Kraftsport in der DDR

Die Schwarzeneggers aus Karl-Marx-Stadt

23:52 Minuten
Kraftsportwettbewerb im Jugendklub "Arena" in Leipzig 1988.
Die Kraftsportler aus Chemnitz oder Leipzig waren für die meisten Leute etwas Kurioses. © imageBROKER/ Michael Nitzschke
Von Michael Frantzen |
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Auch im Sozialismus wollen Sportler ihre Muskeln definieren. Die Gewichte wurden in den Räumen der Betriebssportgruppen oder in Kellern gedrückt. Erst wurden sie belächelt - später reisten sie durch die ganze Republik, um ihre Körper zu zeigen.
Er ist ganz in seinem Element: Andreas Müller, Dozent am Medi-Campus, der Berufsfachschule für Gesundheit im sächsischen Chemnitz. Es ist kurz vor drei, die Sonne gerade hinter den roten Backsteingebäuden der Schule verschwunden. Müllers Schüler packen ihre Sachen zusammen. Für heute war es das.
Hinter dem Mann mit dem kurzen, grauen Haar liegt ein anstrengender Tag. Die Klasse war seine vierte. Viermal 90 Minuten Unterricht: Andere würden da stöhnen, doch dem durchtrainierten 57-Jährigen macht das wenig aus. Alles eine Frage der Disziplin. Und Ausdauer. Und wenn er eines ist, dann ausdauernd. Das hat er nicht zuletzt seiner großen Leidenschaft zu verdanken: "Bodybuilding. Kann ja nix anderes."

Den Lebensmittelpunkt nach Wien verlagern

In Bodybuilder-Kreisen ist Müller bekannt. Mehrmals wurde er deutscher Meister, 2013 Europameister bei den Ü-50-Jährigen. Schon seit einer kleinen Ewigkeit bildet er Fitnesstrainer aus, beim "Deutschen Fitnesslehrerverband" im hessischen Baunatal. Doch das ist bald vorbei.
Andreas Müller steht vor dem MediCampus, an dem er unterrichtet.
Die Karriere von Andreas Müller begann in Chemnitz.© Deutschlandradio/ Michael Frantzen
"Das ist eine Geschichte, die mit ziemlich viel Stress verbunden ist. Nun bin ich auch gegenwärtig dabei, meinen Lebensmittelpunkt nach Wien zu verlagern. Weil ich dort eine Lebenspartnerin habe und ich am Wochenende regelmäßig in Wien bin. Hier kann ich ohne weiteres arbeiten, das ist überhaupt kein Problem bis donnerstags. Ich bin zum Beispiel heute Nacht eben mit einem Bus aus Wien gekommen. Hab am Wochenende noch einen Wettkampf gehabt, am Sonntag. Dieses Wochenende war richtig lustig."
Vierter ist er geworden, in der Ü-50-Kategorie: Bei der "internationalen österreichischen Meisterschaft". Der Mann, der immer noch bis zu sechsmal die Woche trainiert, verzieht kaum merklich das Gesicht. Nur vierter: Eigentlich ist das unter seiner Würde. Ehrgeizig war er schon zu DDR-Zeiten, als alles anfing und Chemnitz noch Karl-Marx-Stadt hieß.

Auf Spurensuche in Chemnitz

Müller ist nach draußen gegangen. Die Spurensuche: Sie kann beginnen. Er zieht seinen Jackenkragen hoch: Es ist windig. Windig und kalt. Nicht ganz einfach, das mit der Spurensuche. Chemnitz hat sich seit der Wende ziemlich verändert.
Die Hauptpost etwa unweit des Karl-Marx-Denkmals ist heute kaum wiederzuerkennen. Zu Zeiten des "realexistierenden Sozialismus" spielte sie für den Sportbegeisterten eine wichtige Rolle. Schließlich fand er dort als Junge sein Glück. Unten im Keller. Im improvisierten Kraftraum.
"Da bin ich eigentlich nur reingekommen, wenn ich bereit war, längere Wartezeiten in Kauf zu nehmen. Denn man musste mich da mit runternehmen. Das heißt, einer der Angehörigen aus der Sektion Kraftsport musste da vorbeikommen, musste eben jemanden kennen, der ihm freundlich gesonnen ist und musste mich mit runternehmen. Und das war für mich schon wie Weihnachten und Geburtstag an einem Tag."
An den Geruch von früher kann sich Müller noch genau erinnern: Es roch nach Eisen und Schweiß. Im Untergrund von Karl-Marx-Stadt waren sie alle gleich: Schlosser, Betriebsökonomen, Lkw-Fahrer. Seite an Seite stemmten sie Gewichte, auch wenn das nicht unbedingt gern gesehen war.
"Kraftsport, Kulturistik, also sprich Bodybuilding, wie es im Westen hieß: Das war für die meisten Leute irgendwo noch was Kurioses. Absurdes. Was sie nicht einordnen konnten. Das hat man in Berlin und Leipzig und bis gewissem Maße auch hier in Karl-Marx-Stadt und in Dresden akzeptiert. Aber in der Provinz schon mal gleich gar nicht. Da hat es einfach gestört. Da hat man ganz schnell die ideologische Keule rausgeholt und gesagt: Das kommt aus dem Westen, das ist dekadent, das wollen wir hier nicht. Das hab ich selber erlebt."

770 Liegestütze als 14-Jähriger

Zielstrebig steuert Müller das alte Hallenbad von Chemnitz an. Die Halle liegt nur einen Steinwurf vom Medi-Campus entfernt. Auch sie ist aufwendig renoviert. Auch sie ist nicht wegzudenken aus seiner Sportlerbiographie. Ende der 80er, als die DDR in den letzten Zügen lag, öffnete Müllers großes Vorbild Peter Butze, der "Schwarzenegger von Chemnitz", hier das zweite Bodybuilding-Studio des untergehenden Arbeiter- und Bauernstaats.
Wandflies mir Sportlern in Chemnitz.
Wandflies in Chemnitz.© Deutschlandradio/ Michael Frantzen
Der Bodybuilder setzt sich auf eine der Bänke im Foyer des Hallenbads. Sie waren eine verschworene Truppe damals - und vielen suspekt. Auch sein Vater, Schichtarbeiter bei der Wismut, wollte anfangs wissen, was das denn solle mit diesem komischen Kraftsport. Ob es nicht reiche, wenn er weiter seine Liegestütze mache. Bereits mit 14 schaffte der Junior 770 am Stück.
"Dann gab es die Kraftsport-Wettkämpfe für Kinder und Jugendliche. Und möglicherweise hat eine Rolle gespielt, dass ich damals als 12-, 13-Jähriger angesprochen worden bin, um an so einem Wettkampf teilzunehmen. Mit 13 hat mich dann richtig der Ehrgeiz gepackt."
Müller schließt für ein paar Sekunden die Augen. Bodybuilding oder wie es im DDR-Jargon hieß: Kraftsport: Lange Zeit war das politisch unerwünscht. Er und die anderen dementsprechend politisiert.
"Weil man natürlich immer aufpassen musste, dass man sich nicht von der gängigen Parteilinie entfernt. Das heißt, die DDR hat politisch den Sport gnadenlos für sich instrumentalisiert. Die Devise hieß: Bereit zur Arbeit und zur Verteidigung der Heimat im Freizeitsport. Das galt natürlich auch für Bodybuilding-Kraftsport als Freizeitsport. Also was zum Beispiel gar nicht ging für DDR-Bodybuilder, das war die Teilnahme an Wettkämpfen im westlichen Ausland. Das war streng verboten. Insofern war es politischer."

Kein Ausreiseantrag gestellt

Gewichte zu stemmen, abseits der staatlichen Vereine, das war immer auch ein politisches Statement: "Es wurde permanent darüber diskutiert in DDR-Kraftsportkreisen: Warum ist das so? Wie gehen wir damit um? Stell ich einen Ausreiseantrag. Ich hätte ihn nie gestellt. Aber es gab Leute, die haben einen Ausreiseantrag aus Prinzip gestellt."
Müller aber blieb sich und der DDR treu. Trainierte in seiner Freizeit wie ein Besessener beim "VEB Waggonbau Dessau."
"Waggonbau Dessau. Das war praktisch Schwermaschinenbau. Die haben dort Waggons gebaut. Die hatten natürlich Eisen ohne Ende. Die hatten sämtliche Möglichkeiten, das Eisen zu bearbeiten. Die haben dort in der Arbeitszeit mit Geld, was der Betrieb gestellt hat, Krafttrainingsgeräte gebaut. Die waren vom Feinsten. Also die haben dort einen Kraftraum mit Auslegwaren gehabt: zweifarbig. Ich bin dort reingekommen, ich dachte, ich bin irgendwie im falschen Film, als ich das gesehen hab. Dort wurden dann regelmäßig Delegationen aus der Bundesrepublik reingeführt, um mal zu zeigen, wie toll der ostdeutsche Sport funktioniert."
Der Rest ist Geschichte. Vor ziemlich genau 30 Jahren stellte sich heraus: Trotz zweifarbiger Auslegware waren weder die Betriebssportgruppen noch die DDR auf Dauer überlebensfähig. Auch Müller musste sich mit dem Fall der Mauer beruflich umstellen, und auch sportlich.
Anfangs sei er regelrecht schockiert gewesen, erinnert er sich. Über das ganze Geld, das in der Bodybuilding-Szene im Westen floss; die Dopingexzesse. Schlimmer als in der DDR sei das gewesen.

Doping hält Einzug in die Szene

Müller weiß, wovon er spricht. Er hat zwei Doktorarbeiten übers Bodybuilding verfasst.
"Mich haben die Mechanismen interessiert. Die erste Doktorarbeit hat ein Thema berührt, was mich mit zunehmendem Alter immer mehr beschäftigt. Der Titel war: ‚Zur Methodik des langfristigen, leistungsorientierten Muskelaufbautrainings‘. Und die zweite Doktorarbeit. Ja, auf die hat mich eigentlich der damalige Leiter der Sportwissenschaft in Chemnitz gebracht. Der Professor Himmel. Der hat immer gefragt: Ich bin mal gespannt, wann mal jemand die Geschichte des DDR-Bodybuilding sport-historisch aufarbeitet."
2010 hat Müller an der Universität Göttingen über "Die Geschichte des Bodybuilding und Kraftsport in der DDR" promoviert. Nicht ganz einfach, das mit der Promotion. Einerseits wollte er wissenschaftlich beleuchten, was war. Andererseits aber auch nicht alte Mitstreiter wie Hans Löwe, die DDR-Bodybuilding-Legende, in schlechtes Licht rücken.
"Das waren ja meine Vorbilder. Ich hab aber andererseits mitgekriegt, die haben auch schon in der DDR mit Dopingsubstanzen hantiert. Und ich wollte die natürlich nicht in Verlegenheit bringen. Aber wo einige von denen gesagt haben: Ich hab überhaupt kein Problem damit, darüber zu reden, da habe ich für mich dann grünes Licht gesehen."
Selbst gedopt hat Müller nie. Doping, egal in welcher Sportart. Für ihn ist das "chemische Kriegsführung gegen den eigenen Körper". Manchmal nehmen ihn andere Bodybuilder bei Wettkämpfen zur Seite, um mit ihm unter vier Augen zu reden. Weil sie es mit der Angst zu tun bekommen haben. Meist dann, wenn wieder ein bekannter Bodybuilder wie der Deutsch-Österreicher Andreas Münzer stirbt. An multiplem Organversagen.
"Damals, als Andreas Münzer mit 31 Jahren aus dem Leben geschieden ist: Da waren sehr viele Leute verunsichert. Aber ich hab dann auch sehr schnell erfahren, weil ich kurz danach bei einer Mr.-Universum-Wahl in London war als Funktionär, wie andere Spitzenathleten damit umgehen. Da wurde dann von Ärztefusch gesprochen. Der Mann hätte überleben können, wenn die Ärzte richtig reagiert hätten. Und-und-und. Also die Szene – und ich nenne es bewusst so – die Szene legt sich ganz schnell eigene Interpretationen zurecht."

Aus dem Verband ausgeschieden

Bei aller Kritik an der Szene: Müller hat immer ein offenes Ohr. Einen Dopingsünder belehren würde er nie.
"Ich bin weder die Polizei noch bin ich in irgendeiner Form der moralische Dschihad oder anderes. Die Leute haben ihre Entscheidung getroffen. Und sie werden sich durch mich nicht abbringen lassen. Ich würde meinen Standpunkt dazu vertreten, wenn man mich anspricht. Aber jemanden anzusprechen, während eines Wettbewerbs, das würde mit Sicherheit nicht gutgehen, das würden die Leute sich verbeten haben, definitiv."
Das Dopingthema verfolgt Müller auf Schritt und Tritt. 1992 gründete er den ostdeutschen Ableger der National Amateur Bodybuilders Association (NABBA), nur um festzustellen, dass auch bei den Amateuren gedopt wird.
"Irgendwann hab ich dann gesagt: Das ist nicht mehr meins. Weil da auch ganz massiv mit Doping-Substanzen gehandelt worden ist und da auch richtig Verbrechen stattgefunden haben. Da wurden Händlerringe aufgebaut, man hat immer versucht, mich zu involvieren. Aber ich habe dann nein gesagt, weil ich damit schon immer ein Problem hatte. Und hab mich damals 2001 vom NABBA getrennt."

Sport auch im Krankenhaus

Müller steht auf. Er muss los. Zurück zur Schule, den Unterricht für morgen vorbereiten. Vor zwei Jahren ist ihm aus heiterem Himmel die Aorta gerissen. Ein Gendefekt: haben die Ärzte herausgefunden. Tagelang lag er auf der Intensivstation in Wien.
"Ich hab dort im Krankenhaus angefangen, Liegestütze zu betreiben. Da wurde mir erst mal stringent davon abgeraten. Weil man mir das Brustbein nicht wieder zusammengenäht hatte. Aber: Einbeinige Kniebeugen. Und dann Gummibandübungen hab ich schon im Krankenhaus gemacht. Und dann hab ich versucht, mich wieder hochzuarbeiten."
Seitdem versucht der Ex-Europameister kürzer zu treten. Und nicht gleich an die Decke zu gehen, wenn wieder Sportfunktionäre so tun, als hätten sie in ihrem Leben noch nie etwas von Doping mitbekommen.
"Die Opfer sind eigentlich die Sportler und die Täter sind die Hintermänner. Die Hintermänner sind die, die dran verdienen. Die Hintermänner sind Sportmediziner. Die Hintermänner sind Sportfunktionäre. Die Hintermänner sind Sportpolitiker. Die wissen genau, was sich hier abspielt, und sie billigen es nicht nur, sondern stimulieren es."

Mit 68 Jahren noch im eigenen Kraftraum

Müller gibt sich einen Ruck. Genug aufgeregt. Wobei: Das will er unbedingt noch loswerden. Von wegen: Es gebe keine Grauzone beim Doping.
Hans-Jörg Kloss sitzt in seinem Garten.
Hans-Jörg Kloss war DDR-Meister im Kraftsport-Dreikampf. © Deutschlandradio/ Michael Frantzen
"Wenn ein Wettkampfathlet zum Zeitpunkt des Wettkampfes keine Dopingsubstanzen in seinem Körper hat, die nachweisbar sind, dann heißt das nicht, dass er nicht vor drei Wochen abgesetzt hat. Das war in der DDR schon gang und gäbe, das wussten auch alle. Das Oral-Turenabol, was in der DDR faktisch von der Jena-Pharm produziert worden ist, eigentlich primär für die Leistungssportler. Das musste drei Wochen vorher aus dem Versorgungsplan rausgenommen werden. Dann hat es zwar immer noch gewirkt, aber es war nicht mehr nachweisbar. Das war bekannt."
"Ab den 90er-Jahren gab es eine deutliche Zäsur. Da hat man teilweise dramatisch mit Dosierungen und Medikamenten experimentiert. Auch gerade in den 90ern sind viele Athleten an den Folgen gestorben", ergänzt Luftlinie gut 80 Kilometer nordwestlich von Chemnitz Hans-Jörg Kloss, ein guter Bekannter von Andreas Müller.
"Ich war immer schon sportverrückt, mein ganzes Leben."
Auch der 68-Jährige ist Bodybuilder. Auch er ist in der Szene kein Unbekannter.
"Ja, 86 war ich DDR-Meister. Im Kraftsportdreikampf. Also Pflichtposen, Kürposen und athletischer Eindruck."

Wettkampf in Bulgarien

Jesewitz, die 3000-Seelengemeinde im Leipziger Speckgürtel. Ein sonniger Dienstagnachmittag. Wie üblich hat der Mann, der ein bisschen aussieht wie Prince Charles, heute schon sein Pensum erfüllt - oben unterm Dach seines Elternhauses.
"Ich hab auch meine Krafträume im Haus hier oben."
Den eigenen Kraftraum hat sich der ehemalige Zahnarzt schon zu DDR-Zeiten eingerichtet. Ein paar alte Geräte stehen neben seinen Medaillen noch herum. Und einem Poster aus den 80ern von einem Bodybuilding-Wettkampf in Bulgarien.
"Als letztes sagte uns der Funktionär in Leipzig: Also wenn dort Sportler aus kapitalistischen Staaten am Start sind, dann tretet ihr nicht auf. Dann nehmt ihr nicht teil. So ist man damals damit umgegangen. So unterdrückt waren wir im weitesten Sinne. Haben wir aber ignoriert. Der Grieche wurde dritter in diesem Jahr."
Müller wurde Erster. "Leichtgewichte. Wenn man dann früher 70, 80 Kilo drauf hatte, waren das lautere Geräusche."
Die Zeiten sind vorbei. Maximal 50 Kilo: Das muss in seinem Alter reichen, meint Kloss trocken, ehe er sich eine andere Hantel schnappt.
"Das ist eine sogenannte Leiterhantel, wo man verschiedene Griffvarianten hat. Dies hat mir mein damaliger tierärztlicher Sportkamerad selbst geschweißt. Man sieht es an den Schweißnähten. Die ist etwas rustikal. Aber das ging schon mit der Materialbeschaffung los. Das war nicht einfach. Und so musste er sich selber irgendwo helfen."

Fleisch von einem befreundeten Metzger

Improvisieren mussten Kloss und die anderen nicht nur beim Material, sondern auch bei der Ernährung. Denn diese muss eiweißreichen sein.
"Hühnchenfleisch: Ja. Fisch: Gut. Aber das war zu unseren Zeiten in der DDR nicht so einfach, Geeignetes zu bekommen. Gut, wir hatten hier ein paar Hühner. Ich konnte mir ab und zu mal ein Huhn schnappen und das schlachten. Aber das ging auch nicht auf Dauer. Wir haben sehr viel von Quark gelebt. Unterschiedliche Quarksorten. Dann hatten wir drei Fleischer in unserer Trainingsgruppe, die haben uns immer mal wieder mit Dingen versorgt."
Leichtathletik, Turnen, Fußball: Sportverrückt war Kloss schon immer, doch nach seinem Zahnmedizinstudium in Leipzig suchte er mit 25 nach einer Sportart, bei der er sich sein Pensum selbst einteilen konnte – und nicht abhängig war von Vereinen. Ein Bekannter von der Uni nahm ihn mit in einen der improvisierten Krafträume einer Betriebssportgruppe, wie es sie nicht nur in Karl-Marx-Stadt gab.
"Stahlwerk Brandenburg, Tiefbau-Kombinat Neubrandenburg, Berliner Brauereien: Die haben eine Sektion Kraftsport, so nannte sich das, die hat ein bisschen Geld zur Verfügung gestellt. Aber im Großen und Ganzen hatten wir bei uns an der Uni drei große Kellerräume, wo ein paar Gerätschaften standen. Aber die Bedingungen damals - man musste schon irgendwo Enthusiast sein. Man hat ein Ziel verfolgt. Die Bedingungen waren sehr schlecht."

Ein Autogramm von Schwarzenegger

Kloss fand trotzdem Gefallen am Hanteltraining, zu seinen besten Zeiten stemmte er 200 Kilo. Schmierte sich vor Wettbewerben mit dem Bräunungsmittel Sobraun ein, damit seine Muskeln definierter aussahen, auch wenn seine Frau das eher suboptimal fand.
An einer Zimmerwand hängen Auszeichungen und Zeichnungen wie Poster von Arnold Schwarzenegger.
Arnold Schwarzenegger war das große Vorbild für die eigene Körperoptimierung.© Deutschlandradio/ Michael Frantzen
"Ja, ja. Natürlich. Haben wir alle gehabt. Das roch etwas streng, die Bettwäsche war auch mitgebräunt. Und die Frau hat sich die Nase zugehalten. Wir haben dann immer am Ofen, am Abend vorher, das in die Haut eingeklopft. Dann gingen die Poren auf und dann ging das besonders schön rein."
"Das ist da übrigens ein Original-Autogramm. Da oben!"
Das Autogramm stammt von Arnold Schwarzenegger.
"Schwarzenegger in seiner Besonderheit, in seiner ganzen Art - das waren immer unsere Vorbilder. Da wollten wir mal hin."
Auf Arnie lässt Kloss bis heute nichts kommen, Dopingvorwürfe hin oder her. Er dreht sich zur Seite. Das Foto da, das ist seine Ehefrau zusammen mit Schwarzenegger. Nach der Wende, auf einer Bodybuilding-Messe in den USA. Seine Frau hatte da aus dem alten Pferdestall den ersten Laden für Fitnesszubehör in Sachsen gemacht. Deshalb war sie häufiger drüben, während er als Zahnarzt in seiner eigenen Praxis gutes Geld verdiente. Bis er mit 55 Jahren fand, es reiche.
"Ich hab mit 55 – ein bisschen außergewöhnlich - meine Praxis verkauft und hab mich meinem Grundstück und meinem Sport zugewandt. Ich hab halt nicht das Geldverdienen als das Primäre in meinem Leben gesehen. Ich hab radikal aufgehört: Mit 40 selbstständig gemacht, nach 15 Jahren steht dann halt die Entscheidung, investiere ich noch mal? Zieh ich mit der Praxis noch mal um? Und wenn ich das mit 55 gemacht hätte, dann würde ich erst mal wieder zehn Jahre Kredite abzahlen. Da musste ich mich entscheiden. Ich hab es nicht bereut."

Modell für ein Fachbuch gestanden

Genauso wenig wie, dass sein großes Vorbild kein Bodybuilder aus der DDR oder den sozialistischen Bruderländern war, sondern Arnold Schwarzenegger.
"Wenn man diese Bilder sieht: Michelangelo, als er seinen Adam da in der Sixtinischen Kapelle an die Decke gezaubert hat, würde der sich den doch sicherlich als Vorbild nehmen können."
Den Terminator. Wenn man so will, war auch Kloss einmal ästhetisches Vorbild. Ende der 80er-Jahre wollten zwei Sportwissenschaftler wissen, ob er sich vorstellen könne, Modell zu stehen für das erste Fachbuch über Bodybuilding in der DDR.
"Wir haben viele, viele Wochenenden Bilder gemacht. Das war 87 fertig. Sollte in Druck gehen. Das war das erste DINA4 und mit Farbfotos. Und dann wurde der Druck abgebrochen, weil es nur Papierkontingente gab. Und in diesem Jahr war 750 Jahre Berlin: Da wurde das Papier umgeleitet."
Ein Jahr später kam der Band doch noch heraus – und wurde nicht nur in der DDR, sondern auch in den sozialistischen Bruderländern ein Verkaufsschlager.
"Das war ein riesiger Boom zu dieser damaligen Zeit. Es wurde auch viel gefeiert in der DDR. Und es gab viele Kulturhäuser. Wir haben dann eine Kraftsportgruppe - "Body Crew" - aufgemacht. Da hatten wir eine rhythmische Sportgymnastin, die Heidi Krause, die war DDR-Meisterin. Unglaublich beweglich. Ästhetisch von der Bewegung her. Und wir waren in unterschiedlichen Variationen. Hier bin ich mit meinem Sektionsleiter Peter Biniok zusammen. Wir haben dann fünf Minuten einen Posing-Auftritt gemacht. Haben dann dafür, na ja, 50 bis 100 Mark gekriegt. Ich hab in allerbesten Zeiten mehr verdient als in meinem Beruf."

Zeitschriften aus dem Westen besorgt

Die Werner-Seelenbinder-Halle in Ost-Berlin, Kongresshalle Rostock, diverse Rockfestivals: Fast jedes Wochenende war die Body-Crew zwischen Ostsee und Erzgebirge unterwegs. Ließ sich bestaunen. Es fanden immer mehr Leute Gefallen am Bodybuilding.
Einer von ihnen war der oberste Wirtschaftslenker der DDR, Günter Mittag. Kloss lacht. Natürlich kennt auch er die Geschichten vom schwergewichtigen Genossen; wie er sich Bodybuilder nach Hause zum Posieren vorm Kamin lud und Polaroid-Fotos machte.
Kloss kramt eine vergilbte Zeitschrift hervor. Es ist eine alte Ausgabe der "Sport-Revue." Westware. Und dementsprechend heiß begehrt damals.
"Da hat man dann irgendwo versucht, wenn eine Oma rübergefahren ist. Soll ich dir was mitbringen, Junge? Ja, so eine Zeitschrift. Und auch mal Patienten und Bekannte. Da hat man sich dann das mal hergenommen, das wieder gelesen. Und wieder Trainingspläne kopiert."

Ein Land der Couch-Potatoes

Der Ex-DDR-Meister fängt an zu blättern. Seite für Seite: Lauter Muskelberge.
"Fragen Sie nicht nach Ästhetik. Ich sehe es mehr aus medizinischer Sicht. Was in diesem menschlichen Körper für Reserven drinstecken, wie die da rausgeholt werden: Also es ist sicherlich für viele extrem unästhetisch. Aber wie der Fußball der 70er-Jahre, als Beckenbauer, Netzer, Müller noch spielten, ein ganz anderer Fußball ist als Fußball von heute, hat sich das auch weiterentwickelt."
Kloss legt die Zeitschrift zur Seite. Ab und zu trifft er sich noch mit Müller und den anderen. Dann reden sie von früher. Und warum das wiedervereinigte Deutschland zum Land der Couch-Potatoes geworden ist.
"Wenn ich die Volkskrankheiten sehe bei uns - 280.000 Schlaganfälle im Jahr - und so weiter und so fort. Und Herzinfarkte kommen dazu. So ist das Bewegungssystem durch unsere Lebensweise eigentlich auch ganz negativ beeinflusst. Die Generation vor uns, die hundert Generationen vor uns, die sind am Tag 15 Kilometer gelaufen und wir laufen noch achthundert Meter. Jetzt. Heute. Und dadurch gibt’s natürlich dramatische Veränderungen im Gelenkbereich, im muskulären Bereich."
Zu DDR-Zeiten war das noch anders. Kloss lacht. Was sind sie damals gelaufen; er und die anderen Bodybuilder. In Karl-Marx-Stadt und anderswo auf dem Weg zum nächstbesten improvisierten Kraftraum beim Körperkult im Klassenkampf.
Die Sendung ist eine Wiederholung vom 8. Dezember 2019.
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