gab eine Polarisierung, es ging um klare Alternativen. Und das hat Schröder damals als Wahlkämpfer wirklich auf bemerkenswerte Art und Weise geschafft.
Und die Union hat damals in relativ kurzer Zeit – im Vergleich zu den Umfragen – fast zehn Prozentpunkte verloren. Wenn wir nach Großbritannien oder USA gucken, auch da sehen wir ja: Auf der Zielgeraden ist schon noch vieles möglich. Deswegen würde ich auch immer ein bisschen davor warnen zu sagen: "Das ist jetzt alles schon vorbei. Wir können uns den Wahlkampf eigentlich sparen." Damit wird man auch der Bedeutung eines Wahlkampfs nicht gerecht. Insofern würde ich mir so eine Sichtweise nicht zu eigen machen.
Deutschlandfunk Kultur: Ich habe jetzt nach 2005 gefragt, um eben auch nochmal auf die Gegenwart und die jüngere Vergangenheit zu gucken. Also, wenn im vergangenen Jahr Wahlen gewesen wären: Da stand Merkel ziemlich schlecht da, da wurde über die so genannte Flüchtlingskrise sehr, sehr viel gesprochen und dann gab es, so im Februar, März - sie sprachen das vorhin an mit dem Momentum - auch mal eine Zeit, wo SPD und CDU relativ gleichauf lagen, so um die 32 Prozent. Und dann ist die Union wieder nach oben geschossen und die SPD wieder nach unten.
Sie haben gerade erläutert, was 2005 passiert ist. Was ist denn aber jetzt passiert, dass jetzt Merkel so gut da steht und die SPD wieder so schlecht wie zuvor?
Warum steht die CDU so gut da?
Thorsten Faas: Wenn wir diesen Schulz-Hype, den Schulz-Zug mal für einen Moment ausblenden und uns Umfrageergebnisse angucken aus der Zeit davor und die vergleichen mit dem, was wir jetzt sehen, dann liegen die eigentlich wieder sehr nahe zusammen. Das heißt, man könnte sagen, was wir jetzt gerade in den Umfragen erleben, das ist eine Rückkehr zu der Normalität, die wir Ende des letzten Jahres vielleicht haben sehen können, so dass die eigentlich spannende Frage ist: Was ging da plötzlich für die SPD? Welches Fenster der Gelegenheit ging da für einen Moment auf? Was war das Potenzial, das Martin Schulz für eine Weile tatsächlich für sich nutzen konnte?
Und da gibt es, glaube ich, zwei Faktoren, die man an der Stelle berücksichtigen muss. Das eine ist die Art und Weise, wie er ins Amt gekommen ist. Das war natürlich ein Coup, den vor allem Sigmar Gabriel, aber natürlich gemeinsam mit Martin Schulz, den die beiden da hingelegt haben. Rückblickend scheint es so, als sei die CDU unter Angela Merkel darauf auch nicht wirklich vorbereitet gewesen. Dadurch hatte Martin Schulz unmittelbar nach seiner Nominierung auch so einen Zeitraum von zwei, drei, vier Wochen, in denen er kaum Gegenwind von Seiten des politischen Gegners hatte, ganz anders als Peer Steinbrück 2013.
Steinbrück hatte damals eigentlich von Tag eins seiner Nominierung an massiven Gegenwind. Da ging es damals um die Honorare, ob er nun zu teuren Rotwein trinkt usw. Also, er stand wirklich von Tag eins massiv in der Kritik.
Deutschlandfunk Kultur: Ich glaube, das war Weißwein.
Thorsten Faas: Weißwein, okay, Entschuldigung (lacht). Von Tag eins jedenfalls stand er – unabhängig von der Farbe des Weins – massiv in der Kritik. Und Schulz hatte im Gegensatz dazu wirklich so einen Zeitraum, wo er geradezu wie so ein neuer Stern leuchten konnte. Wir kennen das aus amerikanischen Wahlkämpfen. Da gibt’s die Tradition der großen Parteitage, der Conventions. Auch da hat eine Partei für eine gewisse Zeit die alleinige mediale Aufmerksamkeit. Der politische Gegner hält sich ein wenig zurück in diesem Zeitraum. Und auch das führt dort regelmäßig dazu, dass die Partei, die eben dieses exklusive, sehr positive öffentliche Bild hat, regelmäßig in Umfragen zulegt. Das ist dann auch nicht dauerhaft. Das hat teilweise so Strohfeuerzüge, aber das sind durchaus Muster, die wir kennen. Das ist das eine.
Das erklärt aber noch lange nicht die Größenordnung dieses Anstiegs, den wir bei Martin Schulz und der SPD haben beobachten können. Ich will jetzt nicht nochmal zurückgehen zu 2005, aber die jüngere Geschichte der SPD, gerade auch in Verbindung mit ihrer Wählerschaft, die ist natürlich sehr, sehr speziell. Manche würden sagen: Die ist sehr brüchig geworden infolge der Agenda 2010, Rente mit 67. Das muss man nicht alles wieder aufwärmen, aber die klassische Wählerschaft der SPD hat sich ein Stück weit von der SPD entfremdet.
Und was dieser Hype Anfang des Jahres gezeigt hat, ist, dass zwar gewisse Entfremdungen da sind, aber dass die SPD schon noch in Teilen der Bevölkerung offenkundig mehr grundsätzliche Sympathie hat. Vielleicht könnte man auch sagen, es gibt mehr Hoffnung in die SPD, als sie vielleicht in den letzten Jahren dann auch tatsächlich in der Praxis einlösen konnte. Aber da ist noch was möglich für die SPD. Das hat Schulz für einen Moment quasi entfesselt. Aber es ist aus Sicht der SPD nicht gelungen, das zu verstetigen.
Wichtige Wahlkampfregel: Nicht mit Aussagen zu sehr polarisieren
Deutschlandfunk Kultur: Angela Merkel - dazu würde ich nochmal gerne kurz kommen, Herr Faas. Man kann ja wirklich das Wort "Phänomen" getrost davor stellen. Sie ist beliebt wie kaum sonst eine regierende Politikerin oder ein regierender Politiker. Nicht nur die Unionswähler, auch die Wähler und sogar die Mitglieder von der SPD, von den Grünen, von der Partei Die Linke, alle schätzen Merkel.
Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte spricht von einem "deutschen Sonderweg". Also, die Deutschen sind eben gar nicht wild auf einen Wandel – change, yes, we can und so -, sondern sie stehen mehr auf "Amtsadel und Büroleitertypen", so nennt er das. Und Merkel würde die Deutschen gerade deswegen begeistern, weil sie sich selbst so unaufgeregt gibt. – Wie erklären Sie das Phänomen Merkel?
Thorsten Faas: Ich glaube, erstmal hat sie aus ihrer ganz eigenen politischen Biographie als Spitzenpolitikerin – auf Bundesebene meine ich damit – bestimmte Schlüsse gezogen, die man bis heute eigentlich nachvollziehen kann und die auch ihr Denken und Handeln, glaube ich, prägen. Der sehr polarisierende Wahlkampf, den sie 2005 geführt hat und der für sie am Ende ja wirklich fast dazu geführt hätte, dass sie einen großen, großen Vorsprung nochmal verspielt hätte, daraus hat sie, glaube ich, die Lehre gezogen, sich eben im Wahlkampf nicht zu sehr mit sehr polarisierenden Positionen zu exponieren.
Wir hören häufig dieses Stichwort der "asymmetrischen Demobilisierung". Das heißt also, dass die Union unter Merkel auch ganz bewusst versucht, Positionen des politischen Gegners, allen voran auch der SPD, zu adaptieren, zu übernehmen, vielleicht ein bisschen anders zu benennen, aber inhaltlich eben doch mit der SPD übereinzustimmen, um dem politischen Gegner, um eben vor allem der SPD auch Mobilisierungschancen zu nehmen.
Warum macht die Union das? Warum macht Frau Merkel das? Vielleicht, wie gesagt, einerseits aus dieser Lehre 2005. Andererseits kann die Union viel mehr als die SPD davon ausgehen, dass Wählerinnen und Wähler, dass ihre Wählerinnen und Wähler am Wahltag auch ihre Stimme abgeben, so dass diese Frage der Wahlbeteiligung auch strategisch für die Union etwas ist, was sie ganz gezielt und auch sehr, sehr erfolgreich einsetzt.
Wenn wir 'mal in die jüngere Vergangenheit schauen, Stichwort Ehe für alle: Letztlich, glaube ich, ist das auch weit weg von einem zufälligen Ergebnis, das die Union oder Frau Merkel da irgendwie überrumpelt hat oder wo sie was ausgelöst hat, was dann am Ende wider Willen aus ihrer Sicht zur Einführung der Ehe für alle geführt hat, ich glaube, das ist weit gefehlt. Sie hat sehr klug zu einem bestimmten Zeitpunkt das Fenster aufgemacht, damit eben die Ehe für alle noch durch den Bundestag konnte und inzwischen ja auch als Gesetz verabschiedet ist.
Zugleich hat sie bei der Abstimmung selber dagegen gestimmt. Das zeigt so ein bisschen ihr Denken. Sie hat sozusagen in eher konservative Kreise ihrer Partei, ihrer Anhängerschaft hinein das Signal gesendet: Ich bin eigentlich nicht dafür, im Gegenteil, ich habe mit meiner Stimmabgabe gezeigt, ich bin dagegen. Aber sie hat natürlich zugleich das Thema – man würde sagen – abgeräumt, Ehe für alle ist jetzt Gesetzeslage, und damit ein Thema aus dem Wahlkampf quasi prophylaktisch entfernt, das für Grüne, SPD sicherlich eines gewesen wäre, das man schon sehr massiv, weil es ein sehr werthaltiges aufgeladenes Thema ist, genutzt hätte.
Zuletzt waren die Zustimmungswerte für Merkel vor einem Jahr schlecht
Deutschlandfunk Kultur: Ja, da ist geschicktes politisches Handeln, was Sie gerade erläutert haben. Aber das erklärt ja ihre große Beliebtheit meiner Meinung nach nicht. Also, der Schachzug mit der Ehe für alle macht sie nicht unbedingt beliebt bei den Wählern der Grünen oder der SPD oder überhaupt in der Bevölkerung.
Ich habe ja so den Eindruck, dass Donald Trump und Leute wie Nigel Farage, die dazu beigetragen haben, dass die Briten mehrheitlich für den Brexit gestimmt haben, und andere Populisten unfreiwillig dafür sorgen, dass Frau Merkel in der Beliebtheit noch weiter gestiegen ist. Weil sie inzwischen so diesen Eindruck vermittelt – eben auch bei Menschen, die jahrzehntelang Grün gewählt haben –, die einzig Vernünftige in diesem ganzen Laden - blicken wir nach Polen, blicken wir in die Türkei, Marine Le Pen in Frankreich – das ist unsere Kanzlerin. Sie ist der Fels in der Brandung.
Thorsten Faas: Wenn wir mal auf ihre Beliebtheitswerte der jüngeren Vergangenheit schauen, dann sind die ohne Zweifel hoch, gerade auch für eine Kanzlerin, an der sich natürlich eigentlich auch eine parlamentarische Opposition abarbeitet, wo es zu eigentlich auch ganz klaren Polarisierungen kommen sollte. Gerade im Lichte solcher Erwartungen sind ihre Beliebtheitswerte zumeist sehr, sehr hoch gewesen.
Die einzige Zeit in der jüngeren Vergangenheit, wo auch die Beliebtheitswerte von Frau Merkel doch deutlich gelitten haben, Sie haben es eben schon angesprochen, ist die Zeit der Flüchtlingssituation im Jahre 2016 gewesen. Und auch das ist doch wieder so ein Punkt, wo man sagt: Okay, da hat sie wirklich mal klar Position bezogen – aus guten Gründen, würde man sagen -, aber es war eine klare Positionierung: Grenze aufmachen. Wir müssen hier handeln. Wir müssen natürlich auch humanitäre Aspekte hier berücksichtigen.
Aber das war wieder so ein Moment, wo dieses Klare-Position-beziehen, was eher untypisch ist für sie, dazu geführt hat, dass ihre Beliebtheitswerte an der Stelle dann eher nach unten gegangen sind.
Sie sprechen ja mit Trump etc. sehr polarisierende Typen an. So funktioniert deutsche Politik, die ja immer auch Koalitionspolitik ist, eben in diesen Zeiten nicht. Das merken Sie auch bei der Art und Weise, wie die Grünen agieren, wie auch Martin Schulz agiert. Wenn Sie gucken, wie viele verschiedene Koalitionen es in Deutschland auf der Ebene der Bundesländer inzwischen gibt, das sind 13 verschiedene Koalitionsmuster, die es da gibt. Man könnte auch sagen: Irgendwer regiert irgendwo immer mit. Also, jeder regiert mit jedem – irgendwo. Man findet rot-rot-grüne Bündnisse, man findet jetzt wieder ein schwarz-gelbes Bündnis, die Grünen regieren mit CDU und FDP in Schleswig-Holstein. In so einer Konstellation ist Polarisierung ganz, ganz schwierig.
Dann stellt sich sozusagen die nächste Frage: Okay, wenn wir eine eher weniger polarisierte Zeit haben, welcher Politikertypus passt dann da eigentlich dazu, wer kann damit auch am besten umgehen? Auch das hat Frau Merkel natürlich gezeigt. Sie hat eine große Koalition geführt. Sie hat Schwarz-Gelb geführt. Jetzt führt sie wieder eine große Koalition. Sie kann sich auch Bündnisse mit den Grünen vorstellen. Also, insofern passen die Rahmenbedingungen, die nicht sehr polarisiert sind im innenpolitischen Sinne, und die Art und Weise ihres Denkens und Handelns sehr gut zusammen.
Das passt dann auch insgesamt, glaube ich, zum Politikverständnis, das in weiten Teilen der Bevölkerung präsent ist, wo ja Politik, Konflikt, harte Auseinandersetzung nicht nur Wertschätzung genießen, um es positiv zu formulieren. Dazu passt es einfach sehr gut. Und das zeigt schon, dass sie diesen Nerv – ob bewusst oder strategisch – einfach sehr gut trifft. Das Resultat ist dann ohne Zweifel für eine Kanzlerin nach dieser langen Amtszeit, das darf man ja auch nicht vergessen, dass sie dann immer noch so hohe Beliebtheitswerte hat. Da ist der Phänomen-Begriff sicher schon gerechtfertigt.
Warum gibt es keine Wechselstimmung?
Deutschlandfunk Kultur: Herr Faas, wir haben ja alle mal gelernt in der Schule, Demokratie lebt vom Wechsel. Wenn Angela Merkel nun zum vierten Mal Bundeskanzlerin werden sollte, dann wird diese Entscheidung natürlich demokratisch zustande gekommen sein. Aber man fragt sich ja schon: Ist das tatsächlich auch gut für die Demokratie? Ist das gut für den demokratischen Bürgersinn? Oder geht nicht irgendwann davon auch die Botschaft aus, Leute, egal, wen oder was ihr wählt, Merkel bleibt?
Thorsten Faas: Ja, durchaus. Ich habe neulich mal mit meinen Studierenden in Mainz geredet, die ja deutlich jünger sind als ich. Für die ist völlig selbstverständlich, dass Frau Merkel die Kanzlerin ist. Die kennen überhaupt keine andere Person, die das Amt der Regierungschefin innehat. Es gibt ja auch Länder, wo man aus nachvollziehbaren Gründen bestimmte Amtszeitbeschränkungen hat. Der amerikanische Präsident kann maximal acht Jahre regieren. Insofern sind es schon sehr valide Überlegungen, dass man sagt: "Hey, irgendwann muss da auch ein Wechsel kommen."
Auf der anderen Seite ist sie gerade natürlich, also Frau Merkel, mit der letzten Bundestagswahl so eindrucksvoll im Amt bestätigt worden, dass man dann auch schon sagen kann: Okay, die Wahlbevölkerung möchte sie im Amt. Es gibt die Möglichkeit, den Wechsel herbeizuführen. Es gibt einen Wettbewerb um das Amt, einen Wettbewerb um die Stimmen. Insofern sind demokratische Erfordernisse ohne Zweifel erfüllt. Und dann ist der Wille des Souveräns natürlich an der Stelle zu akzeptieren.
Schwieriger wiegt an der Stelle aus meiner Sicht, dass eben – bedingt durch diese Koalitionsvielfalt – gar nicht klar ist, wenn wir heute wählen, was am Ende dieses Wahltags dann als Koalition resultiert. Und auch das führt, glaube ich, bei vielen Menschen dazu, dass sie denken: Ich wähle zwar irgendwas und ich wähle eine Partei, aber was dann daraus als Regierung resultiert, das ist unklarer denn je. – Das ist etwas, wo wir alle durchaus lernen müssen, denn das kennen wir so nicht. Eigentlich hatten wir immer eine sehr klare Lagerstruktur in der jüngeren Vergangenheit – Schwarz-Gelb, Rot-Grün war das lange Zeit.
Davon müssen sich Politiker, aber eben auch Wählerinnen und Wähler verabschieden. Und das scheint mir fast die größere Herausforderung zu sein, mit dieser neuen Vielfalt und den Konsequenzen auch entsprechend umzugehen.
Deutschlandfunk Kultur: Man spricht ja in Deutschland schon eine ganze Weile von einer Zweidrittel-Demokratie, weil nur zwei Drittel der Wahlberechtigten überhaupt wählen gehen und ein Drittel im Allgemeinen zu Hause bleibt, und zwar ausgerechnet die Armen, die sozial Schwachen und Benachteiligten, also diejenigen, die eigentlich das größte Interesse daran haben, dass sich etwas ändert an ihrer Lage.
Jetzt ist in den letzten Landtagswahlen die Wahlbeteiligung gestiegen, teilweise sogar erheblich. Davon hat vor allem eine Partei profitiert, die AfD. Sehr interessant finde ich die Zahl, dass der Anteil der Wähler, die eine Partei aus Enttäuschung wählt, bei der AfD so hoch wie bei keiner anderen Partei ist. Also, Frustwähler, könnte man sagen. – Glauben Sie, die AfD wird sich dauerhaft im Parteiensystem halten?
Thorsten Faas: Erst einmal würde ich diese Diagnose nachdrücklich unterstützen. Zwei Drittel oder siebzig Prozent Wahlbeteiligung bei einer Bundestagswahl kann uns nicht zufrieden stellen. Und wenn wir dann diese damit verbundenen sozialstrukturellen Muster, dass es eben ganz bestimmte Gruppen sind, die nicht wählen, noch dazu denken, dann kann man schon ein kleines Fragezeichen an die Umsetzung so eines Ideals demokratischer Gleichheit dran machen. Dann sollte man das auch nicht einfach schulterzuckend zur Kenntnis nehmen.
Stichwort AfD: Erst einmal wissen wir in der Wahlforschung schon lange, dass es zwischen Nichtwahl und Protestwahl hohe Übereinstimmungen gibt, was die jeweiligen Personen betrifft, die entweder nicht wählen oder die dann eine Proteststimme abgeben. Und wann kommt es zum Protest? Na ja, wenn da plötzlich so ein Kristallisationspunkt ist, wenn da plötzlich eine politische, in der Regel eine neue politische Kraft ist, der es gelingt, diese vorher nicht sichtbare latente Unzufriedenheit der Nichtwähler eben in ihre Bahnen zu lenken. Und das ist der AfD sicherlich im Jahr 2016 vor allem, 2015/ 2016 gelungen.
Deutschlandfunk Kultur: Kurz dazwischen: Die Partei wurde vor vier Jahren gegründet und ist inzwischen in 13 Landesparlamenten vertreten. Das ist wirklich ein ungemein rasanter Aufstieg.
Thorsten Faas: Absolut. Das haben wir in jüngerer Zeit häufiger erlebt, dass neue Parteien sehr schnell in sehr vielen Landtagen oder in einigen Landtagen zumindest vertreten sind. Von den Piraten redet aber heute kein Mensch mehr. Insofern ist natürlich die Frage, die Sie auch gestellt haben, genau die richtige. Ist es ein dauerhaftes Phänomen oder bleibt das so ein Strohfeuer?
Die anderen Parteien haben sich sehr schnell auf die Piraten damals eingestellt, haben bestimmte Themen übernommen. Und die anderen Parteien haben auch verstanden inzwischen, dass sie sich vielleicht auch mehr um Mobilisierung kümmern müssen, dass sie – das sieht man auch bei den Positionen der Kanzlerin oder der CDU und der CSU – bestimmte inhaltliche Positionen, gerade bezogen auf die Flüchtlingssituation verschärft haben, kann man durchaus sagen, und haben damit der AfD natürlich ein wenig Wind aus den Segeln genommen.
Die größte Herausforderung für neue Parteien ist aber, sich nicht selber zu zerfleischen. Das war das Problem der Piraten, dass sie einfach irgendwann innerparteilich das Ganze nicht mehr im Griff hatten. Sie haben es angesprochen: Die AfD gibt es gerade mal vier, fünf Jahre. Wenn man sich anguckt, wie viele Häutungen und Wandlungen die Partei schon durchgemacht hat, und man trotzdem nicht sieht, wo das eigentlich enden soll, wer sich, welche Flügel - die ja auch mit bestimmten Personen verbunden sind -, wer sich da durchsetzt, das sind keine positiven Vorzeichen für die Perspektive der Partei.
Denn eine zerstrittene Partei, die nach außen nicht einheitlich glaubwürdig auftreten kann, die ist auch für Protestwähler nicht mehr unbedingt interessant. Und die Umfragen, da muss man gerade bei rechtspopulistischen Parteien immer ein bisschen vorsichtig sein mit den Umfragen, aber zumindest die Richtung der Umfragen scheint mir doch sehr eindeutig. Der Höhenflug der AfD scheint schon vorbei.
Deutschlandfunk Kultur: Aber man könnte natürlich andererseits sagen, dass sie insgesamt es vermocht hat, den politischen Diskurs nach rechts zu rücken. Sie haben das angesprochen mit der Flüchtlingspolitik. Von offenen Grenzen ist nicht mehr die Rede.
Thorsten Faas: Ja, das sind typische Reaktionen von etablierten Parteien, wenn man das mal so nennen darf, dass sie als eine Reaktion auf neu aufkommende Parteien sich natürlich überlegen: Hey, warum sind die denn erfolgreich? – Dann wird man auch bestimmte inhaltliche Motive von Wählerinnen und Wählern da feststellen und darauf reagieren.
Das haben ja auch Umfragen aus dem Kontext der Flüchtlingssituation gezeigt, dass es da durchaus auch Ängste gab, die damit verbunden waren, auch Vorbehalte, was die Zahl der aufzunehmenden Flüchtlinge betrifft. Und darauf haben Parteien reagiert. Das ist dann sicherlich ein Verschieben nach rechts an der Stelle. Das ist vollkommen richtig.
Was das für den Bundestagswahlkampf oder vor allem auch den Ausgang der Bundestagswahl bedeutet, ist aktuell – glaube ich – wirklich schwer zu sagen. Die Zeichen für die AfD deuten eher nach unten. Auf der anderen Seite sind sie immer noch relativ weit weg von der wichtigen Fünf-Prozent-Hürde.
Deutschlandfunk Kultur: Sie liegen bei acht Prozent zurzeit. Ich stelle mir vor: die AfD im Bundestag, und dann werden in einem deutschen Parlament wieder Sätze fallen wie: Deutschland den Deutschen! – Das wird doch die politische Kultur oder die politische Debatte verändern.
Thorsten Faas: Na ja, bestimmte Sätze würden sicherlich die Kultur im Parlament verschlechtern. Das kann man, glaube ich, schon sagen, weil wir aus guten Gründen Verschiedenes einfach auch als Meinungsäußerung nicht tolerieren oder so gesetzlich verbieten.
Was man beobachten kann in Landtagen, in denen die AfD vertreten ist, in denen sie auch stark vertreten ist, ist so eine Solidarisierung der anderen Parteien untereinander, um sich eben als – wenn man so will – demokratische Kräfte oder Kräfte der Mitte oder nennen Sie es, wie Sie wollen, jedenfalls dass man sich zusammentut, um sich als andere Parteien klar von der AfD abzugrenzen. Das ist einerseits mehr als nachvollziehbar, dass man hier klar Position bezieht.
Auf der anderen Seite ist es natürlich dann eine ganz neue Konfliktlinie, die man plötzlich in Parlamenten wieder hat, nämlich letztlich so die Frage, wenn man es mal sehr hoch hängt: Sind wir für oder gegen dieses System? Die AfD als eine Partei, die populistisch dagegen argumentiert, und die anderen, die dafür sind. Das überdeckt dann ganz viele klassische Konfliktlinien, so etwas Sozio-Ökonomisches, die einen sind eher links, die anderen sind eher rechts.
Wenn sich das aber in Richtung einer Systemfrage verschiebt, das ist durchaus besorgniserregend. Denken Sie an Frankreich, Macron gegen Le Pen. Da geht’s nicht mehr nur drum, ob man Politik an der einen oder anderen Stelle ein bisschen in die eine oder ein bisschen in die andere Richtung verschiebt. Da geht’s dann wirklich um die Grundfesten politischer Systeme, die da plötzlich zur Debatte stehen. Und über die Spielregeln sollte man jetzt eigentlich nicht in der Tagespolitik streiten. Die sollten eigentlich klar sein.
Insofern wäre ein Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag sicher eine Zäsur, die auch für die Parlamentskultur, vielleicht auch für die Arbeit des Parlaments ganz massive Konsequenzen hätte, die aber – wie das so ist mit Prognosen, die sich auf die Zukunft beziehen - wie das im Detail dann aussehen wird, ist schwer zu sagen. Aber dass es nicht einfach ein "Weiter so" geben würde oder wird, davon kann man schon ausgehen.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Faas, als Wahlforscher sind Wahlzeiten für Sie natürlich wunderbar aufregende Zeiten und forschungsträchtige Zeiten. Sie haben vorhin von den vielen unentschlossenen Wählern gesprochen. Wissen Sie denn schon, wen Sie wählen werden?
Thorsten Faas: Nein, auch ich bin, wenn Sie so wollen, durchaus unentschlossen. Das gehört sich ja auch fast für einen Politikwissenschaftler, dass er sich durchaus den Wahlkampf bis zum Ende auch anhört und anschaut und dann am Ende eine wohl abgewogene Wahlentscheidung trifft.
Ich werde wahrscheinlich Briefwahl mache, weil der Wahlabend selber für einen Wahlforscher auch immer ein ganz spannender Abend ist, wo er manchmal auch bestimmte Verpflichtungen noch hat. Das ist ein interessanter Punkt. Wir sehen ja, dass nicht nur ich, sondern auch viele andere wahrscheinlich Briefwahl machen. Dadurch verschiebt sich sozusagen auch der ganze Wahlakt so ein wenig weg von diesem einen Wahltag hin zu so einer Wahlperiode, in der man schon Briefwahl machen kann.
Und auch das sind eigentlich sehr spannende Fragen, die sich damit stellen. Die werden wir dann wieder als Wahlforscher früher oder später versuchen zu beantworten.
Deutschlandfunk Kultur: Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Faas.
Thorsten Faas: Sehr gern.